Es war ein schöner Frühlingstag, als ich begriff, dass ich als Mutter ab jetzt eine Aufgabe mehr habe. Wir fuhren auf dem Rad, meine Tochter hinter mir im Kindersitz, und ich war in der Annahme, sie würde mich durch den Fahrtwind nicht verstehen. Also zischte ich wütend: „Arschloch“. Doch man sollte nie die Ohren von Dreijährigen unterschätzen.
Meiner verbalen Entgleisung war eine Szene vorausgegangen, in der ein junger Mann auf einem Fahrrad nur knapp einem Unfall entgangen war. Dies wiederum hatten Bauarbeiter von einem Gerüst aus beobachtet und gut verständlich gepoltert: „Dann wäre es halt einer weniger.“
Einer weniger wovon? Der junge Mann auf dem Fahrrad hatte dunkle Haare und hatte, wenn man das so nennen will, ein „südländisches“ Aussehen. Es war das Frühjahr 2016, Deutschland hatte noch immer zu tun mit vielen neuen Bürgerinnen und Bürgern, die aus unsicheren Ländern in die vermeintliche Sicherheit geflohen waren, und auf einem Gerüst in Deutschland hätten sich zwei Bauarbeiter gefreut, wenn ein junger Asylbewerber gestorben wäre.
Warum sagen Leute überhaupt solche Sache?
Das Schimpfwort schien mir also angemessen. Aber natürlich zog es einiges an Gesprächen nach sich. Wieso bin ich wütend auf Menschen, die hoffen, dass andere sterben? Warum sagen Leute überhaupt solche Sache? Weshalb ist es gerade in Deutschland wichtig, darauf zu achten, dass Meinungen wie diese nicht unwidersprochen bleiben? Und so erklärten wir kurz darauf bei Streuselkuchen und Apfelschorle mal eben Rassismus. Holy moly.
Im Jahr 2020 hatten wir wieder Situationen, die mich an diesen Tag erinnerten. Wie viele andere Eltern auch, mussten wir unseren Kindern nicht nur klarmachen, wieso ein unsichtbares Virus das Leben komplett auf den Kopf stellt, sondern auch, warum wir mit unserem Verhalten vor allem andere schützen. Es gab Erklärungsbedarf, weil ständig die Nachrichten liefen, permanent Namen wie Spahn, Merkel und Drosten fielen und wir die Köpfe schüttelten über junge Frauen, die sich mit Widerstandskämpferinnen verglichen: „Mama, wer ist Sophie Scholl?“
Wir leben als Familie in Dresden und haben darum vielleicht einen kleinen Vorsprung, wenn es darum geht, Kindern politische Vorgänge zu erklären. Ich war mit meiner zweiten Tochter schwanger, als sich Ende 2014 selbsternannte „Retter des Abendlandes“ zu „Spaziergängen“ verabredeten und zuerst gegen eine vermeintliche Islamisierung, aber sehr schnell über alles wetterten, was fremd und anders erschien. Die Truppe, die unter dem fast schon lustig klingenden Titel „Pegida“ hoffentlich nicht in die Geschichtsbücher eingehen wird, rüttelte unsere Heimat ziemlich durch, es gab kaum ein Treffen mit Freunden, bei dem wir nicht darüber sprachen. Natürlich ging das an unseren Töchtern nicht vorbei.
Warum sollte man Kindern überhaupt Politik erklären? Belastet es sie nicht zu sehr, wenn sie erfahren, wie schlimm diese Welt ist?
Kinder wollen mitreden
Der Grund für den Impuls, Kinder bewahren zu wollen vor den schrecklichen Wahrheiten, liegt in einem veralteten Verständnis von Kindheit an sich. Viele Jahrhunderte lang wurden Kinder als Objekte der Gesellschaft verstanden, als nicht ganz vollwertige Mitglieder. In den letzten Jahrzehnten haben aber Umfragen gezeigt, dass Kinder sich an konkreten politischen Entscheidungen unbedingt beteiligen möchten. Viele Schulen haben Schülerparlamente installiert, aus der Kinderrechtsbewegung kommt immer wieder die Forderung, ein Kinderwahlrecht einzuführen. Wie auch immer man das bewerten will, Fakt ist: Kinder wollen mitreden. Und die Voraussetzung dafür, mitreden und letztlich mitgestalten zu können in einer demokratischen Gesellschaft, ist nun mal Wissen. Nur: Leicht zu vermitteln ist das nicht immer. Wie also erklärt man kindgerecht Politik?
