Folge 7 unseres digitalen Romans

Ich spüre so viel mehr. Nicht nur ihn, diesen fremden Mann. In mir. Da ist noch etwas anderes. Nicht mein rasender Puls, nicht seine rauen Hände an meinen Nippeln, nicht der Rosenkranz aus Holz um seinem Hals, der mir die ganze Zeit in die Finger kommt, wenn ich seinen verschwitzten Nacken packe. Nicht dieses Gefühl in meiner Vulva, als müsste ich pinkeln und gleichzeitig vor Euphorie schreien. Da ist etwas, was ich lange nicht mehr gespürt habe. Ewig her.

Noch am Morgen hätte ich jeden Menschen ausgelacht, der mir erzählt, wo ich in wenigen Stunden landen würde. Ich sitze mit Alea im weißen Sand. Es ist kurz nach Sieben, und wir sitzen schon seit über einer Stunde hier. Stapeln Muscheln, spielen Hoppe-Hoppe-Reiter, lassen Sand durch unsere Zehen rinnen. Nur die Zeit verrinnt nicht. Ein Urlaub mit einer kinderlosen Freundin heißt auch: Jeden Morgen alleine Frühschicht, warten, bis die Begleitung wach wird. Naja, auch nichts neues. Wie der Alltag mit Moritz.

Eltern sein ist extrem. Extrem schön und extrem nervig. Genau wie diese Reise. „Hm?“, murmelt mich mein Kleinkind an. „Das ist ein toter Krebs, Smartie. Darfst du anfassen. Essen nein“, erwidere ich und streichele über das arme Ding in ihrer Hand.

Urlaub mit Kind ist Alltag woanders

Ein Urlaub mit Kind ist kein Urlaub, sagen sie.

Urlaub mit Kind ist Alltag woanders, sagen sie.

Joa. Also wenn ich diesen exotischen Krebs mit einem Regenwurm austausche und den karibischen Sand mit Spielplatz-Schotter, dann leben wir tatsächlich einen ähnlichen Tag wie in good old Germany. Das Wundervolle ist: Dennoch ist alles anders. Den Wutanfall bekommt Alea nicht unter Linden, sondern unter Bananenstauden. Mein Rücken schmerzt nicht im Einkaufszentrum, sondern bei einer Dschungelwanderung. Alea zeigt nicht mehr begeistert auf Tauben, sondern Kolibris. Und wenn ich den Kinderwagen zum Mittagsschlaf verzweifelt ruckele, dann nicht in Straßen, die ich schon hundertmal bei Spaziergängen sah, sondern zwischen bunten Kolonialbauten. So anstrengend dieser Trip auch ist, ich weiß, welches Glück ich habe. Verdammtes Glück – auch, wenn ich hier nicht Erholung sammele, sondern viel wichtiger: Erinnerungen.

Während ich im Portraitmodus versuche, den perfekten Abstand zu Aleas Gesicht voller Sonnencreme zu bekommen, ploppt eine Email auf. Moritz.

Hey. Eine Erzieherin hat Geburtstag, die Eltern sammeln Geld. Hoffe Euch geht es gut“, dazu eine weitergeleitete Mail mit PayPal-Adresse der Elternsprecher. Ich bin sprachlos. Ratlos. Heißt das, dass er das nun überwiesen hat? Oder soll ich das auch noch im Urlaub erledigen? Genervt streiche ich die Email weg, ein roter Balken katapultiert sie in den digitalen Mülleimer. Mia egal.

Das erste Kennenlernen

Einst hatte nichts mehr meinen Puls höher rasen lassen als der Anblick seiner Emailadresse: moritz.im.wald@gmail.com. Er hat sie mir an dem Tag in die Hand gedrückt, als wir uns kennenlernten.

