Ich habe in meinem Leben schon einige Dinge gemacht, über die ich mich rückblickend gewundert habe – nicht nur über die Sache selbst, sondern über meinen eigenen Mut. Zuversicht, Selbstvertrauen und Mut wären die sehr positiven und schmeichelnden Charakteristika dafür, wie ich manche Dinge angehe. Man könnte aber auch sagen, dass da eine gehörige Portion Naivität, Blindheit und Selbstüberschätzung dabei sind – und ganz ehrlich: Ich bin mir sehr sicher, dass diese Eigenschaften auf jeden Fall ebenso zutreffend sind.
Ist das mutig oder einfach nur naiv?
Ich bin nach dem Abitur für ein Jahr nach Australien geflogen. Die Entscheidung dafür habe ich an einem Nachmittag gefällt. Ich hatte mich dafür entschieden, alleine zu reisen. Eine erste kleine Panik kam dann am Frankfurter Flughafen auf, aber auch erst, als die Verabschiedung von meinen Eltern – insbesondere von meiner Mutter – so lange dauerte, dass ich schon ausgerufen wurde. Die zweite kleine Panik kam auf, als ich am Flughafen von Seoul aufgerufen wurde – und tatsächlich ein Upgrade in die Business Class erhielt. Zwischen den ganzen Geschäftsmenschen fühlte ich mich als 18-Jährige mit Wanderstiefeln und Brustbeutel um den Hals (auf beides hatte meine Mutter bestanden) zwar nicht ganz wohl, den Komfort der Schlafschale und die Käseplatte fand ich aber schon ziemlich prima.
So richtig Panik habe ich erst bekommen, nachdem ich mutterseelenallein am Flughafen in Sydney gestanden, einen Bus in mein gebuchtes Hostel genommen hatte und dann in einem Achtbett-Zimmer landete, in dem es furchtbar roch und ich die einzige weibliche Person war. Da habe ich wirklich bitterlich geweint. Aus dem storage room habe ich noch meine Mutter und meinen damaligen Freund angerufen.
Die ersten Tage war ich ziemlich eingeschüchtert und mir sehr sicher, dass ich den nächsten Flug nach Hause nehmen würde – bis ich Anne-Marie kennen lernte und wir die nächsten zehn Monate gemeinsam durch Australien reisten, in den seltsamsten Unterkünften schliefen, allerlei arbeiteten, so viel erleben durften und Erinnerungen sammelten, die ich niemals vergessen werde. Rückblickend würde ich sagen: hervorragende Entscheidung von meinem jugendlichen Ich, diese Reise anzugehen.
Schnelle Entscheidungen aus dem Bauch heraus
Danach bin ich ins von meinem Elternhaus 600 Kilometer entfernte Berlin gezogen – einfach so, weil ich in eine große Stadt und raus aus der süddeutschen Kleinstadt wollte. Meinen langjährigen Freund, mit dem ich zwei Monate zuvor eine Eigentumswohnung bezogen hatte, habe ich nach einem Abend, an dem ich meinen jetzigen Mann kennen gelernt habe, verlassen. Mit meinem Mann bin ich dann nach einem Jahr zusammengezogen, im zweiten Jahr haben wir geheiratet und unseren Sohn bekommen.
Anhand dieser knappen Auflistung könnte man meinen, ich tendierte zu schnellen Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Das wiederum entspricht im Alltag so gar nicht meinem Naturell. Ich bin bei Kleinigkeiten total verkopft, mache mir Ewigkeiten über die kleinsten Vorfälle Gedanken und brauche mindestens 20 Minuten, um mich beim Essen für ein Gericht zu entscheiden – meine real existierende Angst ist es nämlich tatsächlich, dass ich Futterneid bekomme, falls jemand etwas besser Schmeckendes erwischt.
Und dann wiederum fackle ich nicht lange rum, wenn es um lebensentscheidendere Dinge als das Mittagessen geht. Beispiel: Wir sind vor einem Jahr innerhalb eines Monats quer durch Deutschland gezogen, von Berlin in eine Stadt in Hessen, ohne dass ich jemals davor in Hessen oder im Rhein-Main-Gebiet war oder überhaupt wusste, wo sich dieser Ort geografisch befindet.
