Das Bullet Journal Dilemma
Das vor Jahren omnipräsente und sehr beliebte Bullet Journaling mit Habit Tracking hat mir den Rest gegeben. Das Grundprinzip des Habit Trackers (= Gewohnheiten verfolgen) ist eigentlich recht simpel. Man listet alle Sachen auf, die man gerne täglich (nicht) machen möchte und markiert dann jeden Abend, ob man sie auch tatsächlich erledigt beziehungsweise den Vorsatz geschafft hat. So weit, so gut. Bis sich – nach kürzester Zeit – eben doch die alte Gewohnheit wieder durchsetzt. Am fünften Tag fehlte bei mir das kunstvolle Pünktchen oder Kreuz im Habit Tracker. Und das lag eben nicht daran, dass ich abends lediglich vergessen hätte, das Pünktchen zu setzen. Diese neue Gewohnheit, die ich so unbedingt umsetzen wollte, fand an diesem Tag definitiv nicht statt. Und ihr könnt es euch denken: Das ist unfassbar frustrierend.
Ich war genervt von mir selbst, dass ich dieses Bullet Journaling nicht umsetzen kann und absolut frustriert darüber, dass ich meine mir so sorgsam zurechtgelegten neuen Gewohnheiten, die mich entschleunigen, entspannen und gesünder leben lassen sollten, partout nicht umsetzen konnte. Nur drei große To-Dos am Tag. Fünfzehn Minuten Yoga täglich. Nach 18 Uhr nicht mehr arbeiten. Abends ein Buch lesen. Ihr kennt das. An der Umsetzung dieser Gewohnheiten beiße ich mir teilweise die Zähe aus.
Es ist immer das Gleiche
Die erste Woche bin ich topmotiviert, habe abends meinen schönsten schwarzen Fineliner gezückt, den ich mir extra gekauft habe, und wieder einen Tag mit einem Pünktchen verziert. Alles läuft super. In der zweiten Woche vergesse ich erst die Pünktchen und dann meine neuen Gewohnheiten. Stattdessen falle ich in meine alten Verhaltensmuster zurück: viel zu viele To-Dos. Kein Yoga, da ich um 20 Uhr noch ganz kurz eine Sache am Laptop erledigen will. Nichts mit Buch lesen und einer entspannten Abendroutine. Ich lese ungelogen maximal drei Sätze, lasse mein Buch fallen und schlafe sofort ein. Und natürlich frustriert mich das so sehr, dass ich sofort in eine Negativspirale falle, nach dem Motto: Dann kann ich es auch gleich lassen. Und zack – das mühsam und liebevoll gestaltete Bullet Journal samt Lieblings-Fineliner landen in der hintersten Ecke meines Schrankes.
Mein Verhalten erinnert mich dabei an das meines Zweijährigen, wenn er seinen Anhänger nicht an den Traktor koppeln kann und dieses klitzekleine Verbindungsstück motorisch nicht richtig zu fassen bekommt. Da wird er richtig sauer, wirft den Anhänger in die nächstbeste Ecke und weint frustriert. Der Mensch ist sich eben selbst der größte Feind, im Kleinen wie im Großen. Mein zweijähriger Sohn nimmt sich seinem Problem aber 20 Sekunden später wieder an – ich nicht. Und er bekommt es dann eben doch irgendwann und irgendwie hin – ich nicht. Weil ich nicht weitermache, weil ich einfach aufhöre und frustriert bin.
Woran liegt es, dass es mir so schwerfällt, neue Gewohnheiten umzusetzen? Und wie schafft man es, diese Gewohnheiten und das gewünschte Verhalten langfristig beizubehalten?
Zielsetzung überprüfen und überdenken
Jahrelang standen bestimmte Verhaltensmuster und Gewohnheiten auf meiner persönlichen Wunschliste. Einfach nur, weil ich diese Verhaltensweisen als erstrebenswert empfinde und an anderen Menschen bewundere. Zwei Beispiele dafür sind die folgenden: morgens um fünf Uhr aufstehen und frisch gepressten Staudensellerie-Saft trinken. Jahrelang war ich frustriert, weil ich mir diese Gewohnheiten einfach nicht antrainieren konnte. Um fünf Uhr morgens aufstehen erschien mir in der Theorie toll; so ein bisschen Zeit für sich, der frühe Vogel fängt den Wurm, die Ruhe am Morgen; das klingt ja erstmal sehr verlockend.
Wenn man einen Säugling oder ein Kleinkind oder überhaupt ein schlecht schlafendes Kind hat und Schlaf ein Reizwort ist, ist an frühes Aufstehen mit Weckerklingeln in der Praxis aber überhaupt nicht zu denken. Und wenn ich mich dann doch vor allen aus dem Bett quälte, war es natürlich schön, meinen ersten Kaffee in absoluter Ruhe zu trinken, dafür hing ich ab 15 Uhr dann aber schon absolut durch, war übel gelaunt und einfach nur noch sehr, sehr, sehr müde.
