„Worauf würden Sie Wert legen, wenn Sie eine neue Schule gründen und nach Ihren Vorstellungen gestalten könnten?“ Mit dieser Frage hatte ich gerechnet. „Jetzt noch einmal alles auspacken, was du über Pädagogik und den Schulalltag weißt“, schoss es mir durch den Kopf, „und dann bist du hoffentlich endlich Lehrerin“. Ich atmete tief durch und begann, ausschweifend von einer Schule zu erzählen, die ganz anders ist als alles, was ich bisher kannte, eine Schule aus dem Lehrbuch – natürlich immer in dem Bewusstsein, dass das hier reines Phantasiespiel war, läuft doch an den allermeisten öffentlichen Schulen in Deutschland leider alles im Großen und Ganzen immer noch genauso, wie es schon zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts war.

Entsprechend euphorisch war meine Stimmung, als ich nur wenige Monate nach meiner Abschlussprüfung genau hierzu die Chance bekam. Ich war Teil einer sogenannten „Konzeptgruppe“, die sich auf den Weg machen sollte, in einer von Deutschlands reichsten Kommunen eine neue Schule auf die Beine zu stellen. Zu diesem Zeitpunkt einzige Vorgabe: Neu sollte diese staatliche Gesamtschule sein, erfolgreich sollte sie werden. Uns wurde ein renommierter Schulberater einer Uni nebst studentischen Hilfskräften an die Seite sowie ein üppiger Etat zur Verfügung gestellt. Ein Schuljahr lang sollten wir nach unserer Arbeit an einer anderen Ganztagsschule in derselben Kommune auf Kosten der Stadt Kaffee und Cola trinkend im Rathaus unsere rauchenden Köpfe zusammenstecken. 

Vision: Selbstlerner*innen

Schnell war klar: Wir wollten ein schulisches Umfeld schaffen, in dem unsere Schüler*innen, die laut Einzugsgebiet aus eher prekären familiären Verhältnissen und aus bildungsfernen Haushalten kommen würden, als Selbstlerner*innen dazu befähigt würden, ihr Leben eigenständig in die Hand zu nehmen. Wir wollten eine Schule aufbauen, die es endlich schafft, den schrecklich ungerechten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen wenigstens ein Stück weit aufzubrechen. Wir wollten eine ganz andere Haltung unseren Schüler*innen gegenüber entwickeln, sie ganz anders ernst nehmen, ihnen viel mehr zutrauen und vor allem immer erstmal an das Gute im Menschen glauben. Achtung Spoiler: Das ist uns nicht gelungen.

Aufgeregt lugten wir über unseren Tellerrand hinaus, indem wir Schulen in ganz Deutschland besuchten, die sich Ähnliches auf die Fahnen geschrieben hatten. Besonders eine Schule, die später beim Deutschen Schulpreis einen hohen Platz belegte, begeisterte uns restlos. Hier arbeiteten die Lernenden völlig eigenständig, erarbeiteten sich den Lernstoff allein oder in Gruppen in ihrem Tempo, sogar die Klassenarbeiten schrieben sie zu einem selbstgewählten Zeitpunkt. All das wollten wir auch! Achtung, nächster Spoiler: Auch das hat nicht geklappt.

Eine weitere Schule akzeptierte absolut keine Gewalt. Die Vermeidung von Gewalt hatten wir alle als große Herausforderung wahrgenommen, da wir bereits mit Jugendlichen zusammengearbeitet hatten, denen es an verbalen Strategien zur Gewaltvermeidung einfach fehlte und die in ihrem privaten Umfeld Gewalt zuhauf als völlig legitimes Mittel zur Konfliktlösung kennengelernt hatten. An dieser von uns besuchten Schule wurde jedoch streng nach der Regel „Wer schlägt, geht“ gelebt. Warum das funktioniert? Weil gerade diese Jugendlichen so viel Wert darauf legen, akzeptiertes Mitglied einer Schulgemeinschaft zu sein, in der sie so angenommen werden, wie sie sind – etwas, das viele von zu Hause leider nicht kennen. So ein gewaltfreies Klima der Wertschätzung wollten wir unbedingt auch etablieren! Es ist wieder an der Zeit zu spoilern: Auch das ist uns nicht gelungen …

