Folge 3 von unserem neuen digitalen Roman

Er dreht den Walnusskern zwischen den Fingern, pult an ihm herum. Gedankenversunken fährt er mit der Walnuss die Holzmaserung des Tisches entlang.

„Moritz?“, frage ich. „Sag schon. Ist es wegen einer anderen Frau?“

Er schüttelt entsetzt den Kopf. „Quatsch“, murmelt er.

Stille. Lange Stille. Nur das Kratzen der Walnuss erfüllt den Raum.

Wir haben sie immer auf dem Kerzenständer im Esszimmer liegen, um Kratzer im Holztisch auszubessern. Der Massivholztisch aus Eiche war schon immer unser Baby, bevor Baby Alea kam. Als ich einmal angespannt war, weil Freunde Rotwein am geliebten Holztisch tranken, wusste ich, dass ich endgültig in der Spießigkeit angekommen war.

Ich weiß noch, wie Moritz meinen schwangeren Bauch küsste und sagte: „Hey, Zellhaufen, ich hoffe deine Mama liebt dich später genauso wie unseren Tisch.“ Monate später, mit dem Start von Aleas Beikost, ging es nicht nur mit der Beziehung rapide bergab, auch der Tisch bekam Macken, Kratzer, trockene Stellen. Immer wenn Brei runtergekratzt wurde – ich konnte ihn ölen so viel ich wollte –, wurde aus ihm eine gefleckte Kuh. Nur die Walnuss konnte seine Würde ein Stück bewahren. Welche Walnuss sollte noch unsere Ehe retten? Unsere kleine Familie?

„Du sitzt doch nur mit deinen Mutti-Freundinnen im Park“

„Ich habe das Gefühl, dass ich hier nicht mehr gewollt bin“, sagt er plötzlich.

„Was?!“, sage ich überrascht. Erschrocken. Irritiert. Ertappt. Wie soll ich auch jemandem um den Hals fallen, der mir nicht unter die Arme greift?

„Das stimmt nicht“, lüge ich.

„Ich fühle mich in meinem eigenen Zuhause nicht mehr wohl. Du meckerst den ganzen Tag an mir herum. Das mache ich falsch, dies mache ich nicht richtig, der Pfannenwender liegt doch woanders, warum ziehe ich Alea kein Halstuch an, ich habe das Werkzeug nicht zurückgelegt, ich hinterlasse die Duschfliesen nicht trocken und, und, und. Ich ertrage das nicht mehr“, sagt Moritz.

„Du erträgst das nicht mehr? Das ist jawohl ein Scherz jetzt“, sage ich und werde ruppig. „Ich kämpfe mich durch den Alltag. An mir bleibt doch alles kleben. Ich kann nicht mehr. Ich wuppe hier unser Leben. Du hast keinen Grund, dich zu beschweren“.

Er seufzt. „Mia. Ich weiß, du wechselst auch die Windeln und so, kochst Essen, ja. Aber du sitzt auch mit deinen Mutti-Freundinnen im Park, während ich arbeiten muss. Und wenn ich dann Feierabend habe und Heim komme, werde ich auch noch von dir angemotzt“.

Wie Rose aus Titantic

Mir schnürt sich der Magen zu. Würde er das Kind doch nur mal eine Woche lang betreuen, statt nur wenige Stunden am Wochenende. Den Fun-Part kann jeder. Pf.

„Ich rufe ständig nach Entlastung und du hörst mich nicht“, sage ich.

Ich hätte Rose aus Titanic zitieren können. Rose sagt verzweifelt zu Jack: „Die ganze Zeit hab ich das Gefühl, ich stehe in der Mitte eines überfüllten Raumes und schreie aus vollen Leibeskräften, doch niemand sieht auch nur zu mir hoch.“ Jack rettet Rose. Ich allerdings werde auf der Eltern-Titanic alleine gelassen. Jedes Mal, wenn ein Eisberg zu sehen ist, muss ich das Steuerrad umreißen.

„Du siehst gar nicht, was ich hier alles regele. Ich mache die Nächte, den Morgen, ich versuche ein quengelndes Kind zum Mittagsschlaf hinzulegen. Nicht, um dann eine Zeitschrift zu lesen, sondern um zu putzen, den Mittagsbrei vorzukochen, Chaos zu beseitigen. Unsere Hausratsversicherung aktualisieren. Retourenscheine ausdrucken. Neuerdings gehe ich wieder arbeiten. Muss gleichzeitig mit der Kitaleitung kommunizieren. Ich mache Kinderarzttermine. Informiere mich, ob ein Kinderfahrradsitz oder ein Anhänger besser ist. Durchforste Ebay. Schneide Aleas Nägel. Ich schicke deiner Mutter Fotos, damit sie als Oma eingebunden ist. Ich kaufe Ostergeschenke für deine Neffen. Mein Rücken tut fürchterlich weh, aber ich schaffe es nicht, zur Physio zu gehen, weil … naja. Wann denn?

