In einem Monat geht es wieder von vorne los. Das neue Jahr beginnt. Ach ja. Wir öffnen die erste Seite des noch unbeschriebenen Buches mit dem Titel „2022“ und haben unendliche Möglichkeiten, was wir hineinschreiben. „New year, new me.“ Aber wieso spielt der Anfang für uns eigentlich so eine große Rolle? 

Im Dezember dreht sich bei uns alles um Neuanfänge und es gibt so viele verschiedene Arten, neu zu beginnen. Ein neuer Beruf, eine neue Haarfarbe, ein neuer Beziehungsstatus, ein neues Land, eine neue Lebenseinstellung. Wieso sind Neuanfänge so faszinierend? Wieso sind sie so schwer? Und wieso versuchen wir immer wieder, uns neu zu erfinden? 

Unsere Hassliebe zur Gewohnheit

Es ist doch faszinierend: Menschen sind Gewohnheitstiere. Wir lieben das Beständige, die Sicherheit von dem, was wir kennen und das Gefühl von Vertrautheit. Und Traditionen. Wir lieben Traditionen. Und so sehr wir unsere alltäglichen Routinen brauchen und lieben, so sehr hassen wir sie manchmal auch und wollen nichts anderes, als aus ihnen ausbrechen. 

Aber auch nicht zu sehr, denn selbst wenn wir unzufrieden sind – das Bekannte scheint oft besser als das Unbekannte, weil wir es kennen und gelernt haben, damit umzugehen. Wer weiß schon, was das Neue bringt? Es könnte sogar noch schlimmer werden. Und uns das Schlimmste ausmalen – das können wir gut. Mit dieser Einstellung bleiben viele Menschen in Berufen, die sie nicht erfüllen oder in Beziehungen, denen ehrlich gesagt vielleicht ein Ende besser tun würde. Frei nach dem Motto „The evil you know is better than the evil you don’t“ leben wir in unserer mehr oder weniger komfortablen Komfortzone.

Es wirkt wie ein komischer Widerspruch und als ob wir es uns einfach nicht Recht machen können. Aber oft suchen wir lediglich Kontraste. Verständlicherweise. Wer täglich am Schreibtisch sitzt, sucht den Ausgleich in der Natur. Wer auf dem Land arbeitet, erkundet gerne große Städte. Und wenn sich zum Beispiel der Sex nur noch wie Routine anfühlt, wird die Sehnsucht nach einer neuen Bindung größer. Weil neu = anders = aufregend = gut. Deswegen ist der Gedanke, den Neuanfang wirklich in die Tat umzusetzen, so spannend. Aber manchmal reicht vielleicht auch ein neues Hobby statt ein neuer Beruf oder ein langer Urlaub statt der Auswanderung.

Kinder haben übrigens keine Komfortzone – sonst würden sie niemals laufen oder sprechen lernen. Wenn sie Fehler machen oder hinfallen, machen sie weiter oder stehen wieder auf. Ihre Lust nach Neuentdeckung ist größer als die Angst, sich zu blamieren oder sich wehzutun. Je älter wir werden, desto ängstlicher werden wir. Das ist an manchen Stellen gut und wichtig. Aber wie so oft haben wir viel zu gewinnen, wenn wir uns mehr von Kindern inspirieren lassen.

Silvester = Reset

Die Sehnsucht nach einem Neuanfang verspüren viele Menschen. Doch es wirklich umzusetzen ist schwer. Ein Anstoß hilft. Das beste Beispiel: Silvester. Das neue Jahr gilt als die perfekte Möglichkeit, sich neu zu erfinden: „Mehr Sport machen.“ „Weniger rauchen.“ „Ein neues Hobby anfangen.“ Alles typische Vorsätze für das neue Jahr. Vorsätze, neu zu beginnen. Das Leben zu ändern. Der Glockenschlag um 0 Uhr ist unser Reset-Button. Wir rufen wie auf dem Filmset „Alles auf Anfang“ und geben uns selbst eine neue Chance für ein gutes, neues Jahr.

In einer Umfrage gaben die meisten Menschen an, dass sie ihre guten Vorsätze für das neue Jahr nicht auf Dauer umsetzen. Viele höchstens zwei Monate, und nur 20 Prozent schaffen es, ihre Vorsätze komplett durchzuhalten. Glückwunsch! Im Durchschnitt dauert es übrigens 66 Tage, bis sich ein neues Verhaltensmuster festsetzt und zum Alltag wird.

„Aller Anfang ist schwer“

Selbst wenn nicht gerade Silvester ansteht, oft brauchen wir einen konkreten Grund oder einen kleinen Push. Selten fangen Menschen einfach so neu an. Sie setzen sich eine eigene Deadline, so unnötig und überflüssig sie auch sein mag.

Mein bestes Beispiel: Meine sportliche Aktivität ist so wie die Nordsee. Ebbe und Flut. Sie kommt und geht. Dabei weiß ich, dass die Ostsee-Variante viel besser für mich wäre. – Nicht nur wegen des Heimspiels. Ostseekind for life. – Einfach stetig da sein, keine großen Wellen schlagen, nichts übertreiben, nur um dann wieder komplett aufzuhören. Dennoch passiert es mir immer wieder. 

