geschrieben von Alina Pelling

Salzige Tränen tropfen auf die Tastatur unter mir. Tränen am Hals, im Schal, Tränen auf der Oberlippe. Es ist ein bewölkter Mittwoch, als ich auf der Arbeit die Nachricht meiner Frauenärztin bekomme, dass es wieder ein Junge wird. „Der Bluttest ist ausgewertet. Glückwunsch, Sie bekommen noch einen Sohn“, sagt sie. Ein Schlag in die Magengrube. Bum. Ich stocke. „Ah, super“, flüstere ich und lege apathisch auf. Ich starre aus dem Fenster und habe das Gefühl, dass sich mein Brustkorb zuschnürt.

Ich, die in der 15. Schwangerschaftswoche ist. Ich, die sich schon immer zwei Mädchen gewünscht hat. Ich, die nach meinem ersten Sohn so gehofft hat, dass der Traum einer Tochter ja beim zweiten Kind noch wahr werden könnte. Ich, die schon mehrere Artikel über sogenanntes „Gender Disappointment“ geschrieben hat und im Freundeskreis dafür bekannt ist, offen zu dem Geschlechterwunsch für mein Kind zu stehen. Und dafür auch heftig kritisiert wird.

Doch das ist heute egal. Diese Zeilen sind für all die Frauen, die wie ich jetzt mit Schmerzen in der Brust im Bett liegen oder mal lagen oder womöglich eines Tages liegen werden. Frauen, die sich für ihre Gedanken schämen, die auf Unverständnis stoßen, belächelt werden und plötzlich das Gefühl haben, dass sich die Tritte im Bauch seltsam fremd anfühlen.

Scham, Schmerz, stotternde Sprachnachrichten

Drei Tage nach der Nachricht dachte ich, dass sich der erste Schmerz über den Verlust eines Menschen, den ich nie kennenlernen werde, meiner Nicht-existenten-Tochter, gelegt haben müsste. Dass jetzt doch die Freude kommen müsste. Stattdessen liege ich im Bett, schluchze, krümme mich, habe Schuldgefühle, Scham, Schmerz, schicke stotternde, hilflose Sprachnachrichten an Freundinnen. Melde mich krank. Rufe meine Hebamme an, ein Herz von Frau. Sie ist für mich da, beruhigt mich, versichert mir, dass alles gut sein wird. „Für dich ist ein Traum gestorben, die Trauer muss jetzt raus. Sonst stauen sich alle Gefühle auf und das wollen wir ja nicht. Raus damit, rede, weine, ruf mich jederzeit an.“ Ich kann mich glücklich schätzen, so eine Hebamme an meiner Seite zu wissen.

Nach sechs Tagen kann ich arbeiten gehen, ohne plötzlich mitten auf der Straße in Tränen auszubrechen. Ich bin trotzdem lustlos. Freudlos. Ich lächle mit meinen Kollegen, aber tief im Herzen möchte ich auf den Flur rennen und mich auf den Boden legen. Meine Hebamme hat mir geraten, die Hände immer mal wieder auf den Bauch zu legen und mit dem Baby zu sprechen. Jedes Mal, wenn ich mir das vornehme, bekomme ich Beklemmungen. Ich schaffe nicht, meinen eigenen Bauch anzufassen. Wenn ich seine zarten Tritte in mir spüre, bin ich zwar erleichtert, dass er da ist, dass er bei mir ist, aber ich habe keine Verbindung zu ihm.

Ich bin erschrocken, dass es mir jemals so gehen könnte.

Dabei hatte ich geahnt, dass es nicht leicht werden würde. Ich wusste von meiner Sehnsucht nach einer Tochter, schon ewig. Meine Tante hat mir gerade erst erzählt, dass ich als Zwölfjährige zu ihr meinte: „Es tut mir sehr leid für dich, dass du zwei Jungs hast. Am Tisch reden die ja immer nur über Tennis.“ Ich kann mich an den Satz nicht erinnern. Aber daran, dass ich schon als junges Mädchen oder Studentin eine Art Mitleid mit sogenannten „Jungsmamas“ empfunden habe. Wie grausam. Wie kann ich so denken?

