sucht gesundes essen

Zu dem Bild der erfolgreichen Frau gehört es heute, sich bewusst und gesund zu ernähren. Aber was, wenn das zum Zwang wird? Die Geschichte einer Essstörung.

Als wäre ein Wocheneinkauf nicht schon stressig genug

Anderthalb Stunden. So lange war ich im Bioladen. Klar: Ein Wocheneinkauf für eine vierköpfige Familie, das dauert. Doch ich hatte nicht übermäßig lange über die Wahl der Apfelsorte nachgedacht oder die tollsten Gummibärchen herausgesucht. Was meinen Einkauf – einmal wieder – quälend in die Länge gezogen hatte, war das Studium der Inhaltsstoffe.

Zwei Jahre zurück von heute, so sieht es aus, wenn ich einkaufe: Meine Augen sind ein Scanner. Weizen, Palmöl, Zucker – sobald ich eine dieser Zutaten auf dem Etikett entdecke, wandert die Packung zurück ins Regal. Welche Kekse kommen da noch in Frage, hier, diese Packung – ach nein, da ist Sonnenblumenöl drin, viel zu viel Omega 6! Die anderen sind leider aus Weizen und gehen darum auch nicht. Langsam schiebe ich den Einkaufswagen vor mir her, in ihm türmt sich vor allem frisches Obst und Gemüse, das ich zu Hause verarbeiten werde. 

Ich weiß, dass ich keine Zeit zum Backen haben werde, entscheide mich aber dennoch dafür, gleich noch Kekse zu machen – ich finde hier ja keine! Genauso aufwendig suche ich nach den richtigen Käse-Ersatzprodukten (ohne Soja), Süßigkeiten für die Kinder (Wahnsinn, die Schokolade mit Kokosblütenzucker kostet 3 Euro!) und Brotaufstrichen. Endlich an der Kasse angekommen wird mir schwindelig, mein Blutzucker ist ganz unten. Schnell zwei Brote holen und für die Kinder eine Mohnschnecke. Ich selbst werde mir zu Hause eine Portion Nüsse gönnen. Ganz gesund.

Das Ideal: Gesund

Gesund – das ist heute wichtiger als alles andere. Das Schlankheitsideal scheint ausgedient zu haben. Es gibt dicke Fitnesstrainerinnen, Schwangere zieren Fashion-Cover, kurvenreiche Popstars tragen Netz-Kleider. Kalorienzählen ist out, es lebe die Selbstliebe! Doch Moment: Nach dem einen ist vor dem anderen Körperkult. Seit Gwyneth Paltrow von Clean Eating schwärmt, gilt das Gesundheitsdiktat. 

Eine erfolgreiche Frau ist heutzutage nicht mehr zwangsläufig schlank (wobei es immer besser ankommt, wenn sie es auch ist) – aber sie ernährt sich bewusst. Keinen Zucker, möglichst pflanzlich, viel roh, viel Wasser, ordentlich Supplemente: So sieht heute die Zutatenliste der idealen Frau aus, die auf sich achtet, sich im Griff hat und trotzdem genießt. Das Erfolgs-Triple lautet heute: Kinder, Karriere, Kontrolle über mein Essen.

Auch mein Lebensstil schien lange vor allem sehr bewusst und einfach total gesund. Wie in allen Themen begann ich mich einzulesen. Ich wühlte mich durch Nährstofftabellen, belegte einen Kinder-Ernährungskurs und war bald Expertin in Sachen „gesunde Fette“. Ich machte mir jeden Morgen einen großen grünen Smoothie (viel Blattgrün, wenig Obst, wegen des schlechten Fruchtzuckers) und merkte, wie viel besser es mir ging. 

Tatsächlich hatte mich vorher einmal im Monat ein Infekt gepackt – seit ich auf meine Ernährung achtete, wurde mein Immunsystem spürbar stabiler. Vegan wurde ich in dieser Zeit auch noch, allerdings aus ethischen, nicht aus gesundheitlichen Gründen. Dennoch gab es irgendwann nur noch sehr, sehr wenige Lebensmittel, die ich mir überhaupt zu essen erlaubte. Anderswo eingeladen zu sein, wurde zunehmend schwieriger.

