geschrieben von Alina Pelling
Viereinhalb Monate sind vergangen, seit ich erfahren habe, dass ich eine Jungsmama bleiben werde. 19 Wochen, in denen kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht denke: Krass, du wirst nie eine Tochter haben. Was mich stolz und zuversichtlich macht: Jeden Tag tut es ein Stückchen weniger weh. Wie sehr behutsames Abstillen. Muttermilchentzug für den Herzenswunsch.
Vieles hat geholfen, am meisten der Mix aus allem: Psychotherapie, Hypnose-Sitzungen, ein Buch über Geschlechtsenttäuschung, Gespräche mit Freunden und Familie. Und die immer stärker werdenden Tritte im Bauch. Oxytocin regelt. Danke, du wundervoller Körper. Dennoch war nichts wichtiger und nötiger, als mich um meine Seele zu kümmern.
Als ich das erste Mal bei der Psychotherapeutin sitze, weine ich schon bei der Frage, was mich denn herführt? „Mein zweites und letztes Kind wird wieder ein Sohn“,antworte ich. Schluchzen, Stottern, Rotznase. Ein bisschen aus Trauer, ein bisschen aus Scham, ein bisschen aus Stolz, dass ich den Schritt für mich und mein Baby gegangen bin. Sie fragt mich zunächst Dinge, die mir völlig sinnlos erscheinen. Über meine Ausbildung, über meine Familie, über meine Führerscheinprüfung. Was hat es mit meinem Schmerz zu tun, dass ich mit 18 Jahren nicht rückwärts einparken konnte?
Kontrollverlust & Akzeptanz
Die Therapeutin gibt mir zunächst gar keine klugen Antworten oder Lösungen, aber ich muss zugeben, dass es mir alleine schon hilft, dass sie wertungsfrei zuhört und mehr und mehr Fragen stellt, über die ich lange grübeln muss. Auf dem Weg zur zweiten Sitzung klappere ich bereits beschwingt auf dem Fahrrad über das Kopfsteinpflaster und frage mich, ob ich überhaupt noch weitere Stunden brauche. Mir geht’s ja schon deutlich besser. Als ich mich zum zweiten Mal in den Stuhl setze und sie mich fragt, wie es mir denn geht, fange ich wieder sofort an zu weinen. Und muss gleichzeitig über mich lachen. Wie schnell dachte ich, kann ich heilen?
Nach drei Sitzungen betont sie, dass sie selten Patienten auf dem Sessel sitzen hat, die so eine liebevolle Kindheit hatten wie ich. In meinem Leben sei alles nach Plan gelaufen, irgendwie habe ich immer die Kurve bekommen. Ein Glückspilz, der immer noch alles richten konnte, was augenscheinlich schief ging. Nun würde der Kontrollverlust mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Sie attestiert mir eine depressive Episode. So wie es oft Menschen haben, die um einen geliebten Menschen trauern, oder wie Leistungssportler, die in ein tiefes Loch fallen, wenn ihr Traum, den sie immer irgendwie im Kopf hatten, plötzlich unerreichbar ist. Sie sagt, mein Geist muss dringend lernen, zu akzeptieren, was nicht änderbar ist.
Wahrscheinlich hat der Labormitarbeiter einfach meine Testergebnisse vertauscht
Tatsächlich habe ich die letzten Monate oft gegrübelt, wie ich mein Mädchen doch noch bekommen kann: Einfach mehr Kinder bekommen? Ausgeschlossen. Vielleicht nach Zypern reisen, denn dort ist es legal, sich das Geschlecht der befruchteten Eizellen auszusuchen? Ausgeschlossen.
Unzählige Male googel ich: „Bluttest Geschlecht falsches Ergebnis“, in diversen Sprachen mit Übersetzer. Ich durchforste Foren, um meine Hoffnung zu füttern. Wahrscheinlich hat der Labormitarbeiter einfach meine Testergebnisse vertauscht. Wahrscheinlich hat die Frauenärztin XX und XY beim Vorlesen vertauscht. Vielleicht hat mir die Ärztin beim Ultraschall auch absichtlich gesagt, dass sie einen Penis sieht, weil sie möchte, dass ich bei der Geburt überrascht werde. Ich male mir die kuriosesten Szenarien aus, damit ich nachts besser schlafe. In meiner Verzweiflung und all dem Schmerz hilft mir am Ende in erster Linie die Hypnose. Meine Hebamme empfiehlt mir jene Geburtshelferin, die auch gelernte Psychotherapeutin ist, aber vor allem als Hebamme mit der Hypnosetechnik Frauen mit traumatischen Geburten, mit Ängsten oder Bindungsproblemen zum Baby verhilft.
