geschrieben von Laura Erdmann

Wir sind eine Patchworkfamilie (Papa, Mama, Tilda 19, Victoria 6, Madita 3 und Linnea 1) und leben auf einem Bauernhof in einem 5.000-Seelendorf in NRW. Unsere Tochter Victoria haben wir mit 5 Jahren vorzeitig eingeschult. 

Als wir im Januar 2019 nach den Winterferien wieder in den Kindergarten kamen, bat mich die Erzieherin um ein Gespräch. Victoria hatte genau an diesem Tag Geburtstag und war 4 Jahre alt geworden. Uns wurde die Empfehlung der vorzeitigen Einschulung ausgesprochen. Auch wir hatten über die Winterferien schon mit dem Gedanken gespielt, die Erzieher zu diesem Thema um Rat zu fragen. Mein Mann und ich besprachen uns, führten mehrere Gespräche mit dem Kindergarten. Alle beobachteten Victoria nun unter dem Aspekt: Angehendes Schulkind, was kann sie nicht, was die anderen angehenden Schulkinder schon können? 

Wenn sie wissen, was sie wollen

Victoria war sehr früh im sprachlichen Bereich sehr stark. Sie konnte sich sehr gut von mir lösen und entwickelte eine großartige Persönlichkeit. Sie stand schon sehr früh für ihre Wünsche ein und überzeugte uns immer wieder in diversen Situationen, dass sie genau weiß, was sie will. Mit 3 ½ Jahren wollte sie z.B. nicht mehr zum Tanzen gehen, was Mama gerne wollte. 2 Monate kämpfte sie für ihren Traum Reiten. Kurz bevor sie 4 war, fing sie dann mit dem Reiten an. Dieser Leidenschaft geht sie bis heute 3-mal die Woche nach. Es ist ihr wichtigster Ausgleich zur Schule und wird auch egal, was zuhause ist, nicht gestrichen. Es ist gerade in Zeiten von Corona ihre Zuflucht und ihr Pferd ihr Ruhepol. 

Der Zeitpunkt, an dem wir eine Entscheidung treffen mussten, rückte näher. Für uns war klar, sobald wir Victoria sagen, du gehst mit den anderen im August 2020 in die Schule, müssen wir alles dafür tun, dass es auch so ist. Egal welche Steine uns in den Weg gelegt werden. Für Victoria war immer klar, dass sie mit ihren Freundinnen eingeschult wird. Sie wusste lange nicht, dass sie eigentlich ein Jahr später gehen würde. 

Unser ABC-Kind

Wir waren uns letztendlich einig, Victoria wird am 1.8.2019 ein ABC-Kind (so heißen bei uns die Kinder, die im letzten Kiga-Jahr sind) und im August 2020 geht sie in die Schule. Es sprachen viele Punkte (Größe, sprachliche Entwicklung usw.) für die vorzeitige Einschulung, aber der wichtigste war, dass sie sozial sehr gefestigt war und auch die kognitive Kompetenz besaß, diesen Weg zu meistern. Des Weiteren gab es ein paar Punkte, die bis zur Einschulung erfüllt sein sollten: Toilettengang allein erledigen, Fahrrad fahren, Schwimmen können, Schleife binden … Auch diese Dinge hatte Victoria – bis auf das Schleifebinden – bis zu Einschulung alle locker erfüllt. 

Am 01.08.2019 war es dann soweit. Sie kam ins letzte bei uns beitragsfreie Kindergartenjahr. Es war aber nicht so einfach und so klar, dieses Jahr auch beitragsfrei zu bekommen. Der Kindergarten arbeitete super mit uns zusammen und unterstützte uns sehr. Auch bei offenen Fragen und Bedenken, die natürlich immer wieder kamen, hatten sie ein offenes Ohr und gaben ein Feedback aus einer anderen Perspektive. 

Bei einer vorzeitigen Einschulung läuft nichts automatisch, man muss sich um alle Unterlagen und Termine selbst kümmern und ggf. anrufen und mitteilen, dass das eigene Kind dazugehört, da man vorzeitig einschulen möchte. Hier muss man auf seltsame Blicke und bissige Kommentare vorbereitet sein. Ich war es oft nicht. Ohne den Kindergarten auf der eigenen Seite würde ich nicht empfehlen, diesen Schritt zu gehen. Es kostet sehr viel Kraft und wenn man auch noch den Kindergarten überzeugen muss, dass es der richtige Weg ist, ist es, glaube ich, der falsche. 

