Finnland glück

„onnellisuus“ ist das finnische Wort für „Glück“. Interessant, und jetzt? Das kühle Finnland und das Thema Glück passen besser zusammen, als es im ersten Augenblick scheint. „The World Happiness Report“ hat herausgefunden, dass Nordeuropa weltweit die mit am glücklichsten Einwohner hat. Finnland ist dabei sogar die Nummer Eins. Dennoch steht dem vermeintlich großen Glück eine der höchsten Selbstmordraten Europas und ein ordentliches Alkoholproblem, unter dem auch die finnischen Frauen leiden, gegenüber.

Mit welchen Herausforderungen haben die Finnen zu kämpfen, welche Gefahren lauern für Körper und Seele? Neben diesen düsteren Themen sticht Finnland aber auch in Sachen Gleichstellung und Familienpolitik deutlich hervor. Lara ist Deutsche, Mutter zweier Kinder und vor nunmehr 15 Jahren nach Finnland ausgewandert. Sie erzählt von den Chancen und Schwierigkeiten als Frau und Deutsche in dem Land, das nur knapp mit der Einwohnerzahl Berlins und Hamburgs zusammen mithalten kann. 

Wie lebt es sich in dem Heimatland der Mumins? Dem Land, in dem es im Sommer nur so vor Mücken wimmelt und in dem viele Finnen die lange Dunkelheit im Winter nur tief ins Glas schauend überstehen? „Also ich bin hier sehr glücklich, vor allem mit dem Familienleben in Finnland“, meint Lara.

Finnen sind am glücklichsten

Dass die nördlichen Gebiete glücklicher sind, gilt nicht nur weltweit, sondern auch in Deutschland. Schleswig-Holstein und Hamburg sind laut Glücksatlas der Deutschen Post die Bundesländer mit den glücklichsten Einwohnern. Im weltweiten Vergleich hat es das Tor zur Welt, Hamburg, jedoch nicht in das Ranking der glücklichsten Städte geschafft. An dessen Spitze steht Helsinki, die Hauptstadt Finnlands. 

Auch im internationalen Ländervergleich führen die Nordlichter die Liste an. Der World Happiness Report 2020 untersuchte die Lebenszufriedenheit von mehr als 150 Ländern. Fünf nordeuropäische Länder sind 2020 dabei unter den Top Sieben gelandet und an dessen Spitze steht auch hier Finnland. „Der finnische Staat ist sehr bemüht, dass zum Beispiel Bildung und Gesundheit für alle gleich erreichbar sind. Es wird sich um die Menschen gekümmert“, erklärt sich Lara die hohe Platzierung Finnlands.

Dass sie in Deutschland unglücklicher wäre, verneint die Auswanderin, betont jedoch das auch sie zu den sehr glücklichen Einwohnern Finnlands zählt. Trotzdem ist das Land der 1000 Seen auch für seine hohe Selbstmordrate bekannt. Größtes Glück gepaart mit großer persönlicher Aussichtslosigkeit? „Die Selbstmordrate scheint mir außerhalb Finnlands immer ein größeres Thema als hier zu sein, aber sie begründet sich wohl auf die Dunkelheit“, so die Deutsche.

Mentale Herausforderungen

Tatsächlich birgt Finnland aufgrund seiner geografischen Lage neben traumhafter Natur auch einige mentale Herausforderungen. Die wohl Sichtbarsten sind dabei die andauernde Helligkeit sowie Dunkelheit. Von Ende Mai bis Anfang August wird es im gesamten Land nie richtig dunkel. Im nördlichsten Gebiet Lappland verschwindet die Sonne 71 Tage lang nicht hinter dem Horizont. Das nennt sich dann „Yötön yö“ – „nachtlose Nacht“. Dieses Phänomen der weißen Nächte kommt übrigens an allen Orten vor, die in etwa zwischen 60 Grad nördlicher oder südlicher Breite und dem jeweiligen Pol liegen. Lara geht pragmatisch an die Gegebenheiten und rät: „Gegen die Helligkeit gibt es Verdunklungsvorhänge und gegen die Dunkelheit hilft Vitamin D und rausgehen, so viel wie möglich.“

Denn als wäre die lange Helligkeit nicht schon fordernd genug, gibt es ein halbes Jahr später mit der Polarnacht, „Kaamos”, das düstere Pendant: Über eineinhalb Monate und dann höchsten sechs Stunden am Tag sehen die Finnen Tageslicht, in Lappland bekommen sie die Sonne überhaupt nicht zu Gesicht. „Klar, sprechen viele darüber, aber das gehört nun mal dazu in diesen Breitengraden“, sagt die zweifache Mutter. Was bedeutet das aber für den natürlichen Rhythmus der Menschen dort?

Laut Schlafexperte Dr. med. hc. G. W. Amann-Jennson hat sich unser Schlaf-Wach- bzw. Tag-Nacht-Rhythmus über Hunderttausende von Jahren hinweg entwickelt und wird vor allem durch Licht gesteuert. „Mit einsetzender Dunkelheit erhöht der Körper die Produktion des schlaffördernden Hormons Melatonin, der gesamte Körper wird dadurch auf Nacht und Schlaf eingestimmt.“ Dieser natürliche Rhythmus des Körpers wird für die Finnen durch die äußeren Umstände allerdings circa vier Monate lang ausgehebelt und das jedes Jahr, ein Leben lang. Wer beispielweise schon einmal ein Baby in der Familie hatte, weiß vermutlich, wie zermürbend einige unruhige Nächte mit wenig Schlaf in Folge sein können. Schlafentzug wurde und wird vermutlich nach wie vor als Foltermethode eingesetzt. Das kann an der Psyche nagen und zu schweren Folgen führen. 