Hypnose und Gender Disappointment
Ich finde mich wieder in einem efeubewachsenen Anbau in einem Innenhof. Gemütliches Licht, warme Socken von der Heizung, ein Schlafsofa mit Stillkissen, Tee und ein offenes Ohr. Pro Sitzung wird eine Stunde geredet, ähnlich der Therapie. Über Gefühle, Ängste, wann der Schmerz auftritt, Sorgen.
Dann ist man eine knappe Stunde in Hypnose. Und mit Hypnose ist nicht eine spektakuläre Bühnenshow gemeint, in der man plötzlich umkippt und völlig die Kontrolle verliert. Bei der Hypnose geht es vielmehr um Tiefenentspannung, dieser Zustand, kurz bevor man einschläft, in dem man schon Bilder vor dem Auge hat, aber noch ansprechbar ist. In dieser Art Trance befinden sich die Gehirnwellen in einem ganz anderen Frequenzbereich als im Wachzustand, in dem der rationale Kopf regiert. In der Hypnose ist das Unterbewusstsein besonders offen für Lösungen oder „andere“ Bilder.
Wie hat mir die Hypnose also geholfen? Ich erkläre das Freundinnen gerne mit dem Film „Inception“ mit (der hot bitch) Leonardo DiCaprio. In dem Blockbuster werden Menschen fremde Bilder ins Unterbewusstsein gepflanzt. Irgendwie hat mich die Hypnose immer daran erinnert. Zum Beispiel hat mich die Hebamme in diesem träumerischen Zustand immer in ein Haus in Dänemark geschickt, in dem ich früher oft Urlaub gemacht habe. Dann kommen meine beiden Söhne, noch im Grundschulalter, auf mich zugerannt, setzen sich auf meinen Schoß, erzählen von ihrem Liebeskummer und legen ihre Köpfe auf meine Schulter. Szenen, die ich mit zwei Töchtern verbinde und vor denen ich fürchte, sie niemals mit zwei Buben erleben zu dürfen.
In einer anderen Szene fragte mich die Hypnose-Hebamme, wann in meiner Kindheit oder Jugend ich mal so richtig überrascht wurde und unendlich glücklich war. Die Szene rufen wir hervor, erinnern uns intensiv an das Gefühl in der Brust damals. Und dann zeigt sie mir eine Situation, die so nie stattgefunden hat: „Nun liegst du auf dieser Liege beim Frauenarzt, das Ultraschallgerät auf deinem Bauch, und die Ärztin sagt dir lächelnd, dass ihr noch einen Jungen bekommt. Und du freust dich wahnsinnig. Du strahlst und spürst die Freude und Neugierde und Euphorie, genau wie damals in deiner Kindheit“. So in der Art.
Wir wechseln immer zwischen tausend Bildern, wahrhaftigen Erinnerungen, Wunschvorstellungen, und bleiben aber auch bewusst beim Schmerz, fühlen ihn, geben ihm eine Farbe etc. Viele Tränen fallen bei den Sitzungen unter meiner Schlafmaske. Am Ende der Hypnose visualisieren wir meine nicht-existente Tochter: Wie würde sie aussehen? Wie würde sie heißen? Dann bastele ich ihr ein Geschenk, verabschiede mich von ihr und lasse sie zwischen Sternen und Planeten verschwinden, oder welches Bild auch immer gerade im Traumzustand kommt. Eine Szene, bei der ich anfangs immer sehr geschluchzt habe, und die ich nun ohne eine Träne auf der Wange durchlebe.
Neid, weil sie eine Tochter bekommt
Ja, es klingt alles ein bisschen alternativ. Es hat mir persönlich sehr geholfen. Einfach, dass ich bei dem Gedanken an zwei Söhne ein wohliges Bauchgefühl bekomme. Selten in meinem Leben war ich so tief entspannt und gleichzeitig höchst konzentriert wie bei der Hypnose. Nach den Sitzungen in meinem Beruf zu arbeiten war für mich – zumindest für ein zwei Stunden – unmöglich. Ich musste erstmal runterkommen, wie von einem aufwühlenden Kinofilm. Als wäre ich in einen Pool voller Emotionen gesprungen, und nun muss man sich erst anziehen und föhnen, bevor die Realität wieder ruft.
Seit 2006 ist Hypnose übrigens vom wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) in so gut wie allen definierten Anwendungsbereichen als wissenschaftliche Methode anerkannt und wird oft bei Angststörungen eingesetzt.
In beiden Therapieformen habe ich außerdem viel über Neid gesprochen. Denn egal ob Urlaube, Wohnungen, Gehalt: Ich bin immer nur ein paar Sekunden neidisch auf Mitmenschen, und danach ist es mir einfach egal. Denn ich bin extrem zufrieden mit dem Leben, das ich führen darf. Doch wenn Schwangere verkünden, dass es ein Mädchen wird, merke ich den Neid sofort intensiv im Hals. Und der missgünstige Scheißer macht sich selten vom Acker.
