In Deutschland darf Säuglingsanfangsnahrung nicht beworben werden. Für Folgemilch gilt diese Regelung hingegen nicht. Über das Stillen gibt es zahlreiche Ratgeber und Info-Videos, Beratungsstellen und Hilfen. Für Flaschen-Mamas ist es viel schwieriger, an gezielte Informationen zum Thema Formula zu kommen. Gleichzeitig lesen diese auf jeder Milchpulverpackung „Stillen ist die optimale Ernährung für Säuglinge“. Woran liegt das und was für Gründe stecken hinter den Regelungen? Wir haben recherchiert und mehrere Formula-Beraterinnen zum Thema befragt.

Der WHO-Kodex und sein Status

1981 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen ein WHO-Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten veröffentlicht. Ziel des Kodexes ist die Gewährleistung einer sicheren und angemessenen Ernährung von Säuglingen. Dies beinhaltet zum einen die Förderung und den Schutz des Stillens und zum anderen das Sicherstellen der richtigen Verwendung von Muttermilchersatzprodukten, wenn Mütter nicht stillen können oder dies nicht möchten. Seit der ersten Veröffentlichung wird der WHO-Kodex alle zwei Jahre von Folgeresolutionen ergänzt und präzisiert.

Der Kodex hat den Status einer moralischen Empfehlung für die Regierungen der WHO-Mitgliedsländer und ist somit nicht bindend. Um in geltendes Recht umgewandelt zu werden, müssen die einzelnen Ländern nationale Gesetze erlassen, welche die Vermarktung von Säuglingsnahrung im Detail regeln. Wie streng sich dabei an den WHO-Kodex gehalten wird, obliegt jedem Land selbst. Daher ist die Rechtslage – trotz weltweit geltendem WHO-Kodex – global gesehen sehr unterschiedlich.

Warum es den WHO-Kodex gibt

Hintergrund des WHO-Kodexes ist vor allem die Situation in vielen nicht-industrialisierten Ländern. Oft mangelt es an sauberem Wasser für die Zubereitung von Säuglingsmilch, an Brennstoff zum Erhitzen und Sterilisieren des Wassers sowie an Geld für ausreichende Milchpulvermengen. Die Gefahr besteht, dass Säuglingsnahrung nicht korrekt zubereitet werden kann, weil sauberes Wasser und Brennstoff oder Geld und das Leseverständnis nicht ausreichend vorhanden sind. Somit ist die Versorgung durch Muttermilch für viele Babys die sichere Variante.

Da Marketingstrategien zur Bewerbung von Muttermilchersatzprodukten zudem Eltern nachweislich beeinflussen, sollen diese weitgehendst eingeschränkt werden. In manchen Ländern ist zum Beispiel der Irrglaube weit verbreitet, dass Säuglingsmilch besser und gesünder für Babys wäre als Muttermilch. Hinzu kommt, dass es als Statussymbol gilt, seine Kinder per Flasche ernähren zu können und sich Milchpulver als Luxusgut leisten zu können. Dies ist vor allem auf die erfolgreiche Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten seitens großer Konzerne zurückzuführen, die dahinter einen riesigen Profitmarkt sehen. Die WHO will dem mit ihrem Kodex entgegensteuern und verhindern, dass die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten auf Kosten des Stillens stattfindet. Sofern Säuglingsmilch gebraucht wird, soll eine sichere Ernährung mit Ersatzprodukten gefördert werden.  

Was der WHO-Kodex besagt

Da der WHO-Kodex zwar die Basis für unsere Rechtslage hierzulande bildet, selbst aber nicht rechtsverbindlich ist, muss beides separat beleuchtet werden.

Der WHO-Kodex an sich ist sehr weitreichend und besagt unter anderem, dass Milch für Kinder unter 3 Jahren überhaupt nicht beworben werden darf. Dies umfasst Anfangs- und Folgemilch, aber auch Säuglingstees, -wasser, -säfte und Beikost aus der Flasche sowie alle Milchprodukte, die zur Herstellung von Säuglingsmilch verwendet werden könnten (z.B. gezuckerte Kondensmilch). Dies gilt für klassische Werbung im TV und Zeitschriften, aber auch für Aktionen und Aufsteller in den Verkaufsmärkten.

