Hattet ihr als Kind Angst vor dem Monster unter dem Bett oder im Kleiderschrank? Oder seid ihr selbst Eltern und müsst immer wieder das Licht anknipsen, um sicherzugehen, dass da nichts ist? Ich bin 32 Jahre alt, Mutter eines zauberhaften Sohnes und mein Monster heißt: der Herzenswunsch nach einer Tochter.

Mein Monster sitzt im Schrank und flüstert mir zu, wie schön das Leben mit einer Tochter wäre. Wenn ich meinen Sohn auf dem Wickeltisch durch die Haare streichel, setzt sich das Monster im Schneidersitz daneben und erzählt mir, dass ich ihm wohl niemals Zöpfe flechten werde. Oder eine kleine blonde Palme auf dem Kopf. Es klopft mir mitleidig auf die Schulter, wenn mir jemand einen Bagger-Strampler schenkt. Es meldet sich mitten in meiner Einschlafphase und lässt mich darüber grübeln, ob ich für immer eine Jungsmama bleiben werde. Ob ich niemals eine Mutter-Tochter-Beziehung erleben werde. Es jubelt begeistert am anderen Ende der Leitung, wenn die Freundin den süßen Mädchennamen ihrer Tochter verkündet, während ich mich daran erinnere, mich durch Listen hässlicher Jungennamen gequält zu haben. (Anmerkung: hässlich oder beliebt. Für mich gibt es nur diese beiden Kategorien bei männlichen Vornamen. Grauenvoll). Das Monster ist mal mehr da und mal weniger. Aber trotz aller Hoffnung in der Schwangerschaft, dass es sich nach der Geburt wohl in Luft auflösen würde, ist es nicht verschwunden. Es lauert immer noch.

Liebe fremde Mama

Es fällt mir schwer, diesen Text zu schreiben. Ich fühle mich wie ein grausamer Mensch, und eine noch grausamere Mutter. Erstens wird durch das Tippen immer alles realer, denn dort steht es schwarz auf weiß. Zweitens wird dieser Artikel böse Leserkommentare heraufbeschwören – wohl zurecht. Oder? Zu Unrecht? Mein Ziel ist zumindest erfüllt, wenn auch nur eine Mama, irgendwo in Deutschland oder Nicht-Deutschland, diese Zeilen liest und sich weniger allein fühlt. Liebe fremde Mama, ich weiß, wie es in dir drin aussieht! Sei umarmt. Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung. Und ich fühle so: Ich hadere immer noch damit, dass ich einen Sohn habe und keine Tochter.

Ich habe schon einmal einen Artikel über meine streitbaren Gefühle bezüglich Geschlechtern geschrieben. Damals strampelte mein kleiner Bub noch im Bauch herum. 41 Schwangerschaftswochen wusste ich nicht, ob ich ein Mädchen oder Jungen in mir trage. Ich wollte mich überraschen lassen – einerseits, weil ich es so wirklich schöner finde, andererseits, um bei der möglichen Nachricht eines Penisses auf dem Ultraschall nicht zu verzweifeln. Lieber wollte ich im Kreißsaal erfahren, ob Eier oder Eierstöcke, denn dann würde ich das Baby – auch mit Eiern – schließlich sofort lieben. Spoiler: tat ich nicht.

Wie war er nun, der Moment, als ich erfahren habe, dass ich – entgegen aller Hoffnungen – Mutter eines Jungen wurde?

Oh Gott, ein Junge. Ich muss Hoden wickeln.

Ich lag halb gelähmt auf einer Liege mit Schläuchen in den Armen. Mein Baby kam per Notkaiserschnitt auf die Welt. Ich wurde operiert von Dr. Best, das weiß ich noch. Ich dachte daran, wie absurd es ist, dass ein vermeintlicher Zahnarzt, der sonst nur an Tomaten herumdrückt, nun meinen Uterus öffnet, und da hörte ich auch schon seinen Schrei. Den Schrei meines Sohnes! Gänsehaut, Herzrasen, unfassbare Erleichterung. Und die sofortige Gewissheit: Oh, krass. Das ist kein Girl. Irgendwie konnte ich es sofort an seiner Stimme hören. Die Hebamme brachte mir das kleine Bündel an den Kopf und sagte: „Schauen Sie mal, Sie haben einen Sohn“, und ich dachte nur: Oh Gott. Oh Gott. Oh Gott. Einerseits: Oh Gott, du bist Mama. Oh Gott, er ist gesund! Er lebt! Aber auch: Oh Gott, ein Junge. Ich muss Hoden wickeln.

