Was will ich machen? Wo möchte ich meine Energie hineinstecken? Und wie komme ich dahin? Ist das, was ich gerade mache, das Richtige für mich? Was erwarte ich überhaupt vom Leben? Fragen, die vermutlich jeden Menschen irgendwann beschäftigen. Verständlich. Während wir erwerbsfähig sind, also für viele Jahrzehnte, verbringen wir circa ein Drittel unserer Lebenszeit auf und mit der Arbeit. Unsere Berufswahl ist keine kleine Entscheidung. Dr. Karin Wilcke kann dabei helfen.
Seit mehr als 20 Jahren hilft sie sowohl jungen Menschen bei ihrem Einstieg in die Berufswelt als auch Berufserfahrenen einen neuen Weg einzuschlagen und beruflich neu anzufangen. Zuerst im öffentlichen Dienst und nun seit mehr als 10 Jahren in ihrer eigenen Praxis: Übrigens hat sie auch Nina vor ungefähr 12 Jahren selbst beraten und ihr geholfen, den richtigen, eigenen Weg zu finden.
Ich habe mit Dr. Karin Wilcke gesprochen – über die Berufswelt, wie man die eigene Passion findet, wie man sich dieser widmet und wie man aus einer vielleicht nicht so passenden Branche in die jeweils richtige wechseln kann.
Wen beraten Sie und wie helfen Sie ihnen?
Vor allem junge Menschen wissen oft überhaupt nicht, was sie machen wollen und müssen sich erstmal sortieren. Dabei helfen folgende Fragen: Wo habe ich bisher gerne Energie reingesetzt? Womit beschäftige ich mich gerne innerhalb oder auch außerhalb der Schule oder Uni?
Manche haben auch schon einen Studienabschluss, aber wissen nicht, was sie damit anfangen können, welche Chancen sich ihnen damit bieten. In solchen Fällen haben sie aber schon einmal ein gewisses Kapitel dieses großen Buches der Berufswelt aufgeschlagen und dann müssen wir nur etwas genauer gucken.
Manche Berufstätige erkennen nach einiger Zeit, dass sie etwas anderes machen wollen, wissen aber nicht, wie sie es anpacken sollen. Manchmal ändert sich etwas im Leben, das den Beruf oder die Wahrnehmung dessen verändert: Ein Umzug verlängert den Weg zur Arbeit und ein Kind verändert so gut wie alles. Oder man hat das Gefühl, dass man für die Kollegen und Kolleginnen in der Firma immer noch die Werkstudentin von früher ist und dort nicht erwachsen wird. Oder sie suchen einfach etwas neues Sinnstiftendes.
Jeder Fall ist ein Einzelfall: Was bewegt diese Person und was möchte sie bewegen? Genau da knüpfe ich an.
Es ist ja so ein Henne-Ei-Problem: Man bekommt keine Erfahrung ohne Erfahrung. Wie gehe ich einen beruflichen Neuanfang an? Wie kann man die Fühler ausstrecken, damit man nicht zu sehr ins kalte Wasser springt für den neuen Job?
Mein Tipp: In der alten Firma versuchen, Erfahrungen darin zu sammeln, was man zukünftig woanders tun möchte. Ohne Erfahrungen in einen anderen Bereich zu wechseln funktioniert meist nicht. Gewisse Erfahrungen müssen vorgewiesen werden, damit es Entwicklungsmöglichkeiten gibt. Vielleicht kann man Fortbildungen im derzeitigen Job anfragen.
In Bewerbungen kann man darauf achten, die Schwerpunkte so zu legen, dass die Berufserfahrungen betont werden, an denen man in der Zukunft anknüpfen möchte.
Was mache ich, wenn ich merke, dass das Studium oder Studienfach eine falsche Entscheidung war? Durchhalten oder wechseln? Und wie wird so ein Wechsel wahrgenommen?
Dieses Durchhalten um jeden Preis – da bin ich strikt dagegen. Ich kenne eine Frau, die doppelt so lange für ihr Studium der Geophysik gebraucht hat wie vorgesehen war. Danach meinte sie, dass sie niemals in dem Beruf arbeiten will, dass er der totale Fehlgriff war und sie furchtbar gekämpft hat, um das Studium überhaupt zu beenden. Meine Frage an sie: Wozu? Da musste sowieso ein Neuanfang her und den hätte sie schon ein paar Jahre früher haben können.
Bei Wechseln liegt es aber auch immer am Winkel der Betrachtung. Ich kenne eine Frau aus den Geisteswissenschaften, die zuvor ein Jahr Jura studiert hat – in Bewerbungsgesprächen war das eine tolle Grundlage, weil sie mit juristischen Begriffen umgehen kann.
