Zwei fiktive Situationen:

  1. Sophie und Nils studieren Medizin. Zum Studienbeginn sind die Männer in der Unterzahl, denn inzwischen sind ca. 70% aller Medizinstudent*innen weiblich. Nach dem Abschluss verlieren sich beide aus den Augen. Als sie sich 20 Jahre später auf einem Jubiläum wiedersehen, wird klar, dass die gemeinsam begonnenen Karrieren unterschiedlich verlaufen sind. Während Nils als Chefarzt arbeitet, ist Sophie Assistenzärztin. Sie erzählt, dass sie nach dem Studium Mutter wurde und ohne Angebote für Kinderbetreuung und Teilzeitstellen in ihrem Traumjob ein paar Jahre im Pflegedienst arbeitete. Nils ist auch Vater, bei ihm ist seine Frau aber für die Kinderbetreuung zu Hause geblieben. So konnte er weiterhin Geld verdienen und aufsteigen. Sophie freut sich für ihn und ist auch stolz auf das, was sie geleistet hat. Dennoch sehnt sie sich danach, an ähnlicher Stelle wie Nils zu stehen. Dabei weiß sie, dass die Wahrscheinlichkeit – bei derzeitig nur ca. 10% Frauen in Führungspositionen in der Medizin – verschwindend gering ist.
  2. Marie und Ben haben beide eine gleichwertige Mechatronik-Ausbildung abgeschlossen und arbeiten gemeinsam in einer Firma. Es kommt das Thema Gehalt auf und Marie stellt erschreckt fest, dass Ben aus keinem direkt erkennbaren Grund monatlich 200€ Brutto mehr verdient. Für die gleiche Arbeit! 

Dies sind nur zwei Beispiele von vielen weiteren Lebenssituationen, die von geschlechtlicher und finanzieller Diskriminierung geprägt sind. Die Beispiele zeigen, wie sich der Gender Pay Gap in unserer Gesellschaft realisiert. Laut dem Statistischen Bundesamt verdienten Frauen 2020 im Schnitt 18% weniger als Männer. Und wir jubeln jetzt nicht, weil das 1% weniger ist als 2019. 

Bereinigt oder unbereinigt – das ist die Frage

Dann schreien viele auf, dass dieser unbereinigte Gender Pay Gap nicht repräsentativ sei. Denn dieser Wert bezieht sich auf die durchschnittlichen Bruttoverdienste aller erwerbstätigen Männer und Frauen. Dabei üben Frauen häufig Berufe aus, die schlechter bezahlt werden, erlangen seltener Führungspositionen und arbeiten häufiger in Teilzeit. Wie bei Sophie und Nils zu sehen. 

Doch all diese Faktoren sind repräsentativ und strukturell und sollten betrachtet werden. Sie zeigen, dass wahre Entscheidungsfreiheit im Berufsleben für Frauen oft eine Illusion ist. Unabhängig davon zeigt der bereinigte Gender Pay Gap, dass auch bei vergleichbarer Tätigkeit und Qualifikation noch 6% zur gleichberechtigten Bezahlung fehlen. Wie bei Marie und Ben. Die Differenz ist kleiner, aber sie ist da. Wirtschaftsexpertin Henrike von Platen erklärt, dass die 18% die reale Lohnlücke beschreiben und die 6% den unerklärbaren Rest und fragt deshalb: „Müssen wir die Einflüsse, die erklärbar sind, einfach so hinnehmen, weil sie erklärbar sind?“ 

Außerdem gibt es weitere intersektionale Differenzen, die sich nicht nur auf Geschlechter beziehen: Arbeiter*innen mit Migrationshintergrund und People of Color, sowie Behinderte und Mehrgewichtige werden noch weniger vergütet – wenn sie überhaupt für die gleiche Arbeit angestellt werden.

Bei all den Debatten um Gleichberechtigung verlieren wir oft das große Ziel aus den Augen: Macht und Geld müssen gleich verteilt sein. Wenn es um Gleichberechtigung geht, ist es wichtig, nicht nur über soziale und politische, sondern auch ökonomische Gleichberechtigung sprechen. Der Gender Pay Gap ist dabei ein wichtiger Stein, der aus dem Weg zur Gleichberechtigung geräumt werden muss. Diese Ungerechtigkeit betrifft nicht nur Einzelfälle, sondern ist strukturell und es ist wichtig, dies zu erkennen.

Nicht der Ton, sondern die Branche macht die Musik

Arbeitnehmer*innen können den Wert der eigenen Arbeit an vielen Stellen messen: Zwischenmenschliche Bestätigung, Hilfestellung für andere, Ausleben von Leidenschaften, Erlernen von Neuem oder Selbstbewusstseinsstärkung. Der wirtschaftliche Wert und die Anerkennung auf dem Arbeitsmarkt ist aber durch das Gehalt bestimmt. Männer arbeiten traditionell eher in höher bezahlten Branchen wie Ingenieurwesen oder IT, während Frauen eher in niedrig bezahlten Branchen wie Erziehung und Pflege arbeiten.

Durch Corona haben viele Menschen ihr Leben und ihren Job komplett neu überdenken müssen. Wir wissen jetzt mehr, was wirklich wichtig ist und worauf wir verzichten können. Die Pandemie zeigt uns auch, welche Arbeit wirklich wichtig ist – das Wort „systemrelevant“ ist in aller Munde. Krankenpfleger*innen, Erzieher*innen und auch Kassierer*innen konnten nicht einfach ins Homeoffice wechseln. Doch wer arbeitet in diesen Berufen? Genau, mehrheitlich sind es Frauen. Wie werden diese vergütet und wertgeschätzt? Nicht gut. Es geht nicht darum, Frauen in andere, besser bezahlte Berufe zu bekommen. Sondern es geht darum, diese weiblich dominierten Branchen, die gesellschaftlich von großer Bedeutung sind, fairer zu bezahlen.

“Private” Arbeit

Warum ist die Arbeit von Frauen überhaupt weniger wert? Vielleicht weil diese eine institutionalisierte Form der traditionell privaten und weiblichen Arbeit darstellt, die geschichtlich und noch heute unbezahlt ausgeübt wird: Die sogenannte Care-Arbeit.

Oft sind angeblich persönliche Entscheidungen von Frauen von gesellschaftlichen Machtstrukturen und Denkweisen beeinflusst. Viele Frauen übernehmen Berufe in Pflege und Erziehung, da sie flexible Arbeitszeiten und Teilzeitmodelle ermöglichen. Denn diese sind besser mit der größtenteils von Frauen ausgeübten Care-Arbeit vereinbar. Frauen leisten nämlich im Schnitt pro Tag 52% mehr unbezahlte Care-Arbeit als Männer – 87 Minuten pro Tag! Auf das gesamte Leben sind das 18 Jahre mehr! 

Kindererziehung, Pflege von Älteren, Kochen, Putzen, Ehrenamt und die körperliche und mentale Arbeit einer Schwangerschaft. All diese häusliche, „private“ Arbeit, die theoretisch von einer bezahlten außenstehenden Person ausgeübt werden könnte, gilt als unbezahlte Care-Arbeit. Bereits 1884 betonte Friedrich Engels, dass die weiblichen Aufgaben, „Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens“ zur Existenzsicherung als bezahlt geleistete Arbeit für die öffentliche Gesellschaft anerkannt werden sollte. Doch noch immer ist es „Privatsache“, dabei sollte es ein staatliches Interesse an diesem wichtigen Teil der Gesellschaft und Wirtschaft geben. Aus dieser Motivation entwickelte sich auch der feministische, aktivistische Ausspruch: „Das Private ist politisch!“

Diese unterschätzte Arbeit basiert auf veralteten Geschlechterrollen und wird von Frauen mit einem Lächeln und Dankbarkeit erwartet. Sie ist einer der Hauptgründe für die angeblich persönlichen Entscheidungen von Frauen gegen die Karriereleiter und für, wenn überhaupt, eine Teilzeitanstellung. Diese birgt jedoch die große Gefahr, in Altersarmut zu geraten. 

Von unbezahlter Care-Arbeit zur Teilzeitfalle in die Altersarmut

Die Rechnung ist simpel: Frauen verdienen weniger, so können sie weniger sparen oder investieren. Wenn sie Teilzeit arbeiten, zahlen sie weniger Beiträge in die Rentenkassen ein und erhalten weniger Rentenansprüche. So geraten viele Frauen in Altersarmut und bekommen häufig nur bis zu 60% der Rente von Männern. Und das Altersarmutsrisiko steigt unter anderem durch den demographischen Wandel und die Inflation immer weiter. 

Dieser Mangel an Möglichkeiten zeigt auch, dass die Arbeitswelt noch immer auf die Bedürfnisse von Männern ausgelegt ist. Einige Branchen behaupten immer wieder, es bewerben sich zu wenige Frauen auf ausgeschriebene Stellen. Doch dass derartige Berufe nicht darauf ausgelegt sind, Kompromisse mit den Bedürfnissen von vielen Frauen, die unter anderem mehr Care-Arbeit leisten (müssen), einzugehen, wird nicht angesprochen.

Zum Schluss

Es gibt noch viele Lücken in unserer Gesellschaft und im Kampf für Gleichberechtigung aller Menschen. Viele beziehen sich auf wirtschaftliche Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Gender Pay Gap, unbezahlte Care-Arbeit, Altersarmut – all diese Phänomene gehören zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Finanzielle Differenzen zwischen Geschlechtern festzustellen, ist eine hilfreiche Messlatte zur Aufdeckung und Bewältigung von Diskriminierung. Zugang zu Kinderbetreuung, transparente Lohnverhältnisse und faire Gehälter in unterbezahlten, aber systemrelevanten Branchen sind wichtige Mittel, mit denen Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt und in der gesamten Gesellschaft ermöglicht werden können.

Info:

In diesem Artikel wird von Frauen und Männern gesprochen. Natürlich gibt es weitere Personen, die sich dem binären Geschlechtersystem nicht zugehörig fühlen. Doch für den Zweck des Artikels und der bereits bestehenden Komplexität des Themas, liegt der Fokus auf den Bezeichnungen “Männer” und “Frauen”.

Quellen:

Engels, Friedrich (1884): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats 

Von Platen, Henrike (2021): „Gender Pay Gap: Warum Frauen 18% weniger verdienen als Männer“ in: Der herMoney Talk: Geld- und Karrierepodcast für Frauen