Ich war im ersten Semester, eingepackt in Schal, Tweedmantel und Selbstzweifeln auf dem Weihnachtsmarkt. Ich bin sehr emotional in der Weihnachtszeit. Kleinste liebevolle Details rühren mich zu Tränen. So ist es kaum verwunderlich, dass mich der Chor neben der Bratwurst – als er „Es ist ein Roß entsprungen“- anstimmte, zum Weinen brachte. „Alles gut bei Dir?“, fragte mich damals eine unbekannte Stimme von rechts. Dunkelbraune Locken unter einer roten Wollmütze, genauso rot wie seine Nase. Er hat einen kleinen Tannenbaum im Arm und schaut mich besorgt an. Wir starteten unsere Liebesgeschichte, unsere Familiengeschichte, mit Freudentränen. Fünf Glühwein später torkelte ich Heim, mit einem klopfendem Herzen unterm Mantel und seiner Emailadresse in meinen Handynotizen. 

Wie ein LKW

Sechs Jahre später brummt mein Smartphone am Abend erneut, als ich nach einem Ausflug mit Lupita und Alea Abendbrot esse. Schon wieder lese ich Moritz Adresse. „Ich habe das Geld für die Erzieherin überwiesen. Und ich wollte Dir auch noch sagen, dass wenn ihr beide nicht da seid, dann bin ich wie ein LKW ohne Ladung. Effizienter, schneller, aber einfach nicht komplett“. Ich stutze. Ich lese sie nochmal. Und nochmal. In der Abendsonne starre ich auf meinen frittierten Fisch.

„Ich möchte, dass du heute ausgehst“, sagt Lupita euphorisch. „Ich möchte unbedingt auf der Terrasse neben dem Babyphone sitzen und mein Buch zuende lesen“. Skeptisch begutachte ich ihr Grinsen.

Nein, Ursula“, sage ich. „Das ist Quatsch. Schwärm du in die Partynacht hinaus, ich bleibe beim Baby“. Meine Hände ruhen gelassen auf meinem Schoß, doch meine Fußspitzen wippen nervös auf dem Boden. Mein es ernst, Lupita. Bitte mein es ernst.

Ich biete das nicht zweimal an. Spring ins Bad, guapa“, sagt sie.

Ich falle der Besten, Allerbesten, um den Hals. Einen Abend Freiheit im Paradies. Ein unablehnbares Angebot.

Nena statt Reggaeton

Doch als ich etwas über zwei Stunden später an der Strandbar sitze und die Kokosnusscockails meinen Bauch kribbelig gemacht haben, fühlt sich doch plötzlich alles unaufregender an. Ich bin angesäuselt und habe keinen Bock mehr auf Reggaeton, lieber möchte ich zu Nena grölen. Ich peinlicher Alman fühle mich verloren. Die Gespräche mit jungen Backpackern kommen mir derart unwichtig vor. Wir sprechen nicht mehr dieselbe Sprache. Ihre Sorge: Dass das nächste Hostel vielleicht überfüllt ist. Meine Sorge: Die Nussallergie eines kleinen Menschen, für den ich verantwortlich bin. Und meine allergische Ehe. Die können auch Flirtversuche der Latinos nicht mehr retten. Ich bin nicht in Knutschlaune. Fühlt sich falsch an. So streife ich meine Tasche über die salzige Haut und trotte beschwipst Richtung Straße. Mein Herz trachtet nach fettigem Streetfood und Völlerei.

Senora“, schallt es hinter mir. Der Taxifahrer mit den Altenheim-Quadratlatschen lacht mich an. Er spaziert gerade mit einer Limo aus einem Kiosk. „Wo wollen Sie hin? Ich bringe sie in ein Lokal oder zurück in ihre Strandhütte, wenn sie möchten“. Er spaziert zu seinem rostigen Taxi, das mit Warnblinker am Kantstein steht. Ich starre auf die Schrottkiste, zucke mit den Schultern und steige ein.