Die Therapeutin hat dann immer gesagt: „Man kann sich im Leben keine Rosinen rauspicken. Frage dich immer, wenn du neidisch bist: Würde ich das gesamte Bild tauschen? Würde ich nicht nur die Tochter gerne haben, sondern auch den Mann dazu oder die Arbeitszeiten oder die Nase derjenigen?“Es hilft mir sehr, dass sich der Neid verflüchtigt. Noch nie wollte ich das Gesamtpaket tauschen.
Bergauf, Stück für Stück
Ich kann auch wieder voller Vorfreude und Liebe die Hand auf den Bauch legen. Das war vor wenigen Monaten noch undenkbar für mich. Ich mache Fotos von meiner Kugel im Spiegel. Mein Herz hüpft, wenn ich sehe, wie er im Ultraschall am Daumen nuckelt. Ich möchte ihn sofort im Arm haben, ihn riechen, ihm einen Namen geben. Und trotz allem gibt es immer wieder Situationen, in denen ich durchatmen muss und die Enttäuschung spüre. Nicht mehr so schmerzhaft wie früher, aber ich spüre sie dennoch.
Trauer ist eine Pfütze
Eine liebe Freundin von mir kommt aus der Trauerarbeit mit Kindern. Sie nutzt gern das bekannte Bild der Pfütze. Kinder springen gerne in Sekundenschnelle in die Trauerpfütze, spüren den Schmerz, aber springen auch plötzlich wieder heraus und scheinen den Verlust vergessen zu haben. Ich fühle dieses Bild sehr.
Ich bin an sehr guten Tagen, an Tagen der absoluten Vorfreude auf meinen Frühlingsjungen, auch schon in einige Pfützen gesprungen. Wenn plötzlich ein Lied über Liebeskummer läuft und der Text dich nicht mehr an den Ex denken lässt, sondern an das Kind, dass du nicht mehr bekommen wirst. Oder wenn ich süße Mädchennamen lese, die ich nie vergeben werde. Oder an Karneval, als mein Sohn als „Wetter“ gehen wollte und wir ihm zwischen Regenbogen-Body und Regentropfen-Hose eine Wolke aus Tüll genäht haben.
Schon beim Erzählen darüber sagten uns Verwandte, ob wir ihn nicht lieber als Polizisten in die Kita geben wollten. Oder: „Im Keller liegt doch auch noch das Geisterkostüm“. Mich hat diese ganze Diskussion wahnsinnig gemacht. Sie hat mich getriggert. Hätte ich eine Tochter, hätte ich ihr anziehen können, was sie wollte (abgesehen vielleicht von einem Stripperin-Kostüm). Selbst bei Handwerkerin hätte die Verwandtschaft gefühlt stolz genickt: Ach Mensch, was für ein cooles Mädchen. Aber ein Junge in Tüll als Wolke? Ein Affront. Mein Schwiegervater hat abends sogar eine Whatsapp-Nachricht geschrieben, „seinen Enkel als Ballettratte zu sehen, ist zum Abgewöhnen“. Obwohl ich zu 150 % hinter diesem Kostüm stehe, war es ein harter Tag. Defintiv ein Pfützentag.
Zwei Dinge haben mich außerdem weiter nach vorn gebracht: Ich habe in früheren Artikeln schon einmal von dem Song geschrieben, den ich mit meiner ersten Schwangerschaft verbinde. Es war erster Lockdown, eine harte Zeit als schwangere Selbstständige. Nach tagelangen Sorgen über Gesundheit und Finanzen saß ich verträumt am Frühstückstisch und hörte Hamburgs Oldie-Sender. The Stranglers trällerten: „There’s always the sun, always. Always. Always the suuun.“ Von da an wusste ich, dass alles gut werden wird. Ich habe diesen Song letztens wieder beim Autofahren gehört. Und da musste ich doch ziemlich lächeln. Vielleicht war unser Lied schon immer „Theres always the son. Always the son“.
Und die letzte Zutat im Cocktail meiner mentalen Gesundheit seid: ihr. Nina hat mir so viele Leserzuschriften anonym weitergeleitet. Wenn ihr wüsstet, wie gleich wir fühlen. Dass wir mit unseren Gedanken nicht alleine sind. In schlaflosen Nächten habe ich mich immer wieder durch die Screenshots geklickt. Danke an jede Einzelne, die ihr Mitgefühl oder ihre eigene Geschichte runtergetippt hat!
Die Last von Gefühlen schrumpft damit nicht, aber wird manchmal auf mehrere Schultern verteilt. So fühlt sie sich leichter an. Jede Mama, die genauso emotional die Nachricht der Frauenärztin über Eier oder Eierstöcke entgegengenommen hat, trägt ein paar Milligramm. Und irgendwann, das hoffe ich mit ganzem Herzen, werden wir Gender Disappointment als schwerelos empfinden.