Wo Liebe im Spiel ist, meldet sich meist auch die Verlustangst. Die Sorge, Angehörige oder den Partner zu verlieren, kennen die meisten Menschen. Ein altbekanntes Gefühl, das absurd und gleichzeitig vollkommen natürlich ist. 

Mein Freund pfeffert den Parka in die Ecke und schimpft: „Das war das Dümmste, was ich je machen musste“. Es ist 2013 und er kommt frisch vom Kardiologen. Zusammen mit zahlreichen Rentnern saß er als Student stundenlang im Wartezimmer, um dann mit Home-Trainer und EKG seine Pumpe prüfen zu lassen. Auf mein Drängen hin. „Weißt du, wie der Arzt mich angeguckt hat, als ich sagte, dass ich keine Beschwerden habe, aber meine Freundin sich Sorgen macht?“ Ich erinnere mich an seine Wut. Seine Scham. 

Hm. Good Point. Aber der Doktor hört ja auch nicht sein Herz, denn Dr. Kardiologe liegt abends nicht auf der Brust meines Freundes. Selbst nach stundenlangem Rumlungern auf dem Sofa (damals, kinderlos) hoppelte sein Puls, als hätte er gerade Zirkeltraining gemacht. Das kann nicht gesund sein. Und wenn er Sport macht (macht er nicht! Ich meine nach dem Sex), habe ich das Gefühl sein Herz springt aus der Brust. 

Laut Arzt sei aber alles in Ordnung. Er sei halt ein großer Mann und ein großer Mann braucht ein starkes Herz. Während ich tippe, merke ich, dass ich nun acht Jahre später dringend eine zweite Meinung brauche. 

Hobby-Dermatologin und Sicherheitsexpertin

Nicht nur sein Herz macht mir Sorgen. Manchmal sage ich, dass ich ihn verwöhnen und massieren will. Dabei mache ich das helle Licht an, „damit ich selber nicht einschlafe“. Blödsinn! Ich brauche den großen Strahler, damit ich seine Leberflecken als Hobby-Dermatologin untersuchen und mir bei jedem zweiten in die Hose machen kann. Wenn er morgens aus der Tür hinaus will und seinen Fahrradhelm nicht trägt, fange ich eine Diskussion an. Wenn er ICE fährt, bitte ich ihn, in das hintere Abteil zu steigen, so hätten immerhin die meisten Opfer von Eschede überlebt. 

Wenn wir auf der Straße spazieren, male ich mir manchmal aus, wie es sein würde: Was ist, wenn dieser Blumentopf aus dem vierten Stock auf seinen Kopf fällt? Was ist, wenn er auf dem Herbstlaub ausrutscht, gegen diesen Poller knallt, dadurch kurzzeitig benommen ist und dann vor den Bus läuft? Das ist absurd, aber oft Teil meiner Gedankenwelt. 

Der mögliche Tod ist zu komplex für mein kleines Gehirn

Ich habe so Angst, dass ich meinen Partner verliere. Die Welt ist so grausam willkürlich. In der griechischen Mythologie spinnen die Schicksalsgöttinnen einen Faden in den Lebensteppich. Wann werden sie den Faden meines Freundes durchtrennen? Morgen? In 50 Jahren? Das ist zu komplex für mein kleines Gehirn, das ihn so sehr liebt.

Eigentlich ist Angst etwas Gutes. Ursprünglich. Denn das Gefühl ist ein Warnsignal, das uns davor schützt, uns in gefährliche Situationen zu begeben. Es lässt uns im Notfall auch zügig reagieren. Was aber nützt mir die Verlustangst? Außer, dass ich gelähmt bin, wenn er Sahne zum Kuchen schlagen will. Denn es gab ja mal 2017 eine französische Fitness-Bloggerin, die durch einen explodierenden Sahnespender starb, der ihr gegen das Herz flog. Und auch wenn unser Mixer ohne Druckluft betrieben wird, beobachte ich alles akribisch, wenn es um Sahne geht. Ich könnte durch meine Voraussicht immerhin die Liebe meines Lebens beim Nachmittagskuchen retten.  