Coco Loco und Bundfaltenhosen

Bevor ich nach Hause fahre, möchte ich aber noch ihren Lieblingsort in Cartagena sehen, de acuerdo?“, frage ich. Ich habe wieder gute Laune. Und noch bessere, als er langsam die Kupplung kommen lässt und das Radio aufdreht. Von dem ernsten Taxifahrer am Flughafen ist nichts mehr zu sehen, eine Leichtigkeit umgibt ihn. Ich erfahre, dass er Alfonso heißt, eigentlich Kapitän werden wollte, aber seit Jahrzehnten aus der Not heraus sein Geld als Taxifahrer verdient. Familie hat er nicht. Er ist 56 Jahre alt.  

Die Fenster sind unten, die schwüle Küstenluft kitzelt meine Haut. Auf dem Armaturenbrett betet eine Miniatur-Maria, ihr Blick ruht auf dem aufgeplatzten Leder der Sitze.

Er fährt mich zum Fischereihafen, nicht unbedingt der schönste Ort der Stadt. Die alten Boote treiben beinahe still im Hafenbecken, das durch ein paar wenige Laternen erleuchtet ist. Wir sind mutterseelenallein. Aber ich habe keine Angst. Im Gegenteil. „Sehen Sie…mein Lieblingsort”, sagt er stolz.

Seine Stimme ist tief und warm. Ich tue so, als würde ich die Schiffe beobachten, dabei starre ich auf seine Haare. Graue Haare, fürchterlich zurückgegeelt, dennoch: Voll und wunderschön. Ich weiß nicht, ob es am Coco Loco Cocktail liegt, an meiner Freiheit auf Zeit, am Mondschein auf den Wellen oder der aufregenden Einsamkeit mit einem fremden, alten Mann. Aber mir wird klar, wie verdammt feucht ich bin. Ich bin nicht mehr ich. Alles ist surreal, und ich möchte diesen Mann sofort in mir haben. Und da ich weder elegant, subtil oder geduldig bin, lege ich relativ plump meine Hand auf seine. Dabei sehe ich, dass er eine Bundfaltenhose trägt. Hilfe. Ist das altbacken, und heiß.

Berauscht von einem Penis, den ich nicht in und auswendig kenne

Senora“, nuschelt er und lacht mich beinahe aus. Er scheint mich nicht ernst zu nehmen und wirkt irritiert. Deshalb wende ich den alten Trick an, den ich als Teenager in der BRAVO las: Wenn du geküsst werden willst, schaue dem Objekt deiner Begierde immer wieder auf den Mund. In die Augen, auf den Mund, in die Augen, auf den Mund. Das ist lächerlich, denke ich. Was tust du da bloß?

Und dennoch: Meine einstige Bibel, die BRAVO, behält vor Maria recht. Ich werde geküsst. Erst sehr zögerlich, zart. Dann immer bestimmter, wilder. Wir fummeln wie in der 10. Klasse. Alles ist neu, aufregend. Sein Geschmack, sein Duft. Keine Bewegung lässt sich vorhersehen.  Unsere Atmung wird immer schneller, während er mit der einen Hand in seinem Handschuhfach wühlt. Er zückt ein Kondom. Er stellt mir keine Frage, sondern schaut mich still an. Mit einer Selbstsicherheit, die mich noch mehr erregt. Ich nicke aufgeregt, klettere unelegant auf den Rücksitz, ziehe meinen ollen Schlüpper aus und entwirre das Taillenband meines Strandkleides.

Noch bevor ich es ganz öffnen kann, sitzt er bereits neben mir, packt mich an der Hüfte und zieht mich auf sich. Während wir knutschen und mein Herzschlag durch die Decke geht, höre ich noch das Öffnen seiner Gürtelschnalle, und wenige Sekunden später, es geht alles so stürmisch, spüre ich ihn. Ich bin ausgefüllt. Und dabei berauscht von einem Penis, den ich nicht in und auswendig kenne. Dazu schwappt leise im Hintergrund rhythmisch das Benzin im Tank. Es ist ein fremder Rhythmus, an diesem fremden Ort, mit diesem fremden Mann. Und mitten beim Sex in der Fremde, spüre ich, nach all der Zeit, und zu meiner Verwunderung, eine alte Bekannte – die ich beinahe verloren glaubte – wieder:

Mich.