Ebenso dürfen Hersteller und Verteiler laut Kodex keine Geschenkartikel oder Gebrauchsgegenstände kostenlos verteilen, welche die Verwendung von Muttermilchersatzprodukten oder Flaschenernährung fördern können. Dies könnten zum Beispiel Kleidung, Spielzeug oder Gebrauchsgegenstände wie Fläschchen und Löffel sein. Nicht zulässig sind jegliche Rabattaktionen, Gewinnspiele, Gratisproben und Lockangebote. All dies ist nach WHO-Kodex nicht nur für Milchersatzprodukte, sondern auch für Flaschen und Sauger unzulässig.

Der Kodex umfasst auch die Verpackung von solchen Produkten und die dazugehörigen Informationen. Diese müssen sachlich und wissenschaftlich fundiert sein. Die Aufschrift auf Produktverpackungen muss den Hinweis beinhalten, dass Stillen der künstlichen Säuglingsnahrung überlegen ist und dass das Produkt nur auf Anraten einer medizinischen Fachkraft verwendet werden soll. Ebenso muss eine Anweisung für die korrekte Zubereitung und Verwendung sowie ein Hinweis auf die Gefahren einer überflüssigen oder falschen Anwendung des Produktes abgedruckt sein. Untersagt sind Fotos oder Zeichnungen von Babys sowie alle weiteren Abbildungen oder Texte, welche das Produkt idealisieren.

Auch in Einrichtungen des Gesundheitswesens darf für Muttermilchersatzprodukte sowie Sauger und Saugflaschen keinerlei Werbung gemacht werden. In Krankenhäusern, Arztpraxen, Apotheken und Hebammenpraxen dürfen keine Proben oder Zeitschriften verteilt werden. Zusätzlich dürfen keine Gegenstände mit Firmenlogos zur Benutzung oder Mitnahme herumliegen, wie etwa Stifte oder Blöcke. Auch dürfen medizinische Einrichtungen nicht verbilligte oder kostenlos mit Säuglingsnahrung beliefert werden und diese darf nicht sichtbar präsentiert werden. Außerdem darf kein Gesundheitspersonal von den Herstellern oder Händlern dieser Produkte finanziert werden.

Was in Deutschland gilt

In Deutschland wurden Teile dieses WHO-Kodexes durch die sogenannte Diätverordnung in nationales Recht umgesetzt. Grundlage dieser Diätverordnung ist eine EU-Verordnung (Nr. 609/2013), welche im Jahr 2006 verabschiedet worden ist. Verstöße gegen die EU-Verordnung werden laut lebensmittelrechtlicher Straf- und Bußgeldverordnung als Ordnungswidrigkeit und mit einem Bußgeld geahndet. Vor dieser EU-Verordnung war in Deutschland das Säuglingsnahrungswerbegesetz (SNWG) in Kraft, welches von Oktober 1994 bis 2005 den Handlungsspielraum festlegte.

Einschränkungen für das Marketing und die Kommunikation der Hersteller und Verteiler von Säuglingsmilch gelten hierzulande weniger umfassend, als es von der WHO vorgesehen ist. So gilt etwa das Werbeverbot nur für Säuglingsanfangsnahrung der Stufen PRE und 1. Es beinhaltet die klassische Werbung, aber auch Gewinnspiele, Rabattaktionen, gratis Produktproben und die Zugabe von anderen kostenlosen Produkten oder Promotion-Artikeln. Ebenso verboten sind jegliche Werbegeschenke mit Firmenlogos von Herstellern, wie etwa Mutterpasshüllen oder Spielzeug in Wartezimmern. Abbildungen von Kindern dürfen in der Aufmachung und Etikettierung von Säuglingsanfangsnahrung keine verwendet werden. Allgemein gilt ein Beratungsverbot über die auf der Packung bzw. dem Produktetikett stehenden Informationen hinaus.

