Das Kind in mir wächst und wächst. Und mit ihm die Gedanken: Wo wollen wir als Familie leben? Was tut meinem Kind gut? Was  tut mir gut? Was wünscht sich mein Partner? Dabei ist die Wahl des Wohnortes nicht nur eine Frage der Organisation, sondern des Geldes. Steigende Immobilienpreise und knapper Wohnraum zwingen viele Familien dazu, in den Speckgürtel oder noch weiter weg umzuziehen. Warum kein Modell, weder Stadt noch Land, ideal ist. Und warum doch beides perfekt sein kann.

 Ich sitze auf meinem Balkon unserer kleinen – und zum Glück bezahlbaren – Wohnung in Hamburg Ottensen. 60 Quadratmeter pure Liebe. In mir turnt ein winziger Mensch, gerade einmal 20 Wochen alt. Es ist meine erste Schwangerschaft. Ich habe keinen blassen Schimmer, was auf mich zukommen wird. Ich habe noch nie ein Kind gewickelt. Ich habe keine Ahnung, wie man sich einen KITA-Platz schnappt oder wie oft ich den Winzling eigentlich baden soll. Und doch ist eine meiner Hauptsorgen: Muss ich jetzt aus meinen geliebten vier Wänden ausziehen? Muss ich unseren grünen Innenhof verlassen? Das lebendige Viertel? Mache ich es mir als Großstadt-Mama schwerer als auf dem Land?

Viele Familien in Deutschland können sich ein Leben in der Stadt nicht mehr leisten. Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) wandern inzwischen mehr Städter ins Umland ab, als von dort in die Metropolen ziehen. Großstädte boomen immer noch, keine Frage. Aber das liegt nicht an den Menschen, die aus dem Umland in die Großstadt ziehen wollen. Seit 2014 ist der Trend eher umgekehrt. Gleichzeitig sind laut der Deutschlandstudie 2019 inklusive repräsentativer Umfrage im Auftrag des ZDF  78% der Deutschen der Meinung, dass Kinder auf dem Land besser aufwachsen als in der Stadt.

Ich hätte niemals gedacht, dass ich mir darüber überhaupt Gedanken machen muss. Für mich stand als waschechte Hamburgerin immer à la Peter Fox fest: „Hier bin ich geboren, und hier werd ich begraben“. Dann erscheint auf dem Schwangerschaftstest plötzlich der zweite Streifen. Und mit ihm Fragen aus dem Umfeld, die ich nicht beantworten kann. Bleibt Ihr in der Wohnung im vierten Stock?  Zieht Ihr ins Umland? Träumt Ihr nicht von einem eigenen Haus im Speckgürtel?

Bei diesen Fragen schnürt es mir die Kehle zu. Wenn ich auf dem Fahrradsattel durch kleine Dörfer radel, bin ich zwar immer ganz verzückt. Süß hier! Im Sommer. Im Urlaub. Mal für ein Wochenende.

Abseits davon verbinde ich mit dem Landleben: Auf ein Auto angewiesen sein. Unterirdisches Internet. Schlechte Ärzteversorgung. Alte Nachbarn. Keine Jobmöglichkeiten. Sicher ist vieles auch Schubladendenken.

Ich habe Angst, auf dem Land spleenig zu werden. Unflexibel. Kauzig. Ein wenig den Horizont zu verlieren , auch wenn er dort viel besser sichtbar ist als zwischen engen Altbauten. Für die Kinder wünscht man sich natürlich: Bullerbü. Hofläden. Grenzenlose Flächen.

Ich bin selbst in der Stadt aufgewachsen. Das kann in manchen Gesprächen mit Bekannten zum richtigen Tauziehen werden: Kindheit in der Stadt vs. Kindheit auf dem Land. Ich fühle mich unterbewusst oft schon angegriffen, obwohl nicht mal das erste Wort gefallen ist. Es ist absurd. Ich habe das Gefühl, mein Gegenüber sieht mich als Kind in überfüllten U-Bahnen, zwischen grauen Häuserfronten, mitten im Verkehr. Dabei war ich jeden Tag an der Elbe im Sand buddeln. Ich lebte im Arbeiterviertel Altona mit einen grünen Innenhof, in dem sich alle Kinder getroffen haben. War ein paar Jahre sogar in einer Art Waldkindergarten. Ich fühle mich extrem naturverbunden, auch als Stadtmensch.

Mein Partner ist ein richtiges Landei. Auch seine Kindheit beschreibt er als wunderschön. Da liegt der Knackpunkt: Fast jeder Mensch denkt, seine Kindheit wäre die allerschönste gewesen. Und das wünscht man als Elternteil auch seinem Nachwuchs. Aber selbst mein Großvater, der in den Trümmern des zweiten Weltkrieges mit Hunger aufgewachsen ist, schwärmte von seiner Zeit als Kind. Vielleicht sind die äußeren Gegebenheiten unwichtiger als wir denken.

Fakt ist: Viele Menschen, ob mit Kinderwunsch, schwanger oder schon mit Kids an der Hand, kehren Städten den Rücken. Und ich stehe da mit offenen Armen und würde mich am liebsten an meine Haustür ketten, wenn mich noch eine Person fragt, ob ich das Kind denn in der Stadt großziehen will.

Ja, ich möchte. Ja, auch ich bin zunehmend genervter von Menschenmassen. Ich bekomme die Krise am Hauptbahnhof. Es nervt mich, dass ich mit meinem Freund diskutieren muss, ob wohl noch eine Tomatenpflanze mehr auf den Balkon passt. Ich werde unruhiger, wenn ich beim Spaziergang im Park schon die nächsten Fußschritte hinter mir höre.

Gleichzeitig liebe ich es, alles in den nächsten vier Straßen zu haben: Eine Bücherhalle, Cafés, jeden erdenklichen Arzt, Sportvereine, Parks, die Eisdiele. Mal schnell beim Kochen noch in den Supermarkt für Knoblauch zu huschen. An den Elbstrand zu radeln ohne einen Parkplatz suchen zu müssen. Eltern, Freunde und einen Job in ein und derselben Stadt zu haben.

Wenn die Kinder noch klein sind – so meine Vorstellung – ist es sicher schön, auf dem Land zu wohnen. Ich verstehe, warum Mitmenschen mich nach einem Umzug fragen. Der Platz. Die behütete Umgebung. Aber was ist, wenn die ersten Hobbys kommen? Ich will  nicht den Chauffeur spielen. Lieber sollen die Kids aufs Fahrrad steigen und unabhängig sein. Was ist, wenn sie als Teenager feiern wollen? Und einer muss immer nüchtern bleiben, um alle nach Hause zu fahren. Alles hypothetisch. Alles weit weg.  Aber die Kinder springen ja nun mal nicht ein Leben lang im Garten Trampolin. Lebensphasen und Bedürfnisse ändern sich.

Es gibt kein „Richtig“ und „Falsch“. Wie immer gilt: Es gibt nicht nur einen Erziehungsweg, sondern viele. Je nach Kultur, Klima, Umfeld und Gesellschaft wachsen unsere Kleinen auf der ganzen Welt so unterschiedlich schön auf, wie es nur sein kann. Ob Baumhaus oder Hausboot – Hauptsache es wird geliebt und gelacht.  Dann können Kinder überall eine tolle Kindheit haben. Ob Stadt. Land. Oder Fluss.