geschrieben von Svenja Schober
„Da drüben…Wickelraum!“ „Nein, wir müssen auf die Toilette…der Kleine muss mal.“ „Da drüben…Wickelraum!“ Die Stimme der Reinigungskraft wird lauter und drängender. „DA DRÜBEN…WICKELRAUM!“ Umstehende Passanten drehen sich zu uns und beobachten die Szenerie. „Bitte! Ich brauche keinen Wickelraum…ER MUSS MAL! Wenn sie mich nicht gleich reinlassen, dann ist es zu spät!“
Er, das ist Finn, geboren im Mai 2019 und mein erstes Kind. Ich bin Svenja, 31 Jahre alt und von Beruf Zollbeamtin. Zahlen, Fakten, Beweise – das ist meine Welt. Nebenberuflich bin ich selbstständig, nenne mich „Birth Bee“ und mache u.a. Windelfrei-Beratungen. Meine Berufe eint eine Sache – es braucht Menschenkenntnis und Fingerspitzengefühl.
Seit mein Sohn 6 Monate alt ist praktizieren wir (Teilzeit-) Windelfrei. Der Begriff ist irreführend, denn Finn darf, wie alle Windelfrei-Babys, natürlich Windeln tragen. Windelfrei-Eltern nennen sie allerdings lieber Backup. Der englischsprachige Begriff „Elimination Communication“, also Ausscheidungskommunikation, trifft es wesentlich besser, ist aber auch sehr sperrig.
Unsre Windelfrei-Laufbahn begann damit, dass Finn mir bei ziemlich jedem Wickeln eine kleine „Live Show“ geliefert hat. Kaum war die Windel offen, wurde losgepieselt oder gedrückt. Im schlimmsten Fall hatte ich zu dem Zeitpunkt die frische Windel schon unter seinen Popo geschoben. Ein Wickelvorgang bedeutete deshalb oft mehrere volle Windeln. Und dies wiederum bedeute einen immer vollen, stinkenden Windeleimer, hohe Kosten für eine größere Mülltonne und die vielen schmutzigen Windeln und ein schlechtes Gewissen gegenüber unserer Umwelt.
Irgendwann kam mir der Satz meiner Hebamme aus dem Geburtsvorbereitungskurs in den Sinn: „Haltet eure Babys beim Wickeln mal über die Toilette – sie machen ganz bestimmt Pipi oder Kacka!“ Und genau das habe ich gemacht – ich habe gehalten, Finn hat gedrückt (mit Erfolg) und wir haben uns gefreut.
Windelfrei ging bei uns also definitiv vom Kind und nicht von der Mama aus. Und genau das ist die Basis der Methode – die sowieso vorhandene Mutter-Kind-Bindung, die Kommunikation zwischen den Beiden, das Vertrauen. Windelfrei soll kein neumodischer Mütter- Wettkampf sein, es gibt keine Medaille für die meisten trockenen Windeln. Es geht auch nicht darum, dass die Kinder so früh wie möglich trocken sind (was allerdings oft vorkommt), sondern die Bedürfnisse des Kindes sollen wahrgenommen und befriedigt werden.
Am Anfang war ich einfach nur stolz – aber auch verwirrt. Ich las nächtelang heimlich alles was das Internet hergab, schaute Youtube-Videos und probierte verschiedene Abhaltepositionen. Meinem Mann habe ich erst Wochen später und ganz vorsichtig davon erzählt… er war sehr skeptisch und überlies das Abhalten anfangs vor allem mir, aber spätestens seit Finn aufs Töpfchen geht berichtet er überall stolz von seinem windelfreien Sohn.
Ein Töpfchen oder Windelfreibekleidung sind gerade am Anfang nicht unbedingt nötig. Es reicht, sein Baby zu beobachten (aber das macht man als frischgebackene Mama doch sowieso rund um die Uhr) und offen zu sein.
Viele denken jetzt vielleicht:
- „Oh Gott, den Stress tu ich mir nicht an“
- „Das ist nur was für Vollzeit-Öko-Muttis, denen es egal ist, wenn die Kinder überall hinmachen!“
- „So ein Quatsch, das ist alles antrainiert bzw. Zufall“.
Schauen wir uns diese Aussagen mal etwas genauer an:
- Bedeutet Windelfrei mehr Stress?
