medienkonsum corona

„Du bekommst noch viereckige Augen!“ Nicht zu fassen, dass ich diesen Satz gerade wirklich gesagt habe.

Diese uralte Formulierung, die ich schon von meiner Mutter hören musste, wenn ich zu lange vor dem Fernseher saß – gerade habe ich sie ernsthaft meinem Kind an den Kopf geworfen. Es hängt seit anderthalb Stunden vor dem Tablet, das ja genaugenommen gar keine richtigen Ecken hat, sondern eher softe Kurven, und überhaupt: Ich wollte doch nicht mehr so viel meckern.

Das Problem ist: Es ist Corona, ich muss arbeiten, die Kinder sind zu Hause und langweilen sich, und ich habe wirklich, wirklich keine Kraft mehr, über jede Minute Netflix zu diskutieren. Gleichzeitig kann ich es nicht ertragen, wie sie die ganze Zeit vor dem Bildschirm sitzen und eine kreischige Serie nach der nächsten anschmeißen. In mir springt die Rabenmutter-Alarmanlage an: Wie kann ich sie nur so viel gucken lassen? Das ist doch schädlich!

„Verblödung durch Computerspiele“

Viereckige Augen, verdummte Kinder, geschrumpfte Hirne – es gibt wohl kaum einen Bereich, in dem so leidenschaftlich dramatische Formulierungen verpulvert werden, wie wenn es um Kinder und Medien geht. Und wie viel Angst herrscht und immer wieder geschürt wird. Es scheint, als sei es die liebste Aufgabe von Online-Magazinen, möglichst dramatische Slogans zu den Folgen von kindlicher Mediennutzung herauszusuchen: „Verblödung durch Computerspiele“, „digitale Demenz“, „Fernsehen macht faul“ – das sind nur einige der Überschriften zum Thema. 

Es liegt also nahe, dass Eltern angesichts solcher Horrormeldungen ihren Kindern strenge Regeln auferlegen, wie sie Fernseher, Tablet oder Konsole nutzen sollen. Ich kenne kaum eine Familie, in der es nicht klar vorgegebene Zeiten gibt. 

Dabei ist das eigentlich widersprüchlich in einer Elternschaft, in der sich eine liberale Erziehung mehr und mehr durchsetzt. Wir wollen unsere Kinder frei aufwachsen lassen, mit möglichst viel Raum für Autonomie und Selbstwirksamkeit. Gleichzeitig aber geben wir ihnen vor, wie lang sie ihre geliebten Serien ansehen dürfen. Als sie kleiner waren, habe ich den Mädchen regelmäßig das Tablet aus der Hand gerissen, weil sie es nicht von alleine ausschalten wollten. Ehrlich gesagt keine Sternstunden meiner Erziehung.

Recherchiert man sich, verzweifelt wie ich, durch das Internet, stößt man vor allem in der bedürfnisorientierten Ecke auf einen ganz anderen Ansatz: Man solle Medienkonsum gar nicht mehr regulieren, also Kinder tatsächlich gucken und klicken lassen, wann und wie lange sie wollen. Medien seien nichts anderes als Spielzeug, Kommunikationsmittel oder Informationskanäle – und erst das Verbot mache sie so attraktiv. Die Logik leuchtet mir ein, denn ich habe schon oft gemerkt, dass Druck vor allem zu Gegendruck führt. Als ich zum Beispiel begann, Süßigkeiten frei verfügbar zu machen, hörten die Kinder nach kurzer Zeit auf, Massen davon zu essen und begannen, sich selbst zu regulieren. So müsste das mit den Medien doch auch laufen können.

Nachfrage im Medienkulturzentrum in Dresden, das Publikationen für Eltern und Fachkräfte herstellt, Seminare anbietet und zu Medienpädagogik berät und übrigens auch tolle Webinare für Eltern anbietet. Hier kennt man sich aus mit der aktuellen Forschung. Und zunächst mal sieht man hier die Sache mit den negativen Auswirkungen des Medienkonsums etwas differenzierter. 

Sie sind dabei ganz wesentliche Werkzeuge

Begriffe wie „digitale Demenz“ führten nicht sehr weit, sagt die Medienpädagogin Kristina Richter. „Genauso wie es in der analogen Welt Aktivitäten gibt, die uns geistig und körperlich nicht sehr herausfordern und eher verkümmern lassen, gibt es solche Aktivitäten in der digitalen Welt.“ Digitale Anwendungen erlauben es aber auch, dass Kinder sich entfalten, kreativ ausdrücken, sich eine Stimme und Gehör verschaffen. „Sie sind dabei ganz wesentliche Werkzeuge, ein aktives Mitglied unserer Gesellschaft zu sein und zu werden.“

Sind Tablet und Co. also doch nichts anderes als Bücher, Briefe oder Bauklötze?