Heute arbeiten viele nicht mehr ewig in derselben Firma, sondern erfinden sich stetig neu. Aber wird Erfahrung in unterschiedlichen Bereichen als Vorteil (viele Interessen) oder Nachteil (Unentschlossenheit) gesehen?
Ich sage immer: Du hast dich jetzt für ein Studium entschieden, also für drei bis vier Jahre. Du hast dich jetzt entschieden, etwas für ein paar Jahre mit Interesse zu tun, nicht für immer. Danach kannst du gucken, welchen Weg du einschlagen willst, ob du darauf aufbauen oder in eine andere Richtung gehen möchtest. Und man kann an jeder Stelle sagen: „Ich habe es mir anders überlegt.”
Erfahrungen sammeln ist ja nichts Schlechtes. Aber man sollte auch nicht zu viele sehr unterschiedliche Dinge tun. Wenn man da nicht mehr einen „roten Faden“ erkennen kann, wirkt es unentschlossen. Im Beruf kann man auch in andere Abteilungen schnuppern. Es muss nicht gleich ein kompletter Berufswechsel oder eine andere Branche sein. Stattdessen kann man da, wo man ist, versuchen, vielseitig tätig zu werden.
Ich sehe die heutige Berufswelt mit ihrem Weiterbildungsanspruch und ihrer Durchlässigkeit mit den vielen Möglichkeiten als großen Vorteil. Tatsächlich erlebe ich aber von vielen jungen Leuten den Wunsch, eine Berufswahl zu treffen und damit die berufliche Sicherheit der Generation ihrer Großeltern zu haben.
Studiengänge und Berufe werden immer vielfältiger. Wie kann man einen Überblick bewahren und herausfinden, was es alles gibt und zu einem selbst passt?
Wenn man sich die Lerninhalte von Studiengängen oder Ausbildungen anschaut, ist man schon gut orientiert. Junge Menschen, die noch kein Gefühl für die Berufswelt haben, sollten sich damit auseinandersetzen, wie der Arbeitsalltag des Berufes, der sie interessiert, überhaupt aussieht. Viele sind dann überrascht, weil sie sich von manchen Berufen falsche Vorstellung gemacht haben.
Wenn jemand einen kreativen Beruf ausüben möchte, denken viele an Berufe wie Mediengestaltung oder Grafikdesign. Aber man kann in jedem Beruf kreativ sein. Und die kreativen Design-Berufe haben auch Grenzen, durch die Wünsche der Kund*innen zum Beispiel. Außerdem beinhalten sie viel organisatorische Arbeit. Da ist es wichtig, erst einmal den Berufsalltag zu verstehen.
Manche wissen schon seit der Kindheit, was sie werden wollen. Ist das Typsache?
Es gibt Menschen, die bei mir in der Beratung überhaupt nicht auftauchen, die zum Beispiel Kunst oder Musik studieren. Sie haben eine Begabung, die idealerweise auch von den Eltern gefördert wird und werden Musiker und Künstlerinnen. Die brauchen mich nicht.
Und manche wissen wirklich schon früh, dass sie Ärztin oder Anwalt werden wollen. Vielleicht haben sie Vorbilder in der Familie – das ist toll. Wenn es aber so ist, dass die Familie erwartet, dass ein bestimmter Beruf erlernt wird, weil zum Beispiel der Familienbetrieb oder die Tradition weitergeführt werden soll – das kann viel Druck machen.
Wichtig für Eltern und Kinder: Ab wann sollte die Berufswahl ein Thema sein? Am besten ohne Druck, sondern als Ermutigung, um Interessen zu fördern.
In der Schule gibt es meist in der 9. Klasse eine erste Berufsorientierung und ein erstes Praktikum. Ich weiß aber nicht, ob so ein Praktikum für 14 Tage viel bringt. Ich finde es wichtiger, dass Eltern ihren Kindern erzählen, was sie tun und auch verdienen. Oft können mir selbst erwachsene Menschen nicht sagen, was ihre Eltern wirklich von Beruf machen und wie viel Gehalt sie kriegen. Da wäre eine größere Lockerheit und Offenheit wichtig. Über Erzählungen von Freunden und Familie steigt das Interesse. Außerdem stöhnen viele Eltern daheim nur über ihren Beruf. Das fördert natürlich kein Interesse.
Gehalt – Sprechen wir immer mehr darüber? Was in welchem Bereich möglich ist und man erwarten kann?
Heute haben wir den Vorteil, dass es viele Datenbanken mit allen möglichen Gehaltsstufen gibt. Außerdem ist es ein Riesenunterschied, Pressesprecher*in am Theater zu sein oder bei BMW. Bei dem einen bekommt man als Einstiegsgehalt circa 2.000 Euro, beim anderen 3.500 Euro – es ist derselbe Beruf, aber in unterschiedlichen Branchen. Und je mehr es in Richtung Kultur geht, desto geringer ist leider das Einkommen. So etwas ist gut und wichtig, zu wissen.