Der vielbeschworene Selleriesaft schmeckte mir erstens nicht und zweitens war das Entsaften und insbesondere das Säubern des Entsafters für mich ein absoluter Stressfaktor. Und genau davon wollte ich ja weniger haben: weniger Stress, mehr Leichtigkeit. Nach zahlreichen gescheiterten Versuchen, mir diese healthy habits anzugewöhnen, habe ich dann endlich verstanden: Wenn man so oft an etwas scheitert, sollte man sich vielleicht doch eine ganz essentielle Frage dazu stellen: Ist das tatsächlich mein Ziel oder ist das nur sozial erwünschtes Verhalten? Will ich das wirklich und tut mir diese neue Gewohnheit gut oder ist das nur ein zusätzlicher externer Stress, den ich mir da angewöhnen möchte? Für mich bedeutete das für beide genannten Beispiele: Ich schlafe morgens so lange, wie es mein Sohn und die Arbeit zulassen und statt des frisch gepressten Saftes esse ich morgens einen Apfel, ein Stück Gurke oder irgendwas Frisches. Den Entsafter habe ich weiterverschenkt.
Motivation erkennen
Der zusätzliche Stressfaktor mit den sozial erwünschten Verhaltensmustern und Angewohnheiten, die nach außen hin Eindruck schinden und die man stolz erzählt, ist nur ein Teil des Problems. Schwierig und schwer zu überbrücken ist bei solchen Zielen auch die fehlende intrinsische Motivation. Das bedeutet, dass die Motivation nicht aus dem tiefsten Inneren kommt, sondern man lediglich nach etwas strebt, da es von der Mehrheit der Menschen als sehr positiv angesehen wird und es sich eben ganz toll anhört, wenn man morgens mit den ersten Sonnenstrahlen gut gelaunt aus dem Bett hüpft, um sich dann einen Saft zu pressen. Bei solchen Zielsetzungen fehlt aber vor allem eins: ein klares und ehrliches Warum. Deshalb muss ich mich ganz ehrlich fragen, ob tatsächlich ich mein Ziel definiere und erstrebenswert finde und warum.
Den Weg zum Ziel kennen und planen
Wenn wir uns authentische Ziele gesetzt haben, gibt es noch einen wichtigen und oft übersehenen Stolperstein: Wie setze ich dieses Ziel Stück für Stück um? Wie integriere ich mein gewünschtes Verhalten in meinen Alltag, sodass es sich irgendwann ganz natürlich für mich anfühlt? Man sollte sich also definitiv Gedanken über verschiedene Wege, wie man das Ziel erreichen kann, machen.
Man muss sich fragen, in welchen Situationen man welche Handlungen vornehmen möchte, um zum Ziel zu gelangen. Ganz konkret: Ich arbeite seit Monaten bis spätabends und bin damit sehr unzufrieden. Denn deshalb bleibt vieles, was ich eigentlich tun möchte und mir guttut – Yoga, kinderfreie Zeit mit dem Partner, lesen – auf der Strecke. Ich will das nicht mehr. Mein Ziel ist es, nach 18 Uhr nicht mehr zu arbeiten, um wieder entspannte Abende genießen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, hält es die Psychologin Ulrike Bossmann für unerlässlich, dass man sich Wege und klare Handlungsschritte überlegt, wie man diese Ziele erreichen kann. Das bedeutet für mich konkret:
- Erinnerung um 17:30 Uhr, dass ich gleich Feierabend machen sollte
- Auszeit-Timer auf dem Handy und Laptop einstellen, sodass ich nicht mehr arbeiten kann
- Ziel mit Partner oder Partnerin teilen und darum bitten, dass er oder sie mich abends daran erinnert
- Kurz vor Feierabend eine To-Do-Liste für den nächsten Tag schreiben, um so auch alles aus meinem Kopf zu bekommen
Veränderung ist ein Prozess
Ulrike Bossmann sagt: „Erst, wenn Wege klar sind, kannst du loslaufen. Je mehr Wege du findest, umso besser.“ Das schöne Heftchen, das ich als Bullet Journal auserkoren hatte, habe ich dementsprechend erstmal umfunktioniert, um darin mein Warum für jede Zielsetzung sowie dazugehörige konkrete Handlungsschritte zu notieren. Manche davon werden weniger gut, manche besser für mich funktionieren. Und während des Prozesses werde ich sicherlich noch weitere Möglichkeiten finden, wie ich meine Ziele und gewünschten Verhaltensmuster konkret umsetzen kann.
Und ich nehme mir zu Herzen, dass ich meine Verhaltensmuster nicht von heute auf morgen ändern kann. Denn Veränderung ist ein Prozess, der eben nicht nach magischen 21 Tagen abgeschlossen ist, wie mir Dr. Ulrike Bossmann erklärte. Sowohl die omnipräsente Zahl 21 als auch die aktuell kursierende 66 sind ausschließlich Durchschnittswerte. Keine Zahl der Welt bestimmt an welchem Tag eine Gewohnheit fest in unserem System verankert ist. Für manche Menschen und Gewohnheiten wird es nur 18 Tage dauern, andere mühen sich nach 81 Tagen noch tagtäglich mit der Umsetzung ab. Und: Das ist alles absolut okay.
Wenn ihr euch mehr mit dem Thema auseinandersetzen möchtet, empfehle ich euch das Video „So veränderst du dein Verhalten nachhaltig“. Schaut auch gerne bei Dr. Ulrike Bossmann auf Instagram vorbei.