lockdown Vater

Die meisten sind schon durch mit Ihren Jahresrückblicken, ihren Learnings, ihrer Selbstreflexion und die meisten der guten Vorsätze werden – so glaube ich – auch bis spätestens zum 17.01. über den Haufen geworfen, also müsste mittlerweile eigentlich schon wieder alles beim Alten sein. Doch ich brauchte noch ein wenig Zeit, um das letzte Jahr zu verarbeiten.

Irgendwie habe ich das Gefühl, ich habe es verbockt. Aber das Gefühl habe ich öfters. Es ist nicht so, dass ich wirklich etwas verbocke. Eher, dass ich nur das sehe, was nicht astrein lief und nicht das, was ich trotzdem geschafft habe. Diese Sichtweise war für mich im Jahr 2020 jedoch toxisch – aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich das Gefühl, dass sie nicht so außergewöhnlich ist, wie ich vielleicht anfangs dachte. Wer macht schon gerne Fehler? Wer bekommt gerne etwas nicht mehr hin, was er schon konnte? Niemand – so glaube ich. Trotzdem habe ich viel zu lang versucht es auszubügeln. Aber was denn überhaupt?

Ratet mal, wer hat gewonnen?

Das weiß ich nicht mal so richtig. Ich habe einfach das Gefühl, es hätte höher, besser, schneller weitergehen müssen. Und dann kam da unser Brutto-Inlands-Produkt. Ich dachte: DAS IST ES! Das bin ich. Ich bin das Brutto-Inlands-Produkt in Person. Oder zumindest ein absolut durchschnittlicher Beitrag dazu. Ich bin das ganze Jahr eine Durchhaltetaktik gefahren. Immer in der Hoffnung, der Home-Office-Marathon endet, bevor ich ende. Okay, etwas sehr dramatisch, aber zutreffend. Und? Ratet mal, wer hat gewonnen? Richtig! Ich nicht. 

Zehn Werktage vorm Ende, bevor mein Weihnachtsurlaub beginnen sollte, mein Zusammenbruch. Statt selbstbewusster Gehaltsverhandlung, Kapitulation mit Bibberkinn. Ich war fix und fertig. 95% geschafft und trotzdem verkackt. Doch mit der gleichen Haltung, die ich zu mir zu dem Zeitpunkt hatte, wurde vergangene Woche in der Tagesschau unser erschreckendes BIP präsentiert. Es war um 5% und ein paar Zerquetschte gesunken. So schlimm wie seit dem Crash 2008 nicht mehr. Wie ich diese Zeilen hier schreibe, muss ich lachen. 2008. Noch ein Zufall? Das Jahr, in dem ich in der 10. Klasse kleben geblieben bin. So weit sollte dieser Vergleich gar nicht gehen, also weiter im Programm. (Trotzdem witzig.)

Dieses ständige sich-selbst-übertreffen-Müssen

Um 5% gesunken. Also: 95% geschafft! Uuuuund nur am Rande: 4 bis 6% waren prognostiziert, im Worst Case sogar 10 bis 12%. Was heißt das nun? Ich bin absolut kein Profi und will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber in Anbetracht unserer aktuellen Situation haben wir das verdammt nochmal richtig gut hingekriegt. Ich weiß, dass es viele gibt, deren Glas tatsächlich nur halb voll war, und viele, deren Glas gnadenlos überlief … Trotzdem sollte sich dieser Wert mehr wie ein Schulterklopfen als wie eine Backpfeife anfühlen. Alles andere kann doch nicht gesund sein. Dieses ständige sich-selbst-übertreffen-Müssen.

Deswegen haben wir für uns beschlossen: Wir wollen etwas ändern. Weniger arbeiten, mehr leben. Besser arbeiten, länger leben. Mehr Spaß bei der Arbeit, mehr Spaß nach der Arbeit. Weniger TO-DOs, mehr WANNA-Dos, die auch mal gemacht werden. So wie wir es für uns wollen. 

Für mich heißt das: Verbindlichkeiten abbauen, Nina beruflich mal den Vorrang lassen, öfter die Kinderbetreuung übernehmen dürfen, vielleicht sogar die Eingewöhnung in der Kita in einem halben Jahr wuppen. Gleichzeitig gemeinsam beruflich etwas aufbauen. So, wie wir es für richtig und nachhaltig halten. Ohne im Hinterkopf die Verpflichtungen an Chef, Kollegen oder Kunden auch in jeder freien Minute spüren zu müssen. Slow Work würde ich es nennen. Nicht, dass ich alles in Zeitlupe mache, sondern bedacht, sich nicht der Schnelllebigkeit beugend etwas Sinnvolles tun.