Ich spürte keinen großen Liebesschwall, stattdessen habe ich ihn ungläubig angestarrt und alles fühlte sich leer an. Ein großes Nichts. Ein paar Sekunden später Überforderung und Ungläubigkeit. Ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen: Oh je, Alina, was hast du getan? Du liebst dieses Kind nicht. Es ist ein Junge und du liebst ihn nicht.

Als ich über den Flur geschoben wurde – ohne Baby – dachte ich, dass ich den größten Fehler meines Lebens begangen habe. Warum habe ich dieses Kind gezeugt? Was ist mit mir falsch, dass ich es nicht abgöttisch liebe? 

Ich denke nicht an Mädchen oder Jungs, sondern an das Herz in seiner Brust

Erst als ich ihn auf der Wochenbettstation zum ersten Mal richtig im Arm hatte, ihn zum ersten Mal an meine Brust anlegte, ihn roch, seine perfekten Augenbrauen streichelte und sein Wimmern hörte – wie der frisch geschlüpfte Raptor in „Jurassic Park“ – wusste ich, dass sein Vater den Titel der Liebe meines Lebens glorreich verloren hatte. Und als all meine Freundinnen mich kurz darauf bei WhatsApp fragten, wie es mir gehe, jetzt, wo es ein Sohn sei, war alles wunderbar. Noch.

Unser Wochenbett war ein einziger Traum. Corona-Lockdown, kaum Menschen, Weihnachtsstimmung draußen am Fenster, Hagel. Ich erinnere mich gut. „What a wonderful world“ läuft im Radio, mein Freund hat unseren Kleinen im Arm und weint mitten im Türrahmen vor Glück. Genau wie ich. Immer, wenn ich unserem Baby ein Gute-Nacht-Lied summen möchte, breche ich in Tränen aus, weil einfach alles so schön ist. Ich habe einen Sohn. Und er ist so goldig. Und ich habe mir umsonst Sorgen gemacht. Ach, diese Neugeborenenzeit. Wenn er in seinem kleinen Nestchen liegt und sich sein Brustkorb ruhig hebt und senkt, denke ich nicht an Mädchen oder Jungs, sondern an dieses wundervolle Herz, was kräftig in ihm schlägt und meins zum Pochen bringt.

“Ach, Hauptsache gesund”

Die „Ich habe keine Tochter“-Wunde wird am 4. Januar 2021 wieder aufgerissen. Ich sitze mit meinem Sohn beim Zahnarzt – das Zungenbändchen muss durchtrennt werden – und im Patientenzimmer wartet eine andere Frau mit ihrem gleichaltrigen Baby mir gegenüber. Es ist ein Mädchen. Und ich spüre plötzlich den Neid im Bauch und erschrecke mich, dass das Monster wieder die Tür einen Spalt öffnet. Ich habe das Gefühl, die Frau mir gegenüber müsste die glücklichste Frau Hamburgs sein, weil sie Mutter einer Tochter ist. Dabei sitze ich mit einem gesunden, niedlichen Jungen auf meinen Oberschenkeln in der Ecke.

Ich möchte nochmal sagen: Ja, ich bin überglücklich, dass ich ein gesundes Kind zeugen und gebären durfte. Trotzdem spielt die Junge-Mädchen-Frage noch eine Rolle. Gerne wird ein Geschlechterwunsch nämlich von der Gesellschaft weggelächelt: „Ach, Hauptsache gesund“. Die politisch korrekte Antwort. Ja natürlich, wer wünscht sich kein gesundes Baby? Ohne jede Frage steht die Gesundheit an erster Stelle. Aber es gibt eben auch eine zweite Stelle, eine dritte Stelle. Wünsche und Träume. 