Nicht ganz, sagt Richter. Digitale Angebote seien zum Teil „bewusst so gemacht, dass sie viel unserer Aufmerksamkeit ziehen, uns viel anbieten und wir dabei die Zeit aus den Augen verlieren.“ Kurz gesagt: Anders als ein Buch sind viele Apps darauf ausgerichtet, die Konsumenten mehr und mehr an sich zu binden. Alle, die Instagram, Facebook oder auch digitale Spiele nutzen, werden diesen Effekt kennen. Bei Kindern, so Kristina Richter, habe das die Folge, dass Kinder weniger andere Erlebnisse machen. Sie gehen dann weniger nach draußen, bewegen sich weniger, entspannen weniger. Andere Sinne als der auditive und visuelle werden im schlimmsten Fall zu wenig aktiviert.

Das gehört zum Prozess dazu

Und so sahen auch all meine Versuche aus, als ich die Regulation der Mediennutzung meiner Kinder wegließ: selbstbestimmt hieß bei uns in erster Linie ohne Ende. Sie hörten einfach nicht auf zu gucken, und als wir dann am späten Abend irgendwann selbst ins Bett gehen wollten, hatten wir zwei völlig überdrehte, gleichzeitig todmüde Kinder vor uns.

Die Befürworter von selbstbestimmtem Medienkonsum meinen: Das gehört zum Prozess dazu. Wenn etwas erst verboten war, wird es anfangs bis zum Umfallen ausgereizt. Irgendwann reguliere sich das von selbst. Sie berichten, dass ihre Kinder von allein die Geräte weglegen, um etwas Analoges spielen zu können, mit den Eltern zusammen zu sein oder ins Bett zu gehen. 

An diesen Punkt kamen wir jedoch nie. Als ich feststellte, dass meine Kinder lieber netflixten, als mit ihren Freundinnen rauszugehen, war mir klar: Das halte ich nicht aus. Ich beendete unseren Versuch und führte wieder feste Medienzeiten ein. Allerdings nahm ich mir vor, meine Kinder mehr darin zu begleiten, was sie guckten und spielten. Um ehrlich zu sein, habe ich es mir in den letzten Jahren doch oft genug ziemlich bequem gemacht und die Kinder einfach ihre Stunde irgendetwas gucken lassen – ohne daran teilzunehmen.

Unser Medienglück habe ich tatsächlich in einem Mittelweg gefunden, den auch Medienpädagog*innen wie Kristina Richter empfehlen: Es gibt feste (und durchaus ausgedehnte) Medienzeiten, die wir vorher gemeinsam besprechen. Ein ganz witziges Tool ist ein Mediennutzungsvertrag – an den sich auch die Eltern halten müssen! So erfüllen die Kinder ihr Bedürfnis nach Mitbestimmung, haben aber klare Regularien. Was ich aber noch wichtiger finde ist, dass wir Eltern viel mehr als früher an den Medienzeiten teilnehmen. Ich habe dabei Erstaunliches beobachtet: Meine Kinder hopsen beim Gucken durchs Zimmer, balancieren in der Hocke auf den Zehen, kugeln über den Boden. Fernsehen macht zumindest hier alles andere als faul.

Ich empfehle die kindersichere Suchmaschine Fragfinn

Weil ich mich jetzt wirklich mal auf die Inhalte einlasse, die sie so gucken, stelle ich fest, wie irrsinnig witzig und gut gemacht einige Serien sind. Wie viel meine Kinder darüber lernen. Und wie sehr sie angeregt werden, aus den Figuren oder Geschichten eigene Spiele zu entwickeln. Da werden ganze Spielwelten auf Basis einer Comicfigur gemalt, Kostüme gebastelt und Geschichten weitererzählt. Seit meine Achtjährige auch Internet-Suchmaschinen bedienen kann – ich empfehle die kindersichere Suchmaschine Fragfinn, suchen sie Kostüme, Seriensongs oder finden heraus, wie viele Staffeln es noch gibt. Von Verdummung kann keine Rede sein.

Ich kann die Kinder nun etwas lässiger auch mal länger gucken lassen, weil ich die Angst vor den Inhalten verloren habe. Und dass ich an manchen Stellen trotzdem noch unsicher bin und dann eben auch stärker einschränke – auch das ist okay. Digitale Medien sind, so sehe ich das heute, ganz sicher nicht das gleiche wie Bauklötze und Bücher. Aber eben auch kein Teufelszeug.