Für Folgemilch ab der Stufe 2 und für Brei darf hierzulande allerdings geworben werden. Auch Fläschchen und Schnuller sind vom Werbeverbot ausgenommen – hier ist auch die Abgabe von Gratisartikeln erlaubt. Ebenso ist der direkte Kontakt zwischen Anbietern von Muttermilchersatznahrung und (werdenden) Eltern in Deutschland zulässig. So darf es von Seiten der Hersteller etwa Babyclubs geben, welche durch regelmäßige Newsletter über das aktuelle Entwicklungsalter des Babys informieren und Geschenkboxen verschicken, die Rabattmarken und Probepackungen mit Folgemilch enthalten.

Online und offline gibt es Informationen zum Thema Säuglingspflege, Rezeptsammlungen, Bastelideen, Live-Talks und Interviews. Gerade auch die sozialen Netzwerke werden intensiv für die Kommunikation mit Schwangeren, Müttern und Familien genutzt. Dabei wird Säuglingsanfangsmilch selbst zwar nicht beworben, allerdings bedienen sich die Unternehmen der sogenannten „Cross-Promotion“. Beworben werden Folgemilchprodukte, was dazu führen soll, dass das dadurch entstandene positive Image und der Wiedererkennungseffekt auch auf die optisch ähnlichen Anfangsmilchprodukte abfärben.

Was Formula-Beraterinnen zum Thema sagen

Bei der Recherche haben wir mit mehreren Formula-Beraterinnen gesprochen. Diese beraten wertfrei, unabhängig und bindungsorientiert Mütter und Eltern, welche auf Flaschennahrung angewiesen sind. Die Formula-Berater:innen verpflichten sich, den WHO-Kodex allumfänglich anzuerkennen und umzusetzen. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie zu keinem Zeitpunkt Sponsorings von Herstellern von Muttermilchersatzprodukten annehmen dürfen und dass sie keine Fortbildungen besuchen dürfen, welche von diesen Herstellern ausgerichtet werden. Sie dürfen auch nicht als Dozent:innen auf Veranstaltungen tätig werden, sobald Hersteller dieser Produkte ebenso dort referieren.

Alle befragten Formula-Beraterinnen betonen, dass Muttermilch in jedem Fall die natürlichste und artgerechte Ernährung eines jeden Kindes ist, dass es aber nicht immer auch das Beste ist. Die emotionale und körperliche Gesundheit der Frauen und Familien muss immer mitberücksichtigt werden.

So sagt die zertifizierte Flaschen- und Formula-Beraterin Kerstin Gaillard: „Muttermilch ist nicht zu imitieren. Sie ist zu jeder Zeit individuell und perfekt auf die Bedürfnisse des Babys abgestimmt und sie enthält Inhaltsstoffe, die wir in Muttermilchersatzprodukten nicht finden und sicher auch in Zukunft niemals finden werden können. Dennoch ist Stillen nicht ausnahmslos immer das Beste für das Kind. Sicher, von den Inhaltsstoffen her ist es so, dass Muttermilch die artgerechteste Form ist, das Baby zu ernähren, aber ‘das Beste‘ für das Kind hängt immer von der jeweiligen Familiensituation ab. Es gibt nachvollziehbare Gründe, sowohl physische als auch psychische, warum Familien sich gegen das Stillen entscheiden.“ [Artikel: Ich will nicht Stillen]

Zudem gibt es Adoptiveltern, Tageseltern, Arbeitsteilende und Eltern von Frühchen, welche auf Formula-Nahrung angewiesen sind.