Eine Mutter-Tochter-Beziehung, wie ich sie kenne

Ich habe eine enge Beziehung zu meiner Mutter und Schwester. Und auch wenn ich eine sehr, sehr gute und liebevolle Beziehung zu meinem Vater habe, ist es mit meiner Mutter doch etwas anderes. Vielleicht, weil sie mein Geschlecht hat? Vielleicht, weil sie aus einer Generation kommt, in der die Mutter die gesamte Elternzeit größtenteils alleine die Care-Arbeit übernommen hat? Ich vermute, dass das der Kern meiner Sehnsucht ist. Eine enge Mutter-Tochter-Beziehung selber zu erleben, wie ich es kenne. Und dass ich gleichzeitig viele Beispiele im Umfeld habe, bei denen sich die Männer kaum bis gar nicht bei ihren Müttern melden.

Meine Schwester sagte mir einst, dass ich mich nicht sorgen soll, dass ihr Mann auch eine total enge Bindung zu seiner Mutter habe. Und dann beobachte ich ihn, wie er mit ihr darüber redet, was noch im Garten zu tun ist oder ob die DVBT-Antenne wieder geht, und fühle nicht das gleiche, als wenn ich Freundinnen beobachte, die ihre Mutter bei Liebeskummer oder der größten Freude anrufen. Gefühle teilen, Euphorie teilen. Früher dachte ich, ich würde mich nur nach einem Leben mit einer Tochter im Erwachsenenalter sehnen. Dass es im Kindesalter eigentlich egal ist.

Mein Sohn ist nun zwei Jahre alt und ich muss gestehen: Nein. Ich habe auch Bock auf Zöpfe. Ich möchte süße Haarspangen in kleinen Shops kaufen. Ich ziehe meinem Sohn alle Farben der Welt an, aber dennoch werde ich neidisch, wenn ich weihnachtliche Cord-Kleider in der Kinderabteilung sehe. Ich dachte immer, ich bin nicht so girly, aber nun muss auch ich mir eingestehen: Doch, auch die Genderkacke im Kindesalter spielt eine Rolle, wenn auch eine kleinere. Mein Handy macht aus „Mädchen“ im Autokorrektmodus übrigens „Märchen“. Welch Ironie.

Scheiße. Ich brauche professionelle Hilfe.

Seit der Nachricht der Frauenärztin habe ich geahnt, dass ich professionelle Hilfe brauche. Aber so ganz wahrhaben wollte ich es dann doch nicht. Soll ich in Therapie gehen, weil sich das Wunschgeschlecht für mein Kind nicht erfüllt hat? Das ist lächerlich. Eine Therapie, obwohl ich der glücklichste Mensch der Welt sein sollte, ein gesundes Kind in mir tragen zu dürfen? Der Moment, in dem ich mich entschließe, Hilfe zu suchen, ist an einem Montagabend im Einkaufszentrum. „Zum Glück ist Weihnachtszeit, da bist du immer so fröhlich und euphorisch“, sagt mein Freund zu mir.

Ich blicke in die Fensterläden, an die Tannen-Deko und Lichter und fühle … nichts. Ich fühle mich leer. Ich erkenne mich nicht wieder. Ich rufe noch am selben Abend meine Hebamme an und frage sie nach Kontakten. Das geht so nicht weiter. Nicht für mich, vor allem nicht für dieses Kind im Bauch, dass Feenstaub, Schokokuchen und unendliche Liebe verdient hat. „Es ist gut, dass du dir Hilfe suchen willst, sonst schlitterst du in eine Depression hinein“, höre ich meine Hebamme am Telefon sagen. Ich schüttele selbst den Kopf über mich. Scham, Scham, Scham.

Was mir unglaublich hilft, sind die Reaktionen meiner Freundinnen und meines Partners. Ich habe meinen Freunden ehrlich und relativ schonungslos erzählt, was in mir vorgeht. Freundinnen, die mir vorher versichert haben, dass „ihnen das Geschlecht echt egal ist“, haben mir gebeichtet, auch schlaflose Nächte gehabt zu haben. Sogar eine Freundin, die einen jahrelangen Kinderwunsch und künstliche Befruchtung hinter sich hat. Mein Freund hat zunächst ruppig reagiert. Als ich ihn heulend mit den Nachrichten der Frauenärztin angerufen habe, hat er mich angepampt: „Du hörst jetzt auf zu weinen. Wir bekommen noch ein Kind, wir freuen uns jetzt.“ Als ich schluchzte, dass er mir diese Zeit geben muss, traurig sein zu dürfen, sagte er: „Du darfst jetzt eine Woche weinen. Danach will ich nie wieder was davon hören.“ Stille. Ich habe mich ihm noch nie so fremd gefühlt.

Als ich dann abends Heim kam, hatte er Soul-Food gekocht, frische Blumen auf den Tisch gestellt, sich