Es dauerte lange, bis ich verstand, dass mit meinem Essverhalten etwas nicht stimmte. Denn ich machte doch alles genau so, wie der Zeitgeist es mir vorgab: Ich interessierte mich für gesunde Lebensmittel, kochte fast alles selbst. Die Anerkennung meiner Mitmenschen war mir grundsätzlich sicher: Wenn ich in der Kantine meinen Salatteller neben den des Kollegen mit der Spaghetti Carbonara platzierte, erntete ich bewundernde Blicke. 

Wenn Kontrolle zum Zwang wird

Ich schaffte das, woran viele der innere Schweinehund hindert: Ich kontrollierte meine Ernährung zu 100 Prozent. Nur mein Mann und meine engsten Freundinnen bemerkten, dass ich immer dünner wurde. „Nun ist aber mal gut mit dem Abnehmen“, sagte meine Freundin irgendwann zu mir. Ich fühlte mich gar nicht angesprochen, ich wollte ja nicht abnehmen, hatte nicht mal eine Waage. Ich aß halt nur fast nichts mehr.

Orthorexie – das meint die Sucht nach gesundem Essen, nach richtiger Ernährung. Noch ist sie nicht offiziell als Essstörung anerkannt und es wird noch diskutiert, ob es sich nicht eher um einen Zwang handelt. Und in der Tat fühlte ich mich jahrelang fremdbestimmt durch den Zwang, meinem Körper nur reine, gesunde Lebensmittel zuzuführen. Wenn ich doch mal über die Stränge schlug und ein Stück vegane Torte, Chips oder Alkohol konsumierte, fühlte ich mich hinterher regelrecht verschmutzt von innen. Ich brauchte dann einen Tag mit viel rohem Gemüse und Tee, um das Gefühl zu haben, dass mein Körper wieder im Lot war. 

Natürlich übertrug ich den Zwang auch auf meine Kinder: Es machte mir unfassbaren Stress, sie neben dem eher mäßigen Kita-Essen einigermaßen gesund zu ernähren. Zum Glück habe ich zwei wunderbare Töchter, die sich in Bezug auf ihren Körper wenig sagen lassen – sie verweigerten konsequent meine selbstgemachten Müsliriegel (was ich verstehen kann) und organisierten sich irgendwo anders her Kinderschokolade. Ich glaube auch, dass meine Kinder mir halfen, dass meine Orthorexie nie extrem schlimm wurde, denn ich merkte schon, dass ich einen unglaublichen Druck aufbaute. In meinem Stress, meine Kinder gesund zu ernähren, wurde ich irgendwann darauf aufmerksam, dass ich selbst ein gestörtes Verhältnis zum Essen hatte.

Der Zeitgeist

Vor zehn Jahren war Magersucht noch die pathologisch gewordene extreme Erfüllung des Anspruchs an Frauen, ihren Körper zu kontrollieren. Inzwischen werden „zu dünne“ Frauen mit beinahe ebenso großer Häme überzogen wie „zu dicke“ – zynisch gesagt: Es ist nicht mehr angesagt, magersüchtig zu sein. Doch die Forderung an Frauen, den eigenen Körper im Griff zu haben, ist nicht verschwunden – sie hat sich nur verlagert und in ein hübsches Päckchen namens „gesunde Ernährung“ verwandelt. Eine Schleife namens „Selfcare“ drumgebunden, fertig ist die moderne Essstörung. Und wir Frauen machen mit. Freiwillig. Denn ich tue das alles ja FÜR mich! 

Orthorexie passt gut in unsere Zeit, denn sie verkleidet sich als eine Form des Genusses. Offiziell muss man nur die richtigen Kochbücher kaufen, die Rezepte entsprechender Blogs nachkochen, und das gesunde Schlemmen kann beginnen. Problem: Es ist kaum möglich, in einem halbwegs normalen Alltag wirklich komplett „clean“, frisch und gesund zu essen. In der Hochphase meiner Orthorexie hatte ich ein frisch eingeschultes und ein Kindergartenkind. Ich arbeitete 40 Stunden plus die Woche. Ich wuppte das alles ziemlich gut – nach außen hin. Anspruch an die moderne, erfolgreiche Mutter überdurchschnittlich erfüllt!