Gender Disappointment beschreibt diese Enttäuschung über das vermeintlich „falsche“ Geschlecht. Fast alle Elternpaare tendieren zu einem Jungen oder Mädchen. Natürlich sind viele von ihnen kurz enttäuscht. Es geht aber nicht um diesen kleinen Dämpfer, der schnell vergessen ist. Gender Disappointment beschreibt eher eine Krise.

Wenn der pinke Luftballon aus dem Karton fliegt, denke ich: Boah, blöde Kuh

Es geht weniger um die verhaltenen Lächler von Eltern auf Instagram, wenn bei der Gender-Reveal-Party (unangenehme Aktionen!) das falsche Konfetti aus der Kanone schießt. Obwohl ich bei manchen Frauen, die ganz offensichtlich bei der Farbe Blau nicht ins hysterische Hüpfen gelangen, immer denke: Oh, I feel you. Und wenn der pinke Luftballon aus dem Karton fliegt, denke ich: Boah, blöde Kuh. Oder auch: Du verdammter Glückspilz.

Wann bemerke ich noch, dass ich keinen Frieden mit einem Sohn geschlossen habe?

Wenn ich beim Kinderflohmarkt neben den süßen Sommerkleidern Pullis liegen sehe mit Feuerwehrautos drauf. Wenn mir bei Ebay Kleinanzeigen jemand schreibt „Das könnte meiner Tochter gut gefallen“. Wenn mir eine Kollegin am Telefon sagt: „Och, Jungs finde ich eigentlich oft nicht so niedlich, aber deiner ist schon Zucker“. Wenn meine Schwägerin, eine Kita-Erzieherin, auf der Familienfeier beiläufig fallen lässt, dass Jungs feinmotorisch etwas langsamer sind und Mädchen oft schneller und lieber malen oder zeichnen. Wenn mich mein Sohn im Kinderwagen verschmitzt anlächelt, ich vor Liebe schmelze und kurz darauf denke: Krass, irgendwann bist du ein Mann mit Bart.

„Sie hat gefragt, ob das Baby ein Mädchen oder Junge ist!“ – Prägende Momente

Zwei Schwimmbad-Begegnungen fallen mir auch noch ein. Einmal fragte mich eine Vereinskollegin unter der Dusche, dass sie mich seit der Schwangerschaft ja gar nicht gesehen hätte und wie alt meine Tochter jetzt eigentlich sei. Ein Flüchtigkeitsfehler ihrerseits, der mich noch 50 weitere Minuten beim Kraulen beschäftigt hat. Außerdem ein Kind im Freizeitbad, dass mich fragte, ob das hier die Jungs- oder Mädchenumkleide sei. „Beides!“, sagte ich, während ich mein Baby in die Schwimmwindel quetschte. Die Kleine starrte mich schockiert an. Meine Begleitung lachte laut auf: „Sie hat gefragt, ob das Baby ein Mädchen oder Junge ist!“ Beides. Gute Antwort, Alina.

Am meisten denke ich jedoch an die Käsetheke zurück. Es war ein Samstagabend und ich hatte heftig Bock auf Gruyère. Und da standen sie beide im Supermarkt, Arm in Arm vor dem Bergkäse: Mutter und Tocher. Mutter vielleicht Mitte vierzig, das Mädchen im Teenageralter. Ich habe sie gefühlt Ewigkeiten beobachtet.

Würde mein Sohn eines Tages Arm in Arm mit mir im Supermarkt stehen?

Auch, wenn er kein Kind mehr ist?

Würde er mir von seinen Sorgen erzählen? Oder welche*n Mitschüler*in er süß findet?

Würde er sich im Freibad noch an meine Schulter krallen und sich gemütlich ziehen lassen, wie ich es heut noch mit meiner eigenen Mama mache?

Meine Theorie

Meine Theorie: Ich glaube, je kleiner das Baby ist, desto „egaler“ ist das Geschlecht. Es sind Babys, die wie Opas aussehen und zwischen Schlaf und Stillen leben. Je größer die Kleinen werden, umso mehr fallen die Unterschiede auf. Wie eine Tabelle mit einem linearen Strich nach rechts oben – man merkt, ich bin mathematisch begabt – ist es mit meinem Sohn: Je größer/älter er wird, desto klarer sehe ich die Unterschiede zu Mädchen in seinem Alter.