Ich frage die Eltern in den Beratungen oft, ob sie einem Dreijährigen noch jeden Tag den Popo sauber machen wollen oder mit einem Säugling tagelang bei Ärzten, Apothekern, etc. nach Lösungen für Bauchweh, Stillprobleme, etc. suchen wollen? Für mich wäre das definitiv mehr Stress. Windelfrei spart Zeit für mühevolles Umziehen nach einer übergelaufenen Windel oder die Suche nach einem Wickelraum.
- Ist Windelfrei nur etwas für Öko-Vollzeit-Muttis?
Dazu ein ganz klares NEIN! Windelfrei funktioniert auch mit Wegwerfwindeln, aber jede eingesparte Wegwerfwindel ist gelebter Umweltschutz.
Klar passiert mal ein Missgeschick, aber dann tritt das Windelfrei-Motto Nr. 1 in Kraft:
Lächeln, (Auf-) Wischen und Weitermachen!
Grundsätzlich gilt: Kein Mensch möchte gerne in seinen Exkrementen sitzen. Werden in Pflegeheimen alten Menschen aus Zeitmangel Windeln angezogen, gibt es (berechtigterweise) einen Aufschrei. Aber Babys gewöhnt man 3 Jahre lang an, in die Windel zu machen, dann sollen sie aber bitte problemlos und zuverlässig aufs Töpfchen oder die Toilette gehen? Wer sein Kind erst gar nicht an eine Windel gewöhnt, muss es Jahre später nicht wieder davon entwöhnen, oder?
- Zu guter Letzt: „So ein Quatsch, das ist alles antrainiert bzw. Zufall!“
Das hören Windelfrei-Eltern andauernd, dabei kommunizieren Babys ab der Geburt verbal und nonverbal, aber vor allem instinktiv ihre Bedürfnisse. Und was ist mit dem Argument, dass das Verhalten nur antrainiert wäre? Kein Baby erleichtert sich, nur weil es die Toilette oder das Töpfchen sieht. Eher ist es so, dass die Eltern trainiert werden, die Signale wahrzunehmen und zu befriedigen.
Zu guter Letzt wird auch noch oft angeführt, Windelfrei könne gar nicht funktionieren, da Kinder erst mit ca. 1,5- 2 Jahren ihren Harndrang überhaupt wahrnehmen und auch erst mit 2 Jahren die Kontrolle über ihren Schließmuskel hätten. Studien dagegen zeigen, dass Windelfrei funktioniert. Ein Beispiel: Im Jahre 2000 drückte ein Forscherteam Neugeborenen auf ihre volle Blase und stellte fest, dass sie sich nicht manuell entleeren lassen. Eine Schließmuskelkontrolle ist also von Anfang an vorhanden.
Und wie funktioniert das Ganze nun? Grob gesagt, sollte man sein Baby anfangs einfach viel nackig spielen lassen und beobachten, um zu erkennen, welche Signale es gibt, bevor es ausscheidet. Sobald man die Signale seines Kindes kennt, sollte man es immer dann, wenn das Baby das Signal „zeigt“ an einem geeigneten Platz (Toilette, Töpfchen, Duschwanne, offene Mullwindel …) abhalten. Es gibt auch sogenannte Standardsituationen, z.B. nach dem Aufwachen, in denen man abhalten kann/soll. Der beste Ort und die beste Abhalteposition ist diejenige, die am besten zum Baby und den Eltern passt und deshalb unglaublich vielfältig.
Du denkst, dass es total schwierig ist, zu erkennen, wann dein Baby muss? Oder die Signale deines Kindes sind für dich nur schwer oder gar nicht zu erkennen? Eine Windelfrei-Beratung könnte euch dabei helfen, die von Baby zu Baby unterschiedlichen Signale zu erkennen oder dir das Abhalten in Standardsituationen oder „nach Timing“ erklären. Eine Beraterin kann dir auch die verschiedenen Abhaltepositionen zeigen oder den Dschungel an Windelfrei-Zubehör lichten.
Mein Wunsch wäre es, dass Windelfrei-Beratungen genauso normal werden, wie eine Stillberatung oder der Besuch beim Kinderarzt. Die zugrundeliegenden Probleme sind nämlich oft dieselben, aber Windelfrei könnte oft eine – außer Acht gelassene – Lösung sein.
Svenja findet ihr hier.
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