Und wenn wir dann am Wochenende mal zu dritt spazieren gehen, hast du auch noch die Dreistigkeit, mir zu sagen, dass Aleas Mütze zu klein ist. Ja, Moritz, dann kauf du doch die nächste Kleidergröße? Und wenn ich todmüde am Abend einfach nur noch gegen eine Wand starren möchte, muss ich das Kind auch noch ins Bett bringen.“

„Ich möchte, dass du das Altglas siehst und von alleine dran denkst“

„Ich würde es ja machen, aber Alea mag nicht von mir schlafen gelegt werden“, sagt Moritz.

Himmelherrgott.

„Ja, wenn ich nach fünf Minuten schulterzuckend aus dem Schlafzimmer kommen und aufgeben würde, würde Alea auch bei mir nicht einschlafen. Du musst dich dann auch schon etwas anstrengen und es geduldig versuchen“, erwidere ich.

Er redet sich um Kopf und Kragen. Ich kann mich kaum konzentrieren. Am liebsten möchte ich rausrennen, „Feist“ auf Spotify anschmeißen, dramatisch weinen und zu meiner Mama flüchten.

„Ich habe letzte Woche sogar den Tritt rausgeholt, wie du mich drum gebeten hast, das alte Kindergeschirr vom Kleiderschrank zu holen“, sagt Moritz verzweifelt. Anscheinend erwartet er für diese minimale Tätigkeit noch tagelang Applaus.

„Ja, korrekt“, sage ich. „Und danach hast du ihn nicht weggeräumt. Alea ist drauf herumgeklettert und ich durfte mich danach um eine blutige Lippe kümmern. Außerdem möchte ich dich nicht an das Kindergeschirr erinnern. Du sollst selber ans Kindergeschirr denken. Ich möchte dich nicht ermahnen, das Altglas wegzubringen. Ich möchte, dass du das Altglas siehst und von alleine dran denkst. Das kostet mich doch auch Enegrie, Moritz. Ständig für dich mitzudenken. Ich bin eigentlich schon damit überfordert, ein Kind den ganzen Tag wettergerecht anzuziehen und Snacks mitzuschleppen. Ich kann nicht mehr. Ich bin müde. So müde“.

Die ewige Frage der Mütter: Schlafen oder Me-Time?

Stille. Er denkt nach, versucht seine Worte weise zu wählen. Unweise sagt er dann: „Du sagst, du bist müde, Mia. Aber wenn ich dir über den Rücken streichele und dir rate, schon um 21:00 Uhr ins Bett zu gehen, daddelst du doch weiter am Handy rum“.

Diese ewige Entscheidung, ob man als Mama Schlaf oder Me-Time wählt, wird ihm wohl immer schleierhaft bleiben. Denn seit er Papa ist, hat sich sein Leben nicht um 180 Grad gedreht.

„Was ist mit meinen Wünschen?“, fragt er mich. „Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass ich mir vorstellen könnte, wieder in die Heimat zu ziehen. Meine Eltern könnten dich mit Alea entlasten. Wir hätten auch endlich mal einen Garten und keinen Mini-Balkon. Aber du ignorierst solche Vorschläge einfach.“

Hm. Naja. Wo er Recht hat. Aber wenn ich in sein Dorf ziehe, vereinsame ich noch mehr, als ich es hier, umringt von Hunderttausenden Menschen, eh schon bin. Und ich möchte auch nicht täglich Erziehungsratschläge meines Schwiegervaters hören.

„Ich habe mir das irgendwie anders vorgestellt, weißt du?“, sagt er ruhig. „Ich wollte schon immer zwei Kinder haben, vom ganzen Herzen. Aber auch da setzt du deinen Willen durch. Wenn Mia sagt, es bleibt ein Einzelkind, bleibt es ein Einzelkind“.

Jetzt wird es absurd. Ich möchte sofort zwanzigminütige Sprachnachrichten an meine Freundinnen schicken, wie lächerlich das alles ist.

„Ein zweites Kind?! Ich trage doch schon die Last von einem Kind, ein zweites könnte ich gar nicht mehr stemmen. Unmöglich. Ich möchte das Leben wieder genießen und nicht nur dafür kämpfen, den Tag zu überstehen“.

Wieder Pause. Wir starren beide benommen auf den Tisch.

„Du küsst mich auch anders als früher“, nuschelt Moritz. „Bei unserem letzten Mal warst du auch ganz abwesend“.