Knoten der Enttäuschung

Das alles ist jetzt ein paar Jahre her, die Schule ist längst an den Start gegangen, sie nimmt bald den dritten Jahrgang auf … und entwickelt sich zur deutschen Durchschnittslernanstalt. Ich arbeite nicht mehr dort und wenn ich über das Erlebte nachdenke, fühle ich einen Knoten der Enttäuschung im Bauch. Woran könnte dieses Scheitern gelegen haben?

Als Lehrer*innen waren wir so motiviert, uns völlig in die Arbeit am Projekt hineinzuknien, um die bestmöglichen Voraussetzungen für unsere Schüler*innen zu schaffen. Aber dann kam der Alltag und dann entdeckte doch die eine oder der andere von uns, dass es schön ist, die Tür des Klassenraums zu schließen, sich vor die Tafel zu stellen und genau den Frontalunterricht abzuhalten, den man eben seit Jahren kennt. Hinter meiner verschlossenen Tür kann ich Alleinunterhalter*in sein und niemand merkt, wenn die Schüler*innen mir aus Langeweile auf der Nase herumtanzen. Es kamen neue Kolleg*innen hinzu, die unser stundenlang erarbeitetes Konzept nicht verstanden und dieses im Schulalltag nicht mehr finden konnten. Sie machten also einfach, was sie schon jahrelang gemacht hatten. Das hatte ja immer geklappt. Oder hat sich jemals irgendjemand beschwert?

Wir bekamen eine Schulleitung vor die Nase gesetzt, die unsere Leitideen nicht teilte. Wir wollen mal die Kirche im Dorf lassen und nicht zu viel Neues veranstalten. Wenn wir es so machen, wie es immer gemacht wurde, sind wir auf der sicheren Seite. Bereits in den ersten Wochen wurden Lehrer*innen und Schüler*innen körperlich angegriffen. Die betreffenden Schüler*innen nach Hause schicken? Das meint ihr doch nicht ernst! Was soll man in der Stadt über uns denken?

Wohl doch kein Neuanfang

Die zuständige Dezernentin war von Anfang an genervt von unserem Reformwillen, hatte sie doch gehofft, in nächster Zeit möglichst wenig Stress zu haben. Schüler*innen wertschätzen und sie nicht von vornherein durch das Bewerten mit willkürlichen Ziffernoten desillusionieren? Klassenarbeiten zu einem selbstgewählten Zeitpunkt schreiben? Nee, das haben wir ja noch nie so gemacht und wenn ich euch das jetzt erlaube, muss ich das anderen womöglich auch noch erlauben … Lasst uns mal lieber alles so machen, wie wir es immer schon gemacht haben, hat sich ja nie jemand beschwert!

Richtig, obwohl wir in Deutschland ein Schulsystem haben, in dem sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts nicht viel geändert hat, und obwohl Studien immer wieder belegen, dass in kaum einem anderen europäischen Land der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen so dramatisch hoch ist wie bei uns, sind die Stimmen, die eine Reform fordern, immer noch relativ leise. Das mag aber auch – das ist meine subjektive Wahrnehmung und klingt vielleicht wie eine fiese Unterstellung – daran liegen, dass diejenigen, die in unserer Gesellschaft eine Stimme haben, eben in den seltensten Fällen zu den typischen Bildungsverlierer*innen gehören. Aber müssten denn nicht gerade wir privilegierte Gewinner*innen für diejenigen den Mund aufmachen, die sich nicht selbst beschweren können? 

Eins bleibt festzuhalten: Unser Projekt ist mit Sicherheit nicht am mangelnden Engagement unserer Schüler*innen gescheitert – ganz im Gegenteil: Sie haben bewiesen, dass sie bereit sind, neue Wege des Lernens zu gehen! Es ist gescheitert an mangelnden Visionen und an mangelndem Mut der Bildungsgewinner*innen.