Die Finnen und der Tod

Die langanhaltende Dunkelheit führt bei vielen Finnen zu starken Depressionen. Wer in Finnland als Einwanderer*in glücklich werden will, sollte also neben einem übermäßig sonnigen Gemüt außerdem viel Sprachtalent mitbringen. Ein kleines Beispiel: tuuli, tuli und tulli sind grundverschiedene Wörter*. Lara hat beispielweise „Kurse besucht, selber gelernt und die Sprache angewandt.“ Im Allgemeinen gelten die Finnen und Finninnen jedoch als eher wortkarges Volk. Lara vertritt den Standpunkt, dass es sich nicht verallgemeinern lässt, sondern „es kommt auf die Personen an, es gibt solche und solche.“ Das Bild von einem überm Bierglas sitzenden und stundenlang schweigenden Finnen ist weit verbreitet. Woher kommt das? 

Fakt ist, dass Alkoholabhängigkeit besonders unter den männlichen Einwohnern Finnlands ein großes Problem und sogar die Todesursache Nummer eins ist. Auch die Selbstmordrate ist im europäischen Vergleich sehr hoch. Für die beiden Begebenheiten werden oft die nördlichen Wetterverhältnisse verantwortlich gemacht. Doch nicht nur für die Männer, sondern auch für die Frauen ist es in Finnland gefährlich: Durch den starken Alkoholismus ist auch die Gewalt an Frauen hoch. Laut einer Studie der EU-Grundrechte-Agentur (FRA) haben 47 Prozent der finnischen Frauen schon einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erleben müssen. Das sind circa 14 Prozent mehr als in Deutschland, wobei jede einzelne Frau eine zu viel ist.

Gleichstellung in Finnland

Was bedeutet es sonst, in Finnland eine Frau zu sein? Lara fühlt sich als Frau ernstgenommen. Generell schreibt sich das nordische Land Gleichstellung hoch auf die Fahne. Bereits 1906 zeigt sich das: Das finnische Parlament führte als erste Volksvertretung der Welt eine volle geschlechtliche Gleichstellung ein. So hatten finnische Frauen schon 12 Jahre vor den deutschen Frauen die Möglichkeit politisch mitzuwirken. Auch aktuell zeigt sich das deutlich: Alle vier Parteien der Regierungskoalition haben weibliche Vorsitzende, 12 der 19 Minister im Kabinett sind Frauen und auch die amtierende Ministerpräsidentin Sanna Marin ist eine Frau. Zu Beginn ihrer Amtszeit 2019 war sie gerade einmal 34 Jahre alt und damit die jüngste Ministerpräsidentin der finnischen Geschichte sowie der Welt im Allgemeinen. 

Auch bei dem Thema gleiche Bezahlung liegen die Finnen laut Statista vor den Deutschen. Im hohen Norden befand sich die Gender-Pay-Gap 2018 im Privaten Sektor bei 16,3 Prozent und im öffentlichen Sektor sogar nur bei 13,2 Prozent. Im Vergleich dazu verdienten 2018 Frauen in Deutschland im Schnitt 20 Prozent weniger als ihre männlichen Mitbürger.

Finnland strebt insgesamt eine sozial sowie politisch gleiche Gesellschaft an, in der alle unabhängig von Faktoren wie Herkunft, Aussehen, Sexualität oder Geschlecht gleichgestellt sind. Auf dem Weg dahin wurde 2019 das geschlechtsneutrale Personalpronomen „hän“ eingeführt. Das kann „er“, „sie“, „es“ und alles dazwischen bedeuten und ist dadurch absolut inklusiv.

Als Mutter fühlt sich Lara laut eigener Aussage „gut aufgehoben“. Die finnische Familienpolitik bietet ein komplexes System mit Beistand und vielen Beihilfen für Familien. Von der freien Entscheidung, in welcher Klinik Gebärende ihr Kind bekommen wollen, bis hin zu verschiedensten Betreuungsmöglichkeiten. Beispielsweise erhalten Bürgerorganisationen, die Kinder-Freizeitbeschäftigungen anbieten, finanzielle Unterstützung und können ihr Angebot Familien so kostengünstig anbieten. Des Weiteren gibt es öffentliche Spielparks, die tagsüber von Kinderbetreuern überwacht werden. Das die Familienpolitik wirkt, zeigt unter anderem, dass Finnland eine der weltweit geringsten Säuglingssterblichkeit der Welt hat und auch Mütter im Gegensatz zu anderen EU-Ländern eine sichtbar bessere Chance haben, wieder ins Berufsleben einzusteigen und aktiv zu bleiben.

Finnland ist alles in allem ein vielseitiges Land und bietet trotz der großen mentalen Herausforderungen und deren Folgen viel Potential, um glücklich zu sein. Auf die Frage, ob Lara von Zeit zu Zeit überlege nach Deutschland zurückzukehren, antwortet sie: „Ja klar, aber mit Kindern ist das Leben in Finnland einfach besser für uns. Zudem haben wir hier Jobs, die wir in Deutschland so nicht ausüben könnten. Zwar sind in Deutschland meine Eltern, meine Familie und viele Freundinnen, die mir sehr fehlen, aber mit dem Familienleben in Finnland bin ich sehr glücklich.“

Info

*tuuli – Wind; tuli – Feuer; tulli – Zoll

The World Happiness Report in Gänze: hier