CEO of Cock

Hui. Das letzte Mal. Wird es unser letztes Mal – jemals – sein? Der Sex war todeslangweilig. Unmotiviert. Komisch war er. Unbeholfener Sex auf dem Sofa. Das letzte Mal. Kein Vergleich zum ersten Mal. Ironischerweise auch auf einem Sofa. Ich war mir beim ersten Mal sicher, dass ich mein Studium beenden muss, denn meine Haupttätigkeit würde es jetzt sein, den ganzen Tag seinen Penis in mir zu haben. CEO of Cock.

Wir saßen in einer fremden Wohnung. Die Katze seines Kumpels, auf die wir einen Abend aufpassen sollten, war eingeschnappt, weil sie von ihrem Lieblingsplatz vertrieben wurde. Wir wälzten uns auf dem Sofa, die Hände unter unseren Shirts, Moritz’ Latte drückte gefühlt stundenlang durch die Cordhose. Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich fand es tendenziell unhöflich, das Sofa des Kumpels als Liebesnest zu missbrauchen, aber wir waren zu erregt, um uns zurückzuhalten.

Ich habe innerlich gebetet, dass er – bitte lieber Gott – beschnitten sein soll. War er. Gleichzeitig war ich nervös, meine Brüste zu zeigen. Sie sind klein und spitz. Sie könnten nie ein schönes Dekolleté ausfüllen. Sogenannte „Ost-West-Brüste“, jeder Nippel schaut in eine andere Richtung. Mein Arsch ist eine Wucht, doch meine Brüste sind mein wunder Punkt. Als er den BH nervös mit beiden Händen endlich öffnete, schaute er mich an wie an Weihnachten. Ich war der geschmückte Tannenbaum.

Ganz zärtlich hat er meine Nippel mit seiner Zunge begrüßt und ich konnte mich endlich fallen lassen. Der erste Sex war nicht so gut, wie der Sex die Monate darauf noch werden sollte, aber er war so viel besser als jeder andere Sex, den ich bis dahin hatte. Er war liebevoll und heiß zugleich. Noch Tage später machten mich die Erinnerungen an diese Nacht im fremden Wohnzimmer feucht.

Nun – 6 Jahre später – sind nur noch meine Wangen feucht. Die Tränen rinnen herunter.

Scheidung? Probleme ignorieren? Paartherapie? Umzug?

Ich zucke mit den Schultern: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“.

Die Stunden vergehen. Wir schweigen viel. Drehen uns im Kreis. Vorwürfe von links, rechts, oben und unten. Ducken macht keinen Sinn. Jeder Wurf ein Treffer. Wie machen wir weiter? Scheidung? Probleme ignorieren? Paartherapie? Umzug? Ich muss an das verrückte Labyrinth denken, ein Gesellschaftsspiel meiner Kindheit. Wir schieben von einer Seite zur nächsten. Verbauen uns gegenseitig den Weg. Doch dann ist da der eine Baustein, der uns beiden den Gang freiräumt, Luft verschafft, und den Weg zum Schlüssel freiräumt.

„Okay. Bist du sicher?“, frage ich zaghaft.

„Drei Monate. Ich ziehe aus. Keine Verpflichtungen. Freiheit, Nachdenken, Luft holen. Und danach schauen wir weiter“, wiederholt er.

Ich nicke. Und wische die Tränen samt Mascara mit meinem Pulliärmel weg.

„Ist da sicher keine andere Frau, Moritz?“, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. Meine nackten Füße ruhen im Schneidersitz auf meinen Oberschenkeln. Er starrt auf meinen Fuß, nickt in die Richtung. „Versprich mir, dass du in den drei Monaten nicht zum Dermatologen rennst und das Tattoo entfernst, ja?“

Er lächelt verunsichert. Ich schaue hinunter.

38317 in feinen Linien. Unsere Zahl. Ich schüttele den Kopf.

 „Niemals“, sage ich.

Und meine es auch so. Irgendwie.

Die Klingel an der Haustür reißt uns aus dem friedlichen Moment. Die Nachbarin bringt sicher Alea vom Spieldate zurück. Wie soll ich meinem Smartie erklären, dass Papa morgen nicht mehr bei uns wohnt? Dass er abends nicht mehr das Jahreszeitenbuch mit ihr liest und ihr dabei in den Nacken pustet? Oder morgens in der Dusche die Zappelmänner für sie gurgelt? Ich stehe auf Richtung Tür. Ich blicke zurück zu Moritz.

„Ich bin gleich soweit“, sagt er, nimmt die Walnuss und bessert die letzten Kratzer aus.