Es macht langsam klick

Einmal ging ich in der Mittagspause in die Innenstadt. Ich musste irgendetwas besorgen, und ich hatte seit meinem Smoothie am Morgen den ganzen Tag noch nichts zu mir genommen. Ich wusste, ich brauchte jetzt dringend etwas zu essen, und ich wanderte vom Bäcker bis zum Fisch-Laden alle Stände ab, die es in dem Einkaufszentrum gab. Nirgendwo, wirklich nirgendwo, fand ich etwas Veganes, einigermaßen Gesundes zu essen für mich. Endlich am Sushi-Stand angekommen, wurde mir schon schwarz vor Augen, und meine Hände zitterten, als ich schließlich die veganen Röllchen in meinen Mund schob. Ich glaube, hier ahnte ich, dass das, was ich tat, mit Selbstfürsorge nichts mehr zu tun hatte.

Doch es dauerte noch, bis ich verstand, dass ich etwas ändern musste. Lange war es einfach zu schön, zu befriedigend: dieses Gefühl, über den Jieper gesiegt zu haben. Zu wundervoll fühlte es sich an, endlich einmal diejenige zu sein, die den gesellschaftlichen Anforderungen erfolgreicher entsprach als alle anderen.

Essen neu lernen

Eine Essstörung hat niemals nur eine Ursache. Und ich mache auch nicht nur die Gesellschaft, das Internet oder Instagram dafür verantwortlich, dass ich süchtig nach gesundem Essen wurde. In meiner Vergangenheit gibt es viele Gründe, die meinen Fokus so extrem werden ließen, und als ich endlich spürte, dass meine Manie wirklich nicht mehr gesund war, ging ich vielen dieser Fährten auf die Spur. Ich verstand, dass es mir ein Gefühl von Kontrolle gibt, meine Nahrungszufuhr im Griff zu haben. Kontrolle, die mir zu anderer Zeit in meinem Leben an anderer Stelle eventuell gefehlt hatte. Die Reise zu diesen Auslösern war für mich sehr wertvoll und letztlich der Schlüssel dafür, wieder zu einer einigermaßen normalen Esserin zu werden. 

Ich besiegte die Orthorexie ohne Therapie, muss aber auch dazu sagen, dass ich wahrscheinlich noch eine relativ milde Form hatte. Außerdem war ich eingebettet in einen Freundeskreis, der mich beim Kampf gegen die Essstörung ruhig und ohne Wertung stützte und stärkte. Als ich entschied, dass ich etwas ändern würde, musste ich mich teilweise zwingen, bestimmte Lebensmittel wieder zu „rehabilitieren“. Ich musste mir immer wieder sagen, dass eine Scheibe Weizenbrot mit Margarine aus Palm- und Sonnenblumenöl meinen Körper nicht vergiftet. Ich musste tatsächlich wieder essen lernen.

Heute ernähre ich mich immer noch sehr gesund, kann aber auch gut mal über die Stränge schlagen. Wenn wir eine Woche lang im Urlaub nur Nudeln und Eis hatten, kriege ich schon manchmal den Rappel und muss dann dringend ganz viel Salat essen. Den „Knall“, wie ich es jetzt nenne, werde ich wahrscheinlich nie ganz los. Aber ich habe gelernt, ihn nie wieder mein Leben und meine Ernährung diktieren zu lassen.

Beratungsstellen

Falls ihr oder jemand in eurem Umkreis mit einer Essstörung kämpft oder Symptome von einer aufweist, zögert nicht, um Hilfe zu bitten. Wir haben hier ein paar Beratungsstellen und Hilfsangebote rausgesucht.

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

Telefonseelsorge

Therapienetz Essstörung: Links zu Hilfestellen, Veranstaltungen und Literatur