Lene anrufen
„Lene anrufen“ steht seit sieben Tagen auf meiner imaginären To-do-Liste. „Claudia treffen“ sogar schon seit vierzehn Tagen. Und mit jedem Tag wächst mein schlechtes Freundinnen-Gewissen, denn Lene und Claudia sind zwei richtig gute Freundinnen von mir. Ich denke täglich an die beiden und verbringe wahnsinnig gerne Zeit mit ihnen. Und trotzdem schaffe ich es seit Tagen nicht, Lene anzurufen oder Claudia auf einen Kaffee zu treffen. Anstatt Lene anzurufen, sende ich ihr eine kurze Nachricht, schreibe, dass ich an sie denke und sie vermisse. Dass ich sie anrufe, schreibe ich nicht dazu, denn wer weiß, wann ich das dann tatsächlich mache.
Zwischen Arbeit, Alltagsaufgaben, Partnerschaft und Kind inklusive Kita-Keimen und daraus folgenden Kita-Krankheiten fehlt mir oft die Zeit, einfach nur durchzuatmen und für mich zu sein. Und obwohl ich meine Freundinnen liebe, nutze ich die wenige Zeit dann tatsächlich lieber für fünfzehn Minuten Yoga oder eine Kaffeepause auf dem Balkon, ohne mit jemandem zu sprechen.
Lene schreibt zurück, dass sie mich auch vermisst und ob wir uns wohl bald sprechen können? Ich zucke innerlich zusammen und gehe im Kopf die nächsten Tage durch. Vielleicht übermorgen auf dem Weg von der Arbeit zur Kita? Ein Hoch auf Airpods – seitdem ich diese besitze, kann ich die Fahrradzeit optimal zum Telefonieren nutzen. Oder wenn sich mein Sohn mal für eine halbe Stunde alleine beschäftigt? Das lässt sich nur leider so schwer planen. Und wer weiß, ob Lene genau dann Zeit hat? Ich schreibe zurück: Die Woche ist super voll, aber ich versuche es auf jeden Fall in den nächsten Tagen bei dir – versprochen. Nachdem ich diese ausweichende Antwort versendet habe, frage ich mich wieder einmal: Bin ich eine weniger gute Freundin, seit ich Mutter bin?
Vor dem Kind
Ich habe, seit ich Mutter bin, keine 180-Grad-Wendung gemacht. Überhaupt nicht. Ich war davor keine wilde Party-Gängerin und auch vor dem Kinderhaben oft um 22 Uhr müde – was ich damals als „müde“ empfand – und habe mich ungern allzu oft unter der Woche verabredet. Ich konnte aber immerzu „ja“ sagen. „Ja“ zu fast jeder Einladung von Freundinnen und zu Terminvorschlägen für gemeinsame Kaffeedates, Kinobesuche und sonstige schöne Dinge. Klar, ich hatte feste Arbeitszeiten und einen Partner. Alles andere ließ sich aber sehr flexibel und vor allem spontan gestalten.
Wenn Lene damals morgens kurz anrief, da sie sich über etwas besonders freute oder ärgerte, konnte ich sagen: Ich komme nach der Arbeit vorbei und wir trinken einen Wein zusammen. Oder: Lass uns nachher direkt beim Italiener treffen. Oder: Willst du später vorbeikommen? Ich koche für uns. Und wenn Lene die Freundin war, die schon Kinder hatte, konnte ich sagen: Ich komme zu dir, ich koche, du bringst den Zwerg ins Bett und dann machen wir uns einen schönen Abend.
Einfach da sein
Ich konnte da sein, vor Ort sein und Präsenz zeigen. Ich konnte nicht nur sagen: Oh man, das tut mir leid. Wenn du etwas brauchst, dann sag bitte wirklich Bescheid, weil ich meinem Sohn versprochen hatte, dass ich ihn direkt nach der Kita abholen und wir schwimmen gehen würden. Ich konnte auch nicht nur sagen: Lass uns doch am Wochenende telefonieren und alles in Ruhe besprechen, weil ich schon vor der Kita stand und unsere Betreuungszeit zu Ende war. Ich konnte präsent sein, ich konnte zeitlich unbegrenzt für meine Freundinnen da sein. Ich war einfach da.
Und klar, auch heute bin ich für meine Freundinnen da, höre zu und teile Erfahrungen und Erlebnisse. Aber heute habe ich auch ein Kind, dass mich braucht, dass gefühlt alle zwei Wochen krank ist und mich dann besonders braucht. Und einen Alltag, den ich nicht missen möchte, der mich aber auch ganz schön fordert und in dem ich gelernt habe, noch viel mehr auf mich selbst zu achten und dass meine Ressourcen eben auch begrenzt sind.
Nach dem Kind
Zu allem „ja“ sagen ist so oder so keine gute Idee. Das wissen wir mittlerweile – hoffentlich – alle. Was mir zu schaffen und tatsächlich auch immer wieder ein schlechtes Gewissen macht, ist, dass es für mich faktisch nicht mehr geht, zu meinen Freundinnen immer „ja“ zu sagen, ohne mich selbst zu verlieren. In meiner aktuellen Lebenssituation sage ich sogar immer öfter „nein“ zu Freundinnen: Nein, ich habe diese Woche leider keine Zeit. Nein, am Wochenende möchte ich ganz unbedingt ein paar freie Stunden für mich. Nein, am Mittwochabend wollte ich gerne zum Yoga.