Zu große Präsenz von Ersatzprodukten und zu wenig Aufklärung

Dennoch wünscht sich eine andere Formula-Beraterin, mit der wir gesprochen haben, dass Muttermilchersatzprodukte in den Regalen von Supermärkten und Drogerien nicht so präsent und leicht zugänglich sind. Vielmehr plädieret sie dafür, dass Eltern eine bewusste und informierte Entscheidung treffen können, ob sie ihre Kinder mit Ersatzmilch ernähren wollen, und wenn ja, mit welcher. So seien viele Eltern gar nicht aufgeklärt, wie sich Formula-Produkte medizinisch auf Kinder auswirken. Ein gutes Infoblatt – zum Beispiel seitens der WHO – oder Aufklärung durch etwa Kinderärzt:innen fehle. Zudem wünsche sie sich, dass der Verkauf von Säuglingsnahrung in geschützten Räumen stattfindet, wo eine individuelle Beratung in Anspruch genommen werden kann. Ein geschützter Raum könne der Verkauf in Apotheken sein oder auch ein Tresenverkauf in Drogerien. Ihrer Erfahrung nach fehle oft das Bewusstsein, welche Unterschiede es zwischen den einzelnen Produkten und deren Zusammensetzung gibt und dass es nicht die eine Milch gibt, welche auf jedes Kind passt. Die Masse an Ersatzprodukten sei allgegenwärtig und die Überforderung damit groß.

Gesellschaftliche Bewertung des Themas Säuglingsernährung

Die Vereinten Nationen weisen darauf hin, dass die Mutter ein Recht auf korrekte und unabhängige Informationen hat sowie auf ein Umfeld, welches ihr das Stillen ermöglicht. Das sieht auch die von uns interviewte Formula-Beraterin so. Deswegen wünscht sie sich, dass ebenso das Bild der stillenden Mutter gestärkt wird. Dass sich keine Frau dafür schämen muss, in der Öffentlichkeit zu stillen und dass keine Aufkleber in Cafés mehr auf eine freundliche Stillumgebung hinweisen müssen, während es in der Drogerie zehn Meter lange Regale mit Ersatzprodukten gibt.

Formula-Nahrung habe absolut Daseinsberechtigung, solle aber kein Mitnahmeartikel im Discounter sein, sondern gezielt verwendet werden. Auch sei eine physiologische Flaschenernährung nicht einfacher oder mit weniger Aufwand verbunden wie Stillen. Mit einer Sensibilisierung hierfür und einer guten Aufklärung könne dann ebenso Stigmata von nicht stillenden Eltern entgegengewirkt werden. Ausführlichere und gezieltere Informationen, auch auf den Verpackungen, würden nicht mehr zu einem schlechten Gewissen seitens Flaschen-Mamas führen, weil sie ihr Kind nicht optimal ernähren. Vielmehr solle dies zu einem Bewusstsein für die eigene Entscheidung und ein aufgeklärtes Abwägen führen. Pflichtaufdrucke wie „Stillen ist die optimale Ernährung für Säuglinge“ seien zwar richtig und wichtig, gingen aber in ihrer Aufklärungsrolle nicht weit genug.

Ein emotional aufgeheiztes Thema

Abschließend wollen wir festhalten, dass Säuglingsernährung oft ein emotional aufgeheiztes Thema ist. Still-Mamas werden schräg angeschaut, wenn sie in der Öffentlichkeit die Brust geben. Das Stillen wird sexualisiert oder gar als ekelhaft bewertet. Flaschen-Mamas hingegen werden mit Blicken geächtet und dafür verurteilt, ihrem Kind keine artgerechte Ernährung zu bieten – ohne die dahinterstehenden Gründe dafür zu kennen. Beide haben das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Eine Aufklärung und Sensibilisierung für dieses Thema ist gesamtgesellschaftlich notwendig und nicht auf Mütter und Eltern beschränkbar.

Link zum WHO-Kodex (englisch):
https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/254911/WHO-NMH-NHD-17.1-eng.pdf

Fachliche Beratung zum Thema Formula-Ernährung und Ansprechpartner:innen in eurer Nähe findet ihr hier: fes-beratung.de