Klirrende Kälte. Eisige Finger, die das Feuerzeug kaum bedienen können. Egal, die paar Goldregen müssen noch angezündet werden. Die Zehen sind kaum noch spürbar, aber man wollte ja nicht – immerhin ist heute ein glamouröser Feiertag – mit den hässlichen warmen Boots zur Party.

Immer schön lächelnd an der verqualmten Straße stehen und „Whooo“ rufen. Euphorie besser vortäuschen als den Orgasmus als Teenager. Dazu latent die Angst, dass die gute Jacke ein Brandloch von der Betrunkenen mit der Wunderkerze bekommt. Silvester. Bah. Der schlimmste Tag des Jahres. Manchen graut es vor der 666, mir vor der 31.12.

“Und? Wie feierst du?”

Einst war Silvester ein Jahreshighlight. Zumindest als Kind. Lange wach bleiben, spektakuläre Feuerbälle am Himmel, Knallerbsen am Grund. Doch schon in den späten Teenagerjahren verlor der Tag seine Magie, vor allem durch den unsäglichen Druck der Frage:  „Und? Wie feierst du?“

Egal wie ich feier – ich feiere falsch. In einer Welt der schier unbegrenzten Möglichkeiten fällt die Wahl schwer, denn mit jeder Entscheidung, die getroffen wird, fallen zig andere weg. Makkaroni-Auflauf oder Ofenkäse – das ist leicht, denn den Plan B kann ich auch noch den nächsten Tag futtern. Silvester mit den Fernsehleuten in Köln oder der Abi-Gang in Hamburg feiern? Unmöglich zu entscheiden. Die Party kann nicht nachgeholt werden. Niemals. Und welche Freunde würde ich mit einer Absage eher verprellen? Dazu die Misere mit dem Partner. Die Zahl der Einladungen verdoppelt sich mit dem Beziehungsstatus. Furchtbar.

Genau wie der Smalltalk über Silvester mit Arbeitskollegen oder der Bekannten, die man eigentlich nicht mag, vor der man aber auch nicht uncool dastehen möchte. Guten Freunden kann ich ehrlich sagen, dass ich dieses Jahr nur etwas Gemütliches zu zweit unternehme. Und mit unternehmen meine ich Rumlungern. Aber vor potenziell „Fremden“ schäme ich mich. Absurd. Eigentlich ist mir die Meinung anderer meist herzlich egal, aber bei Silvester wirkt alles, was nicht an eine lustige Runde mit Freunden oder Familie grenzt, als wäre ich eine einsame Katzenlady.  

Bum und Dreck

Die einzig sichere Antwort auf die Frage, was ich Silvester vorhabe ist: mich fürchten. Ich bin ein schreckhafter Mensch. Wenn der Paketbote klingelt, zucke ich zusammen – eine lästige Probe für mein Herz während des Lockdowns. Raketen kann ich noch ertragen, der Knall ist weit weg und vorhersehbar. Aber Böller… Warum. Warum? Warum nur? Ich werde es zu Lebzeiten nicht verstehen. Es macht Bum. Bum und Dreck. Und verletzt nicht selten unschuldige Menschen, die nur kurz zu ihrer eigenen Sektflasche auf dem Asphalt huschen wollten, um ihre Rakete abzufeuern. Dann seufzen sie enttäuscht „Hach, naja“, denn die Drogerie-Rakete ist nicht rund explodiert, sondern nur so seitlich. Ihr wisst, was ich meine. Die billigen krummen. Die Armin Laschets unter den Raketen. Aber immer noch besser als gruselige Böller.

Sowieso ist vieles an Silvester gruselig. Der Gedanke, dass man sich bald wieder bei Unterschriften konzentrieren muss, das richtige Datum hinzuklatschen. Unangenehme Whatsapp-Nachrichten von Tante Corinna, die einem Kettenbrief aus den Neunzigern gleichen und viel zu viele Emojis beinhalten. Was bedeutet Tangotänzerin neben Eipfanne neben Mond? Der unerträgliche Müll, der sich noch tagelang durch die Stadt zieht. Gänsehaut bereitet auch der „kultige“ schwarz-weiß Film, den doch wirklich niemand amüsant finden kann. Dinner for no one, please! 

Und warum hypen wir eigentlich Bleigießen? Aus Gründen der Physik kommt zu 99% ein langgezogenes Spermium heraus. Obwohl: Bei den neuen Ökodingern ohne Blei ist das häufigste Motiv ein enttäuschtes Gesicht – bei den Partygästen. Orakelgießen mit Blei ist wie das Einleitungsmedikament Cytotec: Irgendwie verboten, aber immer noch geiler als die Alternativen.