Mittlerweile konnte ich die Fehler, die ich gemacht habe, ganz gut nachvollziehen. Angefangen bei der Home-Office-Infrastruktur wäre ein ergonomischer Bürostuhl echt Gold wert gewesen. Ich hätte früher Verantwortung abgeben und Aufgaben delegieren müssen, statt während Zoom-Meetings neben meiner To-Do-Liste eine „heimliche“ Liste zu führen, mit Dingen und Aufgaben, die ich nochmal überarbeiten musste, von denen jeder dachte, dass sie schon fertig sind, die ich dann zwischendurch oder spät abends in einer zweiten Schicht im Homeoffice noch schaffte. Ich hätte Stunden reduzieren sollen, als es abzusehen war, dass das Ende nicht abzusehen ist. Am Ende sah ich nur noch, was ich nicht geschafft hatte. Im Tunnelblick der Homeoffice-Isolation.

Auch wenn vieles davon unberechtigt oder unnötig war und ich aus den Fehlern lernen konnte, steht für mich fest: Ich höre erst mal auf. Höre auf mit der Vollzeitstelle. Ich habe dies für mich entschieden, für uns und viel mit Freunden und Familie darüber geredet. Die Meinungen waren ganz unterschiedlich. Doch ein Kommentar geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wahrscheinlich, weil er so unerwartet kam.

Bewusst keine Musik

Am Samstag hatte ich mir vorgenommen, vier Stunden durchs Naturschutzgebiet zu stapfen. Alleine, nur mit meiner Kamera, einer Teekanne und einem Falafel-Wrap vom Vorabend bewaffnet, zog ich los. Genoss die Ruhe. Bewusst keine Musik und kein Hörbuch auf den Ohren, sondern nur meine Schritte auf dem Waldboden und ein paar Vögel in den Bäumen. Kreuz und quer lief ich Wege, die ich noch nie genommen hatte, machte Fotos und war guter Dinge. Nach 2,5 Stunden blieb ich kurz stehen und holte meine Teekanne raus. Beim ersten Schluck ein Tock Tock direkt über mir. Doch ich konnte nichts erkennen. Hier soll es mit die größten Spechte geben. Also ging ich langsam um den Baum herum. Sah nichts, hörte es wieder. Ich stellte meine Teekanne ab und nahm meine Kamera vors Gesicht und versuchte, mit dem Zoom etwas zu erkennen. Ich sah nichts, hörte es wieder. Gab jedoch auf. Und wie ich da so stand wie der letzte Volldepp beziehungsweise wie ein ehrgeiziger Hobby-Ornithologe, hörte ich nur von hinten. „Hörby? Bist du das?“ – „Nein.“ Die Antwort habe ich tatsächlich kurz in Erwägung gezogen. Alle grinsen. Zwei Mädels aus der Heimat, die kurz vorm Lachkrampf waren und sich fragten, was ich da so trieb. Ich wusste es auch nicht so genau und entschied mich dazu, ihnen zu erklären, dass ich gehört hatte, dass es hier die größte Spechtart gebe. Dann packte ich meine Kamera wieder in den Rucksack und wir liefen ein Stück des Weges zusammen. Mit Abstand natürlich. 

Wir brachten uns auf den neuesten Stand. Wer noch mit wem Kontakt hat. Wer wo arbeitet. Dass ich mittlerweile verheiratet bin und zwei Kinder habe. Das Übliche. Dann natürlich Thema Number One: Corona und alles, was dazu gehört. Ich erzählte, dass mich das Jahr ganz schön geschafft habe und ich erst mal wieder zwei Schritte zurück machen müsste, bevor es weitergeht. Mich beruflich verändern und neu sortieren wollte, etwas die Kinder hüten. Doch dann kam die Erleuchtung, denn die eine der beiden sagte daraufhin zu mir: 

„Was heißt denn da zwei Schritte zurück?“ Ich guckte sie mit Stirnrunzeln an. „Einfach mal stehen bleiben ist doch auch okay.“

So simpel. So wahr. So richtig.