Deshalb fürchte ich mich etwas vor der Zukunft. Wenn ich acht-jährige Buben auf ihren Tretrollern sehe, fühle ich es nicht. Ich fühle es so gar nicht. Und dann darf ich ihnen nicht mal die süßen Latzhosen aufdrängen, in die ich meinen Sohn jetzt noch stopfe.

 Zu 50% besteht die Möglichkeit, dass ich eine Jungsmama bleibe

Eine Freundin von mir war übrigens gleichzeitig mit mir schwanger. Ich öffnete mich ihr, mit meinen Sorgen davor, keine Töchter kriegen zu können. Ihr ging es ähnlich. Sie wollte unbedingt eine Tilda – nun ist es ein Franz. Und obwohl wir beide Dezembersöhne haben, die Birne und Bauchmassagen lieben, ist da ein großer Unterschied: Meine Freundin sagt, dass sie nun kein Wunschgeschlecht mehr hat. Ihr sei es inzwischen völlig egal, ob sie noch zwei oder drei Jungs bekommt. Ein Gefühl, dass ich ihr gerne klauen und in meine Jackentasche stopfen würde.

Ich wollte schon immer zwei Kinder haben. Die Chance auf das Wunschgeschlecht besteht also noch. Ich glaube allerdings nicht an Ernährungstheorien oder welche Stellung welches Geschlecht beschert oder diesen berühmten Bums-Abstand zum Eisprung. Ich glaube an den 50-50-Joker. Zu 50 Prozent besteht die Möglichkeit, dass ich eine pure Jungsmama bleibe und mich an der Käsetheke wohl immer zu Müttern mit ihren Töchtern umdrehen werde. Und zu 50 Prozent besteht die Möglichkeit, dass der Herzenswunsch noch wahr wird.

WENN ich überhaupt noch einmal schwanger werden darf. Take nothing for granted. Ich würde mir das nächste Mal allerdings das Geschlecht im Voraus sagen lassen. Wäre mein erstes Kind ein Mädchen gewesen, hätte ich mich beim zweiten überraschen lassen. Doch nun wäre es zu gefährlich, die Botschaft im Kreißsaal zu erfahren. Ich glaube, ich brauche neun Monate Schwangerschaft, um mich im Falle des Falles auf den Gedanken eines zweiten Jungen einzustellen. Oh man.

Ich schüttle beim Tippen dieses Textes selbst den Kopf. Aber so ist es nun mal. „Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen!“, könnte der Titelsong dieses Artikels sein.

Die schönste Stereoanlage

Ich möchte am Ende noch einmal betonen, wie sehr ich meinen Sohn liebe und wie ich ihn um nichts in der Welt eintauschen wollen würde. Würde eine Fee erscheinen und sagen: „Hey, Alina. Wir stecken Peter wieder rein und holen Petra raus, ich erfülle dir diesen Wunsch“. Nein, mein Kind heißt nicht Peter. Und nein, ich würde das Angebot ablehnen. Ich möchte nie wieder ohne meinen Sohn leben.

Ich weiß noch, als er ein kleiner Streifen auf dem positiven Schwangerschaftstest war und ich – obwohl er so ein Wunschkind war – zu meinem Freund schluchzte: „Ich hab das Gefühl, eine ganz teure Stereoanlage gekauft zu haben. Und ich habe keinen Retourenschein und keine Anleitung“.

Nun sagen wir immer, dass wir die schönste Stereoanlage der Welt haben. Nichts brauchen wir weniger als eine Quittung! Die würde das Monster sofort zerknüllen und in den Müll donnern. Ich kann also nur diese wunderbare Baby- und Kinderzeit mit meinem Sohn verbringen und abwarten, was währenddessen mit meinem Monster passiert. Vielleicht wird es sich noch ein Leben lang in der Dunkelheit melden und meinen Schlaf stören. Oder durch ein zweites Kind löst sich das Monster auf, Leere hinter der Schranktür. Oder – und das hoffe ich sehr – werde ich erwachsen, nehme das Monster an die Hand und führe es zu meiner Bettdecke. Dann leben wir beide in Frieden.