Einmal bitte ganz anders, danke
Anfang Juni, genau zwei Tage nach dem telefonischen Jobinterview war ich zum ersten Mal in der Stadt, in die ich Ende Juni bereits ziehen sollte. An dem Tag hatten wir bereits diverse Wohnungsbesichtigungen, ein Kita-Kennenlerngespräch und stellten uns auch bei unseren zukünftigen Arbeitgebern vor. Ich habe an diesem Tag vor allem eins: funktioniert. Zum Nachdenken fehlte mir die Zeit und das war – ganz ehrlich – vielleicht auch gut so. Wer verlässt sonst mit einer Entscheidungsfindung von drei Tagen seinen Wohnort?
Rückblickend kann ich hier nur den Kopf schütteln, und gleichzeitig sage ich nach wie vor: Was für eine gute Entscheidung. Sicherlich keine leichte Entscheidung und kein leichter Weg, denn ein schneller Umzug und generell ein Umzug und Wegziehen von geliebten Menschen und einem sicheren, sozialen Umfeld, ist nie leicht. Und natürlich hatte ich in den Tagen davor immer wieder heftige Zweifel, mehrere schlaflose Nächte und diverse Wein-Attacken. Und trotzdem würde ich sagen: Wie gut, dass wir uns das getraut haben. Wie gut, dass wir diesen Weg gegangen sind und etwas Neues ausprobiert haben. Wie anstrengend das alles war und wie viel ich doch dabei gelernt habe.
Eine Sache, die ich zum Beispiel gelernt habe: Ankommen braucht Zeit. Ich bin sonst gerne schnell – schnell dabei, schnell ganz vorne und schnell fertig. Ankommen in einer Stadt, in der man nichts und niemanden kennt, braucht jedoch Zeit. Viel Zeit. Es funktioniert nicht, dass man innerhalb kürzester Zeit die besten Cafés der Stadt erkundet und richtig enge Freunde gefunden hat, wenn man sich nebenbei auch in einem neuen Job, einer neuen Wohnung und in einer ganz neuen Lebenssituation zurechtfinden muss. In dieser ganz neuen Situation war ich auf einmal dazu gezwungen, langsam zu machen. Und das war auch gut so.
Vom Ankommen und Zeitgeben
Jedem und jeder, der mit dem Gedanken spielt, in eine andere Stadt zu ziehen und etwas ganz Neues auszuprobieren, würde ich deshalb raten: Gebt euch Zeit. Es ist eine krasse Veränderung in eurem Leben und um hier wieder ein gemütliches Plätzchen, einen sicheren Raum und die eigene Komfortzone zu finden, braucht es Zeit. Wochenlang habe ich mich mit Google Maps durch die Straßen navigiert, habe anfangs immer das Gefühl gehabt, in einer Ferienwohnung zu sein und dass das hier nicht mein echtes Leben, sondern so etwas wie Urlaub (mit Alltag, Arbeit und Kita) sei. Und ich glaube, dieses Gefühl hat mir auch ganz gutgetan. So konnte ich langsam, aber sicher ankommen, ohne dass mich die Realität (Scheiße, das hier ist echt! Du wohnst jetzt echt hier!) eingeholt hätte.
Neben Google Maps waren liebe Menschen meine größte Unterstützung in diesem neuen Lebensabschnitt. Freunde aus der alten Stadt, die uns besuchten und mit denen wir die neue Stadt erkundeten, und Menschen, die ich hier kennen lernen durfte. Mit manchen war ich nur ein-, zweimal einen Kaffee trinken, weil die Chemie eben doch nicht hundertprozentig stimmte oder unsere Leben und unser Zeitmanagement irgendwie nicht zusammenpassten. Und ein paar sind mir in den wenigen Monaten schon sehr ans Herz gewachsen. Das finde ich übrigens auch ein echtes Highlight: Es gibt in jeder Stadt tolle Menschen und es ist unfassbar schön, immer wieder neue tolle Menschen und ihre Geschichten kennen zu lernen.
Was ich bei all den Veränderungen und Umbrüchen immer im Hinterkopf hatte und haben werde, ist die meiner Meinung nach sehr schlaue Taktik einer Freundin, laut der man sich immer fragen sollte: Was ist das Allerschlimmste, das hier passieren könnte? Was wäre der schlimmstmögliche Ausgang dieser Entscheidung? Was wäre denn der bestmögliche Ausgang? Und: Könnte man diese Entscheidung im äußersten Notfall rückgängig machen?