geschrieben von Julia

Du bist nicht mehr da – dabei bist du es noch. 

Nur unerreichbar für mich.

Nachrichten, Anrufe – selbst Versuche, dich zufällig bei deinen Eltern zu erwischen – alles lief ins Leere. 

Du existierst nicht mehr, dabei bist du noch am Leben. 

Unsere Freundschaft existiert nicht mehr – es sind jetzt zwei getrennte Leben. 

Du warst dabei, in jeder Phase meines Lebens. Sehr lange täglich, mal halbjährlich, mal körperlich, immer öfter telefonisch, aber immer seelisch! Wenn ich an dich denke, erscheint mir immer dieses alte Foto von uns beiden vor Augen. Du und ich – mit deiner Mama und meiner Mama – Hand in Hand, tanzend im Kreis. 

Wir waren beide Clowns – Kinderfasching 1992. 

Von da an unzertrennlich – dachte ich. Bis 2021. 29 Jahre lang. 

Wir haben so vieles gemeinsam erlebt: getanzt, gelacht, geweint, gestritten, geschlagen, geschminkt, getrunken, gesungen, gefeiert, getrauert, geliebt und gehasst, gespielt, gewandert, geredet – einfach gemeinsam gelebt! 

Du weißt alles über mich – und ich alles über dich. Dachte ich!

Du möchtest keinen Kontakt mehr. 

Für immer? Ich weiß es nicht.

Wieso nach so lange Zeit? Ich weiß es nicht. 

Warum überhaupt? Ich weiß es nicht. 

Wie geht es dir damit? Ich weiß es nicht.

Ich habe viel nachgedacht – alleine geweint, alleine mir den Kopf zermartert, alleine Gedanken kreisen lassen, alleine ertragen, alleine gewütet, alleine getrauert, versucht zu vergessen, gelernt zu akzeptieren und doch noch nicht aufgegeben. 

Noch nicht losgelassen – von dir, um nicht alleine zu sein. 

Keine Freundschaft ist für mich so, wie es die unsere war. 

Du bist noch am Leben. 

Doch du bist nicht mehr da. 

“Ghosting”

So nennt man es, wenn eine Person den Kontakt zu einer anderen Person meist sehr plötzlich und unbegründet abbricht. Meist für immer – muss ich in meiner Google Recherche lesen. Es gibt ganze Bücher und Dokumentationen dazu. Und es geht mir wie allen: „Dass das mich einmal trifft?!?“ Niemand denkt wohl vorher daran. Gerade deshalb trifft es einen so hart. 

Es ist, wie wenn die andere Person tot ist – nur statt zu trauern, sucht man den Grund dafür bei sich.

Bin ich schuld für diesen imaginären Tod? Was habe ich falsch gemacht? Gesagt, getan? 

Ich habs erst gar nicht kapiert: dachte, sie ist im Stress, das Handy ist leer, kaputt; dann wieder Hoffnung: noch ein paar Mal hat Sie kurz geantwortet. Lese ich die Zeilen jetzt, sehe ich es ganz deutlich: Für Sie war unsere Freundschaft schon viel früher beendet. 

Dann kam im März vor einem Jahr ihre letzte Nachricht. „Uns geht es gut. Hör bitte auf dir Sorgen zu machen.“ Und ich wusste sofort, meine Sorgen um Sie waren berechtigt. 

Ich dachte, ok ich lasse ihr Zeit. Dann kamen die Versuche, irgendwie an sie ranzukommen. Zu fragen, was los ist. Zu verstehen. 

Die Freundschaft, die keine mehr ist

Dann kam bei mir die Wut. Und der Versuch, es gleichgültig zu nehmen. Aber wie soll man den Verlust eines geliebten Menschen gleichgültig hinnehmen? Wo doch auch physisch gar kein Verlust ist? Über wen soll ich denn trauern? Also habe ich erst einmal um unsere „Beziehung“ geweint. Um die Freundschaft, die keine mehr ist. 

Ich habe versucht, es zu ignorieren, dass unsere Freundschaft nicht mehr existiert. Aber dass sie nicht mehr existierst? Mein Herz kann noch nicht akzeptieren. Zu meinen Versuchen, der Ignoranz und meiner Wut ist auch die Sorge immer da. Natürlich sorgt man sich um seine beste Freundin. Man sucht in der Sorge eine Erklärung: Wenn sie so etwas macht, dann kann es ihr nicht gut gehen?!

Noch mehr Tränen und Trauer. Mein Kind lenkt mich gut ab. Die Kleine ist jetzt 18 Monate alt. Sie kennt meine Tochter gar nicht. Das schmerzt. Aber Ablenkung hilft zu vergessen – und Zeit hilft bei der Akzeptanz. 

Wenn ich alte Bekannte treffe, fragen Sie mich meist sofort nach ihr. Setzen mich mit ihr gleich in einen Zusammenhang. Da ich weiß, dass es ihr gesundheitlich wirklich länger nicht gut ging, habe ich am Anfang sehr zurückhaltend geantwortet. Sie sogar in Schutz genommen. Jetzt antworte ich ehrlich: „Ich weiß es nicht, sie hat einfach den Kontakt abgebrochen“ – zu meinem eigenen Schutz.

Jemand hat sie neulich doch bei ihrem Elternhaus getroffen. Sogar einen Kaffee mit ihr zusammen getrunken. Es wurde nur oberflächlich geredet. Alles sei „gut“. Aber sie sehe schlecht aus. Wieder Sorge – wieder Wut und wieder Trauer. 

Wahre Freundschaft

Und so langsam spüre ich trotzdem eine Akzeptanz wachsen. Auch aus Respekt ihr gegenüber. 

Warum auch immer es so ist, wie es ist. Es ist ihre Entscheidung – und als ihre Freundin will und werde ich das akzeptieren. Auch das ist für mich Freundschaft. Freundin bleiben, wenn die Freundschaft nicht mehr existiert.

Mir steigen wieder Tränen auf, laufen mir über die Wange. Die Trauer ist wieder da. 

Ich weiß nicht, wie oft ich noch da durch muss. Durch Sorge, durch Wut, durch Trauer – bis zur Akzeptanz.

Jedes Mal, wenn ich an etwas aus meinen ersten 30 Lebensjahren denke, an ein Ereignis, Erlebnis oder ein Fotos sehe: Sie ist bei fast allem dabei. 

Die Erinnerung an unsere Freundschaft ist immer da.

Ich kann sie gar nicht löschen.

Ich will sie gar nicht löschen. 

Ich will mich erinnern.

An diese wunderschöne Freundschaft.

29 Jahre lang. 

Ich akzeptiere ihre Entscheidung als Freundin. 

Denn wahre Freundschaft hat so etwas verdient.