Mein Opa

Verstärkt wurde meine Verlustangst durch den Tod meines Großvaters vor fünf Jahren. Mein Opa hat mir sehr viel bedeutet. Opa und ich haben uns am liebsten um die letzten Tropfen braune, fettige Soße im Topf gezankt. Wir haben jeden Sonntag telefoniert. Er hat immer Zeitungsartikel, bei denen er glaubte, dass sie mir gefallen würden, in einer Klarsichthülle gesammelt und sie mir mit einem stolzen Lächeln zur Lektüre überreicht. Dadurch weiß ich zum Beispiel, dass Nilpferde natürliche Sonnencreme schwitzen. Wenn ich nach meinen Besuchen aus seiner Ausfahrt fuhr, winkte er mit zerzauster Frisur im Rückspiegel. Irgendwann stand nur noch Oma im Rückspiegel.

Es vergeht kein Tag, an dem ich Opi nicht vermisse. 

Mit seinem Tod kam ein neuer Gedanke: Wenn der Schmerz schon bei den Großeltern gigantisch ist, wie sollte ich jemals den Verlust meines Partners überwinden? Das ist unvorstellbar. Natürlich sorge ich mich nicht nur um meinen Freund, sondern gleichzeitig um den Vater meines Kindes. Als Familie ist alles intensiver. Das Glück ist so intensiv, dass es sich zerbrechlich anfühlt. Mein Sohn darf seinen Papa nicht verlieren. Unsere Familie darf nicht auseinandergerissen werden. 

Gewissermaßen ist mein Freund auch mein Horkrux. Ein Teil meiner Seele.

Wenn ich daran denke, wie es sich für einen Menschen anfühlen muss, die Liebe seines Lebens zu verlieren, muss ich immer an Voldemort denken. Wenn Harry Potter ihn mit dem finalen „Expelliarmus!“ entwaffnet und er sich in Staub auflöst. Der Mensch ist weg. Das Glück, nur noch Asche, verweht im Wind. Stille. Nicht, dass der dunkle Lord nun das große Glück wäre, aber ihr wisst, was ich meine. 

Gewissermaßen ist mein Freund auch mein Horkrux. Ein Teil meiner Seele. Früher war mir nicht klar, wie wertvoll er ist. Doch nun bin ich erwachsen, und Mutter, und mir bewusst, welches Glück wir haben. Dass wir uns gefunden haben. Und so verteidige ich meinen Horkrux mit Leib und Seele. Eine Kostbarkeit, die um jeden Preis gehütet werden muss. 

Das ist zwar irrational. Das ist vielleicht übertrieben. Das ist aber auch Liebe.

Ich weiß, dass meine Sorgen meistens übertrieben sind. Dass ich lieber im Hier und Jetzt leben sollte, den Moment genießen, bli bla blubb. Ich weiß, ich weiß. Aber das ist schwer umzusetzen. Und so kann ich nicht beeinflussen, welcher Verkehrsteilnehmer die Kontrolle auf der Straße verliert oder wer seinen Blumentopf ordentlich am Balkon sichert. Aber ein paar Faktoren kann ich kontrollieren, und die lassen mich ruhiger schlafen.

Ich habe in sechs Wochen Geburtstag und überlege nun, ob ich mir einen Kardiologen-Besuch von ihm wünsche. Wie schon das Phantom der Oper sang: “That’s all I ask of you.” Dabei ist mein Freund ein wunderbarer Schenker – einmal hat er mir sogar ein Hörbuch aus Märchen gemacht, die er selber eingesprochen hat. Doch nun würde mich nichts glücklicher machen als ein EKG. Elektrokardiogramm schlägt Märchen. 

Ich habe meinen Wunsch noch nicht geäußert. Ich weiß, dass er mit den Augen rollen wird. 

Dabei möchte ich ihm doch nur sagen: Mein Herz, mein Herz fürchtet um dein Herz.

Das ist zwar irrational. Das ist vielleicht übertrieben. Das ist aber auch Liebe.