Und anstatt einfach die Gelegenheit am Schopfe zu packen, wenn sich die Motivation wieder nach längerer Pause präsentiert (meistens natürlich, wenn es gerade eigentlich nicht geht, wie um 2 Uhr nachts oder unterwegs), sage ich „Ach, diese Woche ist noch so viel los. Ich fange ab Montag an.“ Neue Woche, neues Glück. Wer kennt es nicht? Und Montag steht dann wieder etwas anderes an oder die Motivation ist futsch.

Die altbekannte Torschlusspanik

Je älter wir werden, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen. Ich nehme jeden Freitag meine Vitamin-D-Tablette und jeden Freitag, wenn der Wecker klingelt, denke ich mir aufs Neue: „Ich hab die doch gerade erst genommen.“ Der Monat November dauerte gefühlt nur drei Tage. Und jedes Jahr scheint es so, als ob wir nur ein paar Wochen nach der Freibad-Saison schon wieder George Michael vom letzten Weihnachten singen hören. Dieses Zeitgefühl kommt von einem Mangel an Neuanfängen. Je mehr Routine wir in unserem Alltag haben, je weniger neue Ideen, Impulse und Tätigkeiten wir erleben, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen. Aber gleichzeitig haben diese Routinen eben auch etwas Beruhigendes, zumindest ist das meine Wahrnehmung. Wie Silbermond es so toll singt: “Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit in einer Welt, in der nichts sicher scheint. Gib mir in dieser schnellen Zeit irgendwas das bleibt.”

Vermutlich verspüren wir deswegen gegen Ende des Jahres aber so viel Druck, es im nächsten anders und besser zu machen. Die Zeit läuft uns davon. Die altbekannte Torschlusspanik. Aber das Datum 01.01. lässt uns Zeit anders wahrnehmen und gibt uns die Möglichkeit, unser Leben, unser Denken und unser Handeln zu hinterfragen und neu oder auch alt zu gestalten.

„Scheitern ist das große moderne Tabu“

Das sagt Soziologe Richard Sennett. Fehler machen, Umwege gehen oder aufgeben – all das wird nicht so gerne gesehen. So wird Loslassen gedanklich oft mit Scheitern verbunden und steht im Kontrast zu positiv behafteten Werten wie Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen. Dabei erfordert es Mut loszulassen. Zu erkennen, dass diese Situation, dieser Beruf oder diese Beziehung nicht (mehr) das Richtige für eine*n ist und man etwas anderes sucht. 

Wie wäre es, wenn wir uns mehr an das Motto des Autors Samuel Beckett orientieren? „Try again. Fail again. Fail better.“ Und wie unsere Autorin Sarah in ihrem kommenden Artikel über ihren Neuanfang in einer fremden Stadt schreibt – „Was wäre das Schlimmste, das geschehen könnte?“ Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende. Und Ende ist nicht gleich Scheitern. Oder auch: „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.“ Was haben wir in Deutschland musikalische Edelsteine… 

Der Neuanfang in der Routine

Unsere Sehnsucht nach Neuanfängen wird auch als „Ruf des Lebens“ bezeichnet. Das klingt schon schön. Poetisch. Imposant. Und letztendlich gehören Neuanfänge einfach zum Leben dazu. Alles in unserem Leben war einmal neu. Nur wird das Neue irgendwann zur Gewohnheit. Routinen können uns Geborgenheit, Ruhe und einen klaren Kopf geben. Viele Menschen, die nicht viel Beständigkeit in ihrer Kindheit erlebt haben, genießen es oft, eine Routine zu entwickeln. Und bei all dem Stress und Weltschmerz, die uns umgeben, sind Dinge, auf die man sich verlassen kann, absolut nichts Schlimmes. 

Andererseits: Können wir uns von Routinen auch eingeengt fühlen. Durch Neuanfänge leben wir bewusster und flexibler, weil wir uns in unbekannte Gebiete begeben. Wir erleben Selbstwirksamkeit, weil wir unsere Umstände aktiv selbst bestimmen.

Es reichen aber auch kleine Veränderungen – niemand muss nach Tokyo auswandern oder den Beruf von der Steuerberaterin zur Konditorin wechseln. Es sei denn, ihr möchtet das. Go for it. Aber für andere reicht es vielleicht, den Alltag mit kleinen Momenten zu füllen, die den Trott aufbrechen. Es heißt, für einen Neuanfang braucht man zwei Impulse – Liebe und Leid. Man benötigt die Liebe für etwas Neues und auch das Leid von etwas Altem. Was wir brauchen, ist ein Kompromiss zwischen der Sehnsucht nach einem Aufbruch und der Angst davor. Wie dieser Kompromiss aussieht – is up to you.

Aber irgendwo hat die Routine ja auch etwas. Wie singt es Rolf Zukowski? „Und dann fängt das Ganze wieder von vorne an!“ Mal schauen, was uns im Jahre 2022 an Altem und Neuem erwartet.