Bleiben wir beim Beispiel Rassismus, derzeit leider wieder allzu aktuell. Wir (unsere Kinder sind fünf und acht Jahre alt) beginnen solche Gespräche meistens mit einer Festlegung unserer Werte: „Wir finden, dass alle Menschen gleich behandelt werden sollten. Egal, wie sie aussehen, woher sie kommen oder was sie können.“ Als nächstes folgt eine Beschreibung des Problems: „Leider gibt es einige Leute, die das nicht so sehen. Die lehnen Menschen, die aus einem anderen Land kommen, ab. Sie finden, die haben nicht verdient, gut behandelt zu werden. Oder sie wollen sogar, dass sie wieder zurück in ihr Heimatland gehen. Obwohl es da vielleicht Krieg gibt oder zu wenig zu Essen.“
Meistens folgt auf diesen Punkt in unseren Gesprächen eine riesengroße Entrüstung, die für mich oft herzzerreißend ist. In ihrer unendlichen Güte können Kinder schlicht nicht verstehen, warum Menschen so gemein sein können. Was ich dann hilfreich finde, ist es, Situationen zu besprechen, die Kinder selbst erlebt haben. Zum Beispiel, als sie die Mutter mit Kopftuch auf dem Spielplatz neulich etwas merkwürdig fanden. Oder als sie im Thailand-Urlaub darüber staunten, dass Leute sie ungefragt anfassten. Ich finde, man sollte gut aufpassen, nicht zu belehren. Wenn Kinder zugeben: „Vor diesem Mann mit der dunklen Haut grusele ich mich“, kann das uns einen Stich versetzen, aber es bringt gar nichts, wenn wir dann den Zeigefinger erheben. Aber wir können nachforschen, woher das Gefühl kommt und darüber sprechen, dass Unbekanntes oft komisch ist. Zum Beispiel so: „Es ist okay, wenn man etwas, das man erst mal nicht kennt, komisch findet. Aber es ist nicht okay, den Menschen dann schlecht zu behandeln.“ Nicht selten lernen wir in solchen Gesprächen selbst viel über unsere eigenen Vorurteile.
Und ja, wir sind durchaus schon beim Holocaust gelandet. Dieses größte Verbrechen der Menschheit ist unseren Kindern ein Begriff. Natürlich beschreiben wir den Massenmord an den Juden vorsichtig und kindgerecht – Zahlen wie „Millionen von Menschen“ können sie ohnehin schwer einordnen. Genauso sind wir sparsam mit sperrigen Begriffen wie „People of Colour“ – zu viele komplexe Informationen führen gern zu Überforderung und die Kinder machen dann zu.
In unseren Gesprächen gibt es immer wieder den irritierenden Moment, dass die Kinder – je kleiner, desto eher passiert das – plötzlich eine andere Tätigkeit beginnen oder plötzlich das Thema wechseln. Beim ersten Mal war ich völlig von der Rolle, ich hatte mir schließlich so viel Mühe gegeben und es ist doch wichtig, dass mein Kind versteht, was ich sage! Doch im Grunde schützt dieses Herausgehen aus der Situation genau vor dem, was wir Eltern oft fürchten: dass mein Kind zu stark belastet wird durch Informationen, die es noch nicht verarbeiten kann. Es schützt sich in diesem Moment also selbst ziemlich clever.
Wir dürfen unseren Kindern also durchaus etwas zumuten – aber wir dürfen ihnen auch vertrauen.
Ein noch detaillierterer Leitfaden zum Thematisieren von Rassismus: https://familiarfaces.de/wieerklaereichkindernrassismus/