Same procedure as every year

Auch geil: Zerlaufener Raclette-Käse. Ungeil: Zerlaufene Mascara, weil der Liebeskummer an Silvester ganz symbolisch doppelt zuschlägt. Geil: Sich die Menschenmenge am Brandenburger Tor anschauen und froh sein, dass man nicht im Gedränge steht. Ungeil: Tischbomben. Das letzte, was ich brauche, ist noch mehr Müll made in China. Übrigens fast jedes Jahr einer meiner Vorsätze: deutlich weniger Müll produzieren. Same procedure as every year. Mit einem Neugeborenen ist dieses Ziel definitiv weiter in die Ferne gerückt.

Das Unangenehme an dieser überbewerteten Festlichkeit ist außerdem der ständige Blick auf die Uhr. Dieses Ich-darf-nicht-vor-Mitternacht-Abhauen, was dann nahtlos in Ist-halb-eins-schon-zu-frech?-Gefühl übergeht. Die Uhr. Der komische Countdown, den man mit seinen Freunden brüllt – und während man „Acht“ brüllt, ist der Balkon ein paar Meter weiter schon bei „Drei“. Toll, dabei haben wir doch extra eine Funkuhr benutzt.

Vielleicht kommt mein Neujahrshass auch von einem Paillettenkleidtrauma. In meinen wilden 20ern wollte ich unbedingt mal Silvester in einem Pailletenkleid verbringen. Jahr für Jahr habe ich sie online bestellt, Jahr für Jahr festgestellt, dass Pailletten auftragen und unbequem sind, und habe sie Jahr für Jahr zurückgeschickt. 365 Tage später war ich wieder der Annahme: Ach Mensch, ein Paillettenkleid, das wärs doch! Dabei müssten Deutschlands Online-Händler bereits eine rote Warnleuchte gehabt haben: Bestellung von Alina Pelling Ende Dezember? Achtung, das wird nichts. But dream on. 

Eine jährliche Tradition, die mir tatsächlich ans Herz gewachsen ist: Die Schornsteinfegerpflanze. Ihr wisst schon. Diese hässlichen Dinger von Blume2000 oder der Tankstelle: Ein Glücksklee mit Pfennig und Schornsteinmännchen zum Neujahr. Meine Mama – eine wahre Almanfrau mit einem Herz für Tüdelkram – liebt das Gestrüpp offensichtlich. Jedes Jahr bekamen wir Kinder eins geschenkt. Vor drei Jahren gab es plötzlich keine mehr – erst dann wurde mir bewusst, wie schmerzlich ich die Tankstellenpflanze vermisse.

Silvester, nicht Sylvester

Neben großen WG-Feten mit Partyhütchen und klebrigem Konfetti-Bier-Boden, neben überteuerten All-inclusive-Nächten und unspritzigen Spieleabenden hatte ich dabei zwei ganz wunderbare Silvester: Platz 2 geht an eine Bootsfahrt mit einer Freundin 2018. Wir haben unsere Männer weggeschickt, gemütlich Miracoli-Bolognese gekocht, sind zwei Stunden auf der Elbe in einer billigen Barkasse geshippert und haben um Mitternacht zu Schiffshupen und ABBAs „Happy New Year“ den Hafen glitzern sehen. Das war schon – wie einst als Kind mit Knallerbsen – sehr magisch.

Platz 1 geht an vergangenes Silvester: mit frischer, juckender Kaiserschnittsnarbe auf dem Balkon. Das kleine Bündel in der Trage. Nachmittags haben wir geil gekocht und im Pyjama rumgelungert. Gammeln an Silvester ist doppelt und dreifach schön.

Deshalb plädiere ich dafür, die nervtötendste Frage „Wie feierst du Silvester?“ abzuändern in: Wie machst du es dir am 31.12. gemütlich? Denn niemand kann Ofenkäse und Badekugeln verurteilen. Und Paaren, die mit sich hadern, ob sie ein Kind zeugen sollten, rate ich: Tut es. Es ist die allerbeste Ausrede, um der schlechtesten Party des Jahres zu entkommen.

Und da ich am Ende dieses Artikels hoffentlich noch eure Aufmerksamkeit habe:
Silvester! Sylvester ist der Schauspieler. Kleiner Reminder.