Unser Tipp: Es gibt übrigens vom Bayrischen Rundfunk einen tollen YouTube-Kanal namens „Lohnt sich das?” Dort werden Menschen für einen Arbeitstag begleitet und es wird ganz offen mit dem Gehalt umgegangen.
Muss es immer schneller, weiter, höher gehen? Wie nehmen Sie diese Einstellungen wahr, wie zwischen Geld und Erfüllung abgewogen wird?
Es ist immer eine individuelle Entscheidung. Aber ich muss klar sagen, dass Jungs und Männer viel stärker einkommens- und karriereorientiert sind. Sie sagen klar: „Meine Lieblingsfächer waren Deutsch oder Geschichte, aber das würde ich nie studieren, da wird man nix mit. Also studiere ich BWL oder Jura.” Mädchen und Frauen denken ehe: „Was erfüllt mich? Was tue ich gerne?”
Es besteht dauerhafter Fachkräftemangel. Aber gleichzeitig wird oft betont, wie wichtig die höheren Abschlüsse für die Karriere sind. Die große Frage – Ausbildung oder Studium?
Ich bedauere sehr, dass Ausbildungen einen schlechten Ruf haben. Andere Länder beneiden uns um unser Ausbildungssystem und kopieren es. Ich bin tatsächlich der Meinung, jede Person sollte zunächst den entsprechenden Beruf, für den sie sich interessiert, im Handwerk bzw. auf Ausbildungsebene erlernen. Drei Jahre – das ist überschaubar, da kriege ich Geld und einen Abschluss und habe eine gute Basis. Dann kann man immer noch ins Studium gehen. Man ist ja noch jung.
Es ist auch wichtig, dass wir wieder ein Gefühl dafür bekommen, was Ausbildungsberufe überhaupt sind und wie wichtig sie für uns alle sind.
Es würde auch einer Ärztin nicht schaden, vorher eine Pflegeausbildung gemacht zu haben, dasselbe gilt für BWLer und eine kaufmännische Ausbildung. Es gibt ja für die meisten Studiengänge äquivalente Berufe in der Ausbildung. Den umgekehrten Weg – zuerst ein Studium auszuprobieren, das frustriert aufzugeben und dann in die Ausbildung zu gehen – empfinden viele als Herabstufung, als Scheitern. Auch wenn es nicht so ist. Man hat etwas versucht und es war nicht das Richtige. Weiter geht’s.
Übrigens gibt es einen tollen Film über junge Frauen, die Meisterinnen werden. Den könnt ihr euch hier ansehen.
Wie kann man damit anfangen, sich darüber Gedanken zu machen, wie ein beruflicher Neuanfang aussehen kann? Haben Sie Tipps wie „Wenn du keine Angst haben würdest, was würdest du dann machen?”
Ich würde überlegen: Was müsste gegeben sein, damit ich das Gefühl hätte, ich bin angekommen? Müsste ich nettere Kolleg*innen haben? Mehr Anerkennung? Mehr Verantwortung? Müsste ich der Chef oder die Chefin sein? Was müsste mir geboten werden, damit ich zufrieden bin?
Was stört mich und was wünsche ich mir? Was tue ich gerne? Was fehlt mir konkret in meinem Arbeitsalltag? Manchmal reicht es auch, den Arbeitgeber zu wechseln, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, aber nicht gleich den gesamten Beruf. Aber manchmal ist man wirklich im falschen Beruf.
Um solche und weitere Fragen zu klären, stehe ich gerne zur Verfügung.
Was war der krasseste berufliche Neuanfang, den Sie begleitet haben?
Das war eine Frau Anfang 30. Nach der mittleren Reife ist sie durch einen Nachbarn in einen Büroberuf gerutscht für circa 16 Jahre. Aber sie hat über die Jahre den Traum entwickelt, ein Café aufzumachen. Da bin ich immer vorsichtig, denn man braucht eine gute Basis. Es geht nicht einfach so – einen Raum anmieten, drei Kuchen backen und los geht’s. In der Freizeit backte sie gerne für Freunde und Familie, aber Vollzeit? Ich habe ihr zu einem Workshop bei einer Konditorei geraten. Die waren so begeistert von ihr, dass sie sie fragten, ob sie dort eine Ausbildung machen will. Das hat sie gemacht und somit das notwenige Fundament bekommen und hat danach ein Café eröffnet.
Ist es NIE zu spät, beruflich neu anzufangen?
Nein, niemals, niemals. Selbst mit 60 nicht. Nie.
Mehr zu Dr. Karin Wilcke und ihrer Arbeit, findet ihr hier.