Ich sage öfter „nein“ zu Freundinnen, um meine eigenen Batterien aufzuladen. Denn mit dem allgemeinen Trubel des Alltags plus Kind brauche ich öfter Zeit für mich, als ich es mir anfangs eingestehen wollte. Ich liebe meine Freundinnen und ich genieße die Zeit mit ihnen, aber ich brauche auch Zeit für mich. Klar, die freie Zeit ist mit Kindern und einer eigenen Familie eh wesentlicher begrenzter. Wenn ich dann die wenige freie Zeit mit Freundinnen verbringen würde, hätte ich keine mehr. Oder absolut null Zeit mit meinem Mann.
Achtsamkeit, Egoismus und Kindergeschichten
Seit ich Mutter bin, bin ich viel achtsamer und egoistischer mit meiner Zeit und meinen Ressourcen geworden. Das macht mich auf der einen Seite stolz und zufrieden, denn ich achte seitdem viel mehr auf mich und mein persönliches Wohlbefinden. Auf der anderen Seite nagt an mir dann eben auch das schlechte Freundinnen-Gewissen. Und nein, das liegt nicht daran, dass ich nur noch über meine Kinder sprechen möchte und kein anderes Thema mehr kenne. Natürlich kann ich nur aus meiner Sicht urteilen, aber hey, dieses Klischee von Müttern, die nur über ihre Kinder sprechen, ist mir tatsächlich noch nie begegnet.
Und ich liebe meine Kinder, natürlich, aber ich muss nicht den ganzen Tag von ihnen erzählen oder über sie berichten. Klar, viele meiner Geschichten und Erzählungen schließen sie mit ein. Sie waren eben im Urlaub oder bei diesem Erlebnis dabei. Aber in ebenso vielen Geschichten geht es eben nur um mich als einzelnen und vollständigen Menschen. Ich konnte bisher mit jeder Frau – ob Mutter oder kinderfrei – über Themen sprechen, die keine Kinder involvierten. An mir nagen andere Zweifel. Bin ich eine weniger gute Freundin, weil ich nicht immer verfügbar, oft tagelang nicht erreichbar und manchmal auch lieber alleine bin?
Die Freundin, die ich jetzt bin
Mit dem Kinderkriegen beginnt eine neue Phase im Leben, die sich mit keiner zuvor auch nur ansatzweise vergleichen lässt. Eigentlich logisch, dass ich mich auch als Freundin verändert habe. Ich habe oft das Gefühl, dass ich, seitdem ich ein Kind habe, meine besten und schlechtesten Eigenschaften viel mehr lebe und zeige. Ich bin noch viel emphatischer und mitfühlender, als ich es zuvor war, und habe gleichzeitig gelernt, mich besser abzugrenzen und verstärkt auf mich zu achten.
„Aus einem leeren Brunnen lässt sich kein Wasser schöpfen“, oder wie lautet dieser schlaue Spruch nochmal? „Wenn es der Mama gut geht, geht es dem Kind gut.“ Ich behaupte sogar: Wenn es dem Menschen gut geht, geht es dessen Mitmenschen gut. Wenn es einem selbst nicht gut geht, die eigene Energie bei 0 liegt, weil man an sich spart und ohne Rücksicht auf Verluste immer nur gibt, gibt, gibt, kann man auch seinen Mitmenschen auf Dauer keine echte Unterstützung sein.
Qualität über Quantität
Ich weiß, dass ich, seit ich Mutter bin, weniger Zeit mit meinen Freundinnen verbringe und öfter „nein“ sage. Zeit alleine ist aber eben kein hinreichender Indikator für eine tiefe Freundschaft. Ich habe weniger Zeit, ich fühle aber bei guten sowie schlechten Neuigkeiten meiner Freundinnen noch mehr mit, seitdem ich Mutter bin. Ich bin viel dankbarer für meine Freundinnen und das, was uns verbindet.
Das Muttersein hat mich weicher gemacht, lässt mich liebevoller mit mir selbst und meinen Mitmenschen gegenüber sein. Wenn es einer Freundin schlecht geht, bin ich für sie da. Vielleicht nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit, aber ich bin da, im Rahmen meiner Möglichkeiten. Ich sage öfter mal „nein“ zu einer Verabredung. Wenn ich mich dann aber „nur“ alle zwei oder drei oder vier Wochen mit der Freundin treffe, genieße ich dieses Treffen und unsere Freundschaft aus tiefstem Herzen und bin dankbar für diese gemeinsame Zeit. Ich bin keine weniger gute Freundin, seitdem ich Mutter bin. Ich bin zeitlich eingeschränkter, aber auch achtsamer mit mir und besonders liebevoll im Umgang mit meinen Freundinnen – und eben mit mir selbst.