anonym geschrieben
Mädchen oder Junge? Viele Elternpaare haben einen Wunsch zum Geschlecht ihres Babys. Mit der Shettles-Methode soll die Geschlechtswahl möglich sein.
Ein Artikel auf aempf.de hat für viel Aufmerksamkeit und Diskussionen gesorgt. Unsere Kollegin Alina schilderte in dem Blogbeitrag „Ich liebe meinen Sohn, aber ich wünschte, ich hätte eine Tochter“, wie sehr sie sich ein Mädchen gewünscht hatte und wie sehr sie damit zu kämpfen hat, einen Sohn bekommen zu haben. „Gender Disappointment“ ist das Wort für dieses Gefühl, das wohl viele Elternpaare kennen.
Alina liebt ihren Sohn über alles, niemals würde sie ihn wieder hergeben wollen. Doch tief in ihr ist da noch immer dieser Wunsch nach einem Leben als Mädchen-Mama. Jetzt wollen sie und ihr Partner ein zweites Baby bekommen. Wird es diesmal ein Mädchen werden? Alina will es mit der Shettles-Methode probieren.
Shettles-Methode: Was ist das?
Die Shettles-Methode verdankt ihren Namen dem amerikanischen Wissenschaftler Dr. Landrum Shettles (1909–2003), der in seinem Buch „How to Choose the Sex of Your Baby“ von 1970 beschreibt, mit welcher Vorgehensweise es möglich sein soll, das Geschlecht eines Kindes durch den Zeitpunkt der Zeugung zu bestimmen.
Die Methode basiert unter anderem auf der Annahme, dass „männliche“ Spermien mit einem Y-Chromosom kleiner, leichter, schneller und empfindlicher sind als „weibliche“ Spermien mit einem X-Chromosom, die größer, schwerer und langsamer, aber auch robuster und damit langlebiger sein sollen. Wer einen Jungen bekommen möchte, sollte demnach den Geschlechtsverkehr so nah wie möglich auf den Eisprung abstimmen, damit die schnellen „männlichen“ Spermien zuerst ans Ziel gelangen. Wer ein Mädchen möchte, sollte hingegen einen möglichst großen Zeitabstand zwischen Verkehr und Eisprung legen, wobei eine Empfängnis noch möglich sein sollte.
Um die Shettles-Methode anwenden zu können, müsste eine Frau also in der Lage sein, ihren Eisprung zu bestimmen. Dies ist möglich anhand der Beobachtung und Dokumentation verschiedener Faktoren, wie beispielsweise der Körpertemperatur (Basaltemperatur) oder der Beschaffenheit des Zervixsekrets. Wer sich zu den Prinzipien der natürlichen Familienplanung (NFP) informiert und diese Daten in einem Zykluskalender oder mithilfe eines Zykluscomputers wie beispielsweise „Daysy“ dokumentiert, um die unfruchtbaren und fruchtbaren Tage zu bestimmen, hat auf jeden Fall gute Chancen, den Tag des Eisprungs recht genau zu bestimmen.
In dem Artikel „Ich schlafe mit Daysy“ beschreibt Nina, wie Daysy funktioniert.
Shettles-Methode: Erfahrungen
In den Amazon-Kommentaren zu dem Buch von Dr. Shettles finden sich überwiegend Kommentare von Müttern und Vätern, für die die Shettles-Methode scheinbar funktioniert hat.
Ein Vater schreibt 1999: „Ein Kollege hat mir von der Shettles-Methode erzählt. Nach zwei wunderbaren Mädchen wollte ich gerne versuchen, einen Sohn zu zeugen. Ich schenkte meiner Frau dieses Buch zu Weihnachten. Im Februar waren wir schwanger – mit einem Sohn!“ Eine Mutter schreibt 2020: „Nach zwei Söhnen wollten wir diesmal unbedingt ein Mädchen. Wir haben uns strikt an alle Anweisungen gehalten und es hat geklappt!“
Es gibt aber auch enttäuschte Kommentare. Eine Mutter schreibt 2009: „Wir haben die Methode genau studiert und alles so gemacht, wie Shettles es empfiehlt. Ich hatte einen Zyklus wie ein Uhrwerk, zusätzlich habe ich Ovulationstests benutzt, um den perfekten Zeitpunkt für einen Jungen zu bestimmen. Trotzdem haben wir ein Mädchen bekommen.“
Shettles-Methode: Funktioniert das wirklich?
Ist es wirklich möglich, anhand der Shettles-Methode zu bestimmen, ob das Baby ein Mädchen oder Junge wird? Was sagt die Wissenschaft zu diesem Thema? An dieser Stelle ein kurzer Spoiler: nein, ist es nicht. Die Shettles-Methode gilt als widerlegt.
Ausgangspunkt unserer Recherchen zu dieser Frage war das umfassende Buch „Familienplanung“ der amerikanischen Gesundheitswissenschaftlerin Toni Weschler von 2017. In ihrem Buch beschreibt Toni Weschler ausführlich, wie der weibliche Zyklus funktioniert, wie eine Schwangerschaft entsteht und wie dieses Wissen entweder zur natürlichen Empfängnisverhütung oder aber zur Erfüllung des Kinderwunsches genutzt werden kann. In der Ausgabe von 2017 erklärt Toni Weschler auch noch detailliert, wie die Shettles-Methode funktioniert.
Doch schon damals schrieb die Wissenschaftlerin auch, dass die Effektivität der Shettles-Methode in medizinischen Fachkreisen umstritten sei. Entsprechend machte die Gesundheits-Expertin deutlich: „Die Anleitungen von Shettles können die Chancen auf die Zeugung Ihres Wunschgeschlechts erhöhen. Es sei aber noch mal betont, dass sie keineswegs eine Gewähr bieten, dass Ihr Kind tatsächlich wie gewünscht ein Mädchen oder ein Junge wird. Machen Sie sich dies bitte unbedingt klar, um auszuschließen, dass die Geburt Ihres Kindes mit dem Geschlecht Ihrer zweiten Wahl eine große Enttäuschung für Sie wäre.“
Auf der Suche nach aktuellen Studien zur Shettles-Methode stießen wir auf einen Artikel der Seite „myfnp“. Darin schreiben die Autoren ausdrücklich: „Wissenschaftlich ist die Shettles-Methode nicht haltbar. Studien stellen mittlerweile fest, dass es keinen Zusammenhang zwischen Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs und Geschlecht des Kindes gibt.“ Außerdem gebe es Studien, die die Theorie der unterschiedlichen Schwimmgeschwindigkeiten von Spermien hinterfragen und teilweise sogar zu gegenteiligen Aussagen kommen. Sex einige Tage vor dem Eisprung führe nicht zu einem Mädchen, sondern zu einem Jungen. Die entsprechenden Studien stammen aus den Jahren 1984, 1998 und 1995.
Daraufhin schrieben wir Toni Weschler persönlich an und fragten sie, ob sie ihre Meinung zur Shettles-Methode zwischenzeitlich geändert habe. Ihre Antwort war deutlich: Ja, sie habe ihre Meinung zur Shettles-Methode inzwischen geändert und werde das Kapitel zu diesem Thema in der Neuauflage ihres Buches, das voraussichtlich 2027 in Deutschland erscheinen wird, komplett streichen.
Wir baten Toni Weschler darum, genauer zu erläutern, warum sie ihre Meinung zur Shettles-Methode geändert hat. Daraufhin schrieb sie uns: „Leider ist es bei praktisch allen wissenschaftlichen Studien so, dass medizinische Fortschritte, die auf ausgefeilteren Werkzeugen basieren, im Laufe der Jahre bestehende Theorien bestätigen oder widerlegen. Und so ist es bei der Shettles-Methode zur Geschlechtsbestimmung. Im Jahr 2020 wurde ein überzeugender Forschungsartikel veröffentlicht, der die Idee, dass X- oder Y-tragende Spermien in Form, Größe und Motilität unterschiedlich sind, überzeugend widerlegt – und dies sind viele der Parameter, auf denen Dr. Shettles Theorie, über das Timing des Geschlechtsverkehrs die Chancen auf die Empfängnis eines Jungen oder eines Mädchens zu erhöhen, basiert.“
Frontiers | New Biological Insights on X and Y Chromosome-Bearing Spermatozoa (frontiersin.org)
Fazit: Geschlechtswahl per Shettles-Methode ausprobieren?
Auf der Webseite von Dr. Landrum Shettles, die wohl von seiner Tochter Lana B. Shettles-Callahan betrieben wird, zeigt man sich recht unbeeindruckt von den wissenschaftlichen Studien. Dort steht unter anderem zu lesen: „Der Erfolg der Methode, abgesehen von der unabhängigen wissenschaftlichen Validierung, wird durch die Tatsache belegt, dass das Buch nun seit fünf Jahrzehnten ununterbrochen im Druck steht! Das geht nicht ohne ein zufriedenes Publikum und starke Mundpropaganda-Empfehlungen Jahr für Jahr.“
Und weiter: „Dr. Shettles hat nie behauptet, dass die Methode eine 100-prozentige Erfolgsquote hat, aber seine eigenen Studien und eine Umfrage unter denen, die die Methode über einen Zeitraum von Jahrzehnten anwenden, zeigen, dass die Erfolgsquote, wenn die Methode richtig befolgt wird, 70 Prozent übersteigt und sich 90 Prozent nähern kann.“
So oder so ist klar: Eine Garantie für einen Jungen oder ein Mädchen gibt es mit dieser Methode nicht.
Quellen:
„Familienplanung“ von Toni Weschler – Das Standardwerk zur natürlichen Empfängnisverhütung, Kontrolle der Fruchtbarkeit sowie Erfüllung des Kinderwunsches (mvg Verlag, 1. Auflage 2017)
E-Mails von Toni Weschler, 2020
Ich liebe meinen Sohn, aber ich wünschte, ich hätte eine Tochter – aempf Magazin
Ich schlafe mit Daysy – aempf Magazin natürliche Familienplanung nach Baby?
https://www.mynfp.de/junge-oder-maedchen
Shettles Methode – Geschlecht des Kindes beeinflussen (trainyabrain-blog.com)
Gender of Infants Conceived on Different Days of the Menstrual Cycle | NEJM
Frontiers | New Biological Insights on X and Y Chromosome-Bearing Spermatozoa (frontiersin.org)The Shettles Method Of Sex Selection | Dr. Shettles David Rorvik | How to Choose the sex of your baby (landrumshettles.com)