„Ich möchte in die Schule“

Bei der Anmeldung für die Schule wurden wir noch einmal genau damit konfrontiert, was es in 10 Jahren für Victoria heißen würde, immer die Jüngste zu sein. Gerade wenn es später um Alkohol, Ausgehen und Autofahren ginge. Es wurde Rücksprache mit dem Kindergarten gehalten und noch einmal geschaut, dass dieser Schritt wirklich gut überlegt ist und auch das Kind weiterhin diesen Wunsch „Ich möchte in die Schule“ äußert. 

Gerade an solchen Punkten kam ich als Mama ins Grübeln. Ist das alles richtig, was ich hier gerade für mein Kind entscheide? Nehme ich ihr ein Jahr Kindergarten oder schenke ich ihr die Freude am Lernen, die sie hat? Schafft Victoria das alles? Mir war zu dem Zeitpunkt klar, dass Victoria von all diesen Gedanken nichts mitbekommen darf. Sie war safe mit dieser Entscheidung und das war wichtig, die Freude auf die Schule war riesig. 

Die Schulanmeldung fand im November 2019 statt. Victoria war zu diesem Zeitpunkt 4 Jahre und 10 Monate alt. Bei der Schulanmeldung achtete ich penibel darauf, dass ich ihr keine Unterstützung gab. Ich wollte eine ehrliche Meinung der Direktorin zu Victorias Schulfähigkeit. Ich war davon überzeugt, dass Victoria sie mit ihrer selbstbewussten offenen Art und ihrem Können überzeugt. Und das war auch so. Sie wurde an unserer Schule im Dorf angenommen. 

Als nächstes stand die Einschulungsuntersuchung für März 2020 im Kalender. Doch dann kam Corona. Der Termin wurde abgesagt. Es gingen Wochen ins Land, in denen Victoria nur ihre Geschwister als Spielkameraden hatte. Nach 6 Wochen gingen die Kinder wieder in den Kindergarten, da wir durch unsere Selbstständigkeit keine Betreuung zuhause mehr leisten konnten. Ich wusste, was für tolle Termine der ABC-Kids ausfielen, dass der Abschluss im Kindergarten anders sein würde, wie eigentlich geplant. Victoria wusste all dies nicht, was auch gut war. 

Einschulung in Corona-Zeiten

Im Mai fand dann die Schuluntersuchung unter Coronabedingungen statt. Victoria erledigte alle Aufgaben sehr gut und ohne Probleme. Sie hatte die Bescheinigung für die Schule. Auch hier kam immer wieder das Thema Zweifel auf den Tisch: Machen wir unter Coronabedingungen weiter? Ja, machen wir, Victoria geht in die Schule. Die Einzige, die Ängste hat, ist Mama, nicht das Kind. 

Dann war der große Tag gekommen. Die Einschulung fand nur mit Mama und Papa und nur mit der eigenen Klasse statt. Es war toll! Eine richtig schöne Feier im kleinen Kreis, für die Schulkinder und nicht für Oma, Opa, Tante, Onkel. Wir hatten die zwei Kleinen bei den Großeltern und alle Zeit, Victoria zu begleiten und einfach dabei zuzusehen, wie glücklich sie war und wie selbstverständlich und selbstbewusst sie dort saß. 

Seitdem ist es so, dass ich Victoria morgens zu einem Treffpunkt in der Wohnsiedlung bringe. Ab da läuft sie in einer Gruppe die 2 Kilometer bis zur Schule. Mittags geht sie ab dem Treffpunkt allein nach Hause. Im Januar ist Victoria 6 Jahre alt geworden. Aktuell hat sie den gleichen Leistungsstand wie ihre Klassenkameraden und es fällt nicht auf, dass sie jünger ist. 

Ich halte mein Kind nicht für intelligenter, jedes Kind wird lesen und rechnen lernen. Der eine am Montag, der andere am Dienstag. Und ich werde auch erst in den nächsten Jahren wissen, ob es die richtige Entscheidung war. Bis jetzt sind wir der Meinung, es war richtig, und genauso entscheiden wir jeden Tag aufs Neue viele Dinge für unsere Kinder.