geschrieben von Lara Mars – @vonmutterzumutter

2018 änderte sich mein Leben. 2018 wurde ich Mutter. Ich hatte viele Ideen und Vorstellungen davon, wie mein – wie unser – Leben zukünftig aussehen sollte. Bis ein Arzt an meinem Bett saß und nach 15 Minuten unverständlichem Drum-Herum-Gerede die Worte „Chromosomale Veränderung“ aussprach. Ich sah ihn an und fragte: „Wovon reden Sie? Vom Down-Syndrom?“

Das war der Tag nach der Geburt meiner Tochter, die zu dieser Zeit nicht bei mir war. Sie lag auf der Intensivstation. Da war sie knappe 24 Stunden alt, von denen ich keine vier mit ihr zusammen verbracht hatte. 

Kaiserschnitt, danach immerhin eine Stunde mit Papa kuscheln (wofür ich unendlich dankbar bin), während Mama zugemacht wurde. 15 Minuten gemeinsam, bevor endlich jemand darauf reagierte, dass sie viel zu blau war. Sie nahmen sie mit, brachten mich in ein Zimmer. Kurz danach zwei Ärzte an meinem Bett. Alles, was wir hörten: „Verdacht auf Herzfehler. Verlegung.“ 

Zu dieser Zeit sprach keiner aus, was alle sahen. Wir allerdings noch nicht. Viel zu beschäftigt waren wir mit all dem, was auf uns einprasselte. Ein Krankenwagen für sie, eine Stunde später einen für mich. Dazwischen mein Mann in unserem Auto, der die schlimmste Fahrt seines Lebens alleine bestreiten musste. 

Alles ist anders

Entwarnung. Dem Herzen geht es gut. Trotzdem Intensivstation, weil die Sauerstoffsättigung nicht gut ist. Ich durfte erst zu ihr, als ich ohne Kreislaufzusammenbruch im Rollstuhl sitzen konnte. Das dauerte bis zum Abend. 15 Minuten. Länger machte es mein Körper nicht mit. In der Nacht gab es nur das Surren der Milchpumpe und stumme Schluchzer. 

Und am nächsten Tag dann dieser Arzt da an meinem Bett, der nicht auf meinen Mann wartete. Der mir viele Hoffnungen machte, dass alle sich irrten. Diese Hoffnung zerstörte eine junge Assistenzärztin vier Tage später, als sie stehend vor uns, während wir im Großraum der Intensivstation zwischen anderen Eltern saßen, sagte: „Ah ja, der Gentest war ja auch positiv. Haben Sie sonst noch Fragen?“

So war der Start in unser Familienleben. Es war auf so viele Weisen anders als das, was ich mir ausgemalt hatte. 

Wo bleibt der Rettungsring?

Wir haben während der Schwangerschaft keine Tests gemacht. Ich hatte mich bewusst dagegen entschieden. Mein Mann stand voll und ganz hinter dieser Entscheidung. Ich bin der Überzeugung, dass Wissen immer auch einen Preis hat. Darüber sollte man sich vorher bewusst sein und sich ganz genau überlegen, ob man diesen zahlen kann und will. Ich wollte das nicht. Auch wenn ich ganz sicher sagen kann, dass ein Abbruch für uns sowieso niemals zur Debatte gestanden hätte.

Das ändert aber nichts daran, dass uns die Diagnose erst einmal den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Zwischen Angst und vielen stigmatisierten Bildern und Gedanken stürzte ich in einen Strudel der Hilflosigkeit, weil niemand drum herum die richtigen Worte fand, um mir einen Rettungsring zuzuwerfen.

Wir fingen uns schnell. Mein Mann noch schneller als ich. Er stand schon zwei Tage nach der endgültigen Diagnose einer Psychologin gegenüber und sagte: „Ist doch großartig: Meine Tochter passt nicht in dieses verdammte System rein.“

Worin wir nicht eine Millisekunde wankten, war und ist die Liebe zu unserer wundervollen Tochter. 

#nothingdownaboutit

Doch die Art, wie mir, wie uns die Diagnose mitgeteilt wurde – die kostete mich eine Menge Aufarbeitung. Es half mir sehr, als ich den wirklichen sozialen Nutzen von sozialen Medien entdeckte. Doch musste ich dort fest stellen, dass unsere Geschichte kein Einzelfall war und ist. Unbeholfene Ärzt*innen, mitleidige Blicke, unpassende Worte. So viele andere Familien erzählen Geschichten, die unserer ähneln. 

Für die Aufklärung über das Leben mit Down-Syndrom gibt es meiner Meinung nach keinen besseren Ort, als Instagram. All die Familien, die uns ein bisschen das Fenster öffnen und reinschauen lassen. Hashtags wie #theluckyfew #nothingdownaboutit #downsyndrombereichert löschten die veralteten und stigmatisierten Bilder aus meinem Kopf und besiedelten meine Gedanken an die Zukunft mit wundervollen Vorstellungen und Ideen. 

So saß ich eines Abends, ein paar Monate nach Tildas Geburt auf dem Sofa, blickte auf mein schlafendes Baby und dachte zurück an jene ersten Tage. Und in meinem Kopf entstand eine Idee:

Was wäre, wenn es direkt nach der Diagnose etwas gäbe, das Mütter mit unter die Bettdecke nehmen könnten? Etwas, das ihnen zeigt und sagt, das sie nicht alleine sind? Das sie sich für ihre Gedanken nicht schämen müssen? Das ihnen zeigt, dass es gut werden wird? Anders als gedacht, aber gut!

Ein Heft voller Lebensfreude und Liebe

Das war die Geburtsstunde vom Projekt „Von Mutter zu Mutter“. Ein Heft, in dem sieben Mütter und mittlerweile in der dritten Druckauflage auch drei Väter, sich selbst einen Brief geschrieben haben. Ihrem eigenen Ich am Tag der Diagnose, aber mit dem Wissen von 1,5 – 16 Jahren nach der Geburt. Mit dem Wissen, wie ihr Leben nach der Diagnose weiter geht. Wie toll es wird und welche unglaublichen Erfahrungen und Erkenntnisse auf sie warten. Und auch mit dem Wissen, dass jeder Gedanke, egal wie düster er ist, ein Teil der Trauerarbeit ist, die wir alle – unterschiedlich schnell – bewältigt haben, weil es eben dazu gehört.

Ein Heft, gefüllt mit ehrlichen Worten von Menschen, die in genau der gleichen Situation waren. Ein Heft gefüllt mit Bildern voller Lebensfreude und Liebe. Ein Heft voller Empathie. Eine Umarmung, wenn sonst keiner da ist, der die richtige Umarmung geben könnte.

Vorgestellt haben wir die Idee zum Welt-Down-Syndrom-Tag am 21. März 2020. Es dauerte keine 24 Stunden bis der PayPal MoneyPool das erste Sammelziel erreicht hatte und der erste Druck beauftragt werden konnte. 

In den folgenden Monaten fanden sich über 160 ehrenamtliche Botschafter*innen, die die Hefte gezielt an Kliniken, Pränatal-Praxen, Gynäkolog*innen und Hebammen brachten. Allen Corona-Bestimmungen zum Trotz schafften sie es, die Ärzt*innen und das Pflegepersonal persönlich anzusprechen und die Hefte oft sogar persönlich abzugeben. 

Das hätte ich mir nicht zu träumen gewagt

Nach ein paar Monaten beendete ich die Botschafterphase und ging offensiv in die Pressearbeit über. Die Liste der Berichte ist mittlerweile lang. (WDR, Bayern2, FAS, WAZ, RND, Bild der Frau, Baby und Familie, Hebammenforum, VdK, diverse regionale Tageszeitungen und so weiter.)

Das alles und vor allem die Verbreitung über Instagram haben es möglich gemacht, dass das Heft mittlerweile schon 17.000 Mal gedruckt wurde. In ganz Deutschland sind die Hefte verteilt, liegen auf den Nachttischen von Betroffenen, in den Schubladen von Ärzt*innen, in den Taschen von Hebammen und den Wartezimmern von Gynäkolog*innen, Frühförderstellen, Kinderärzt*innen und auch in den Händen von Studierenden und Auszubildenden im sozialen und medizinischen Bereich.

Das hätte ich damals in dieser Nacht, als ich auf mein schlafendes, wunderschönes Baby blickte, niemals zu träumen gewagt. Neben vielen Anfragen für die Hefte, kommen fast täglich auch Danksagungen bei mir an von Müttern, Vätern, Omas, Opas, Tanten, Onkeln, Freund*innen und Fachpersonal. Alles Menschen, die sich dafür bedanken, dass wir ihnen mit diesem Heft einen anderen Blickwinkel – einen Perspektivwechsel – geben konnten. Menschen, die besser in der eigenen Situation ankommen. Menschen, die sagen, dass sie ihrem Job nun besser nachgehen können, weil sie besser verstehen, was im Gegenüber vor sich geht. 

„I will change the world!“

Manchmal werde ich gefragt, wie Außenstehende reagieren sollen. Eigentlich ist es ganz einfach: 

  1. Gratuliert zum Baby (wenn es schon da ist oder die Entscheidung getroffen ist, es zu behalten)
  2. Fragt die Eltern, wie es ihnen geht. Nicht mit einem mitleidigen Blick, sondern mit ehrlichem Interesse und hört zu. 
  3. Wenn sie es noch nicht haben, dann bestellt gerne eines unserer Hefte und gebt es ihnen.

Vor nicht allzu langer Zeit schrieb mir eine junge Frau, die das Heft für ihre Freundin bestellt hatte, dass die Übergabe dieses Hefts einer der wundervollsten Momente ihrer Freundschaft war. 

Auf Tildas Geburtskarte ist ein Foto von ihr in einem sehr viel zu großen T-Shirt, auf dem steht: „I will change the world!“ Das war auch das erste Bild, das ich von ihr auf Instagram hochgeladen habe. Oh girl – wie du das schon getan hast. Dabei bist du gerade mal drei Jahre alt!

Warum Darum mache ich das alles!

Ich stecke eine Menge Zeit in das alles. In das Projekt und auch in Instagram und oft frage ich mich: Warum mache ich das eigentlich alles?

Und dann kriege ich eine Nachricht, wie diese: „Danke. Ihr habt den bösen Google Doktor aus unseren Nächten verdrängt und uns immer ein Lächeln auf die Lippen gezaubert.“

Und die Nachricht, dass unsere Arbeit – sowohl mit dem Heft, wie auch auf Instagram, dazu beigetragen hat, dass sich jemand gegen eine Abtreibung entschieden hat, kam auch schon mehr als einmal. 

Ganz sicher ist mein Leben anders, als ich es mir einst ausgemalt habe, aber es ist kein bisschen weniger schön. Eher noch viel schöner, als ich es jemals erwartet hätte.

Wenn ihr mehr über “Von Mutter zu Mutter” erfahren möchtet, hier kommt ihr zur Webseite und hier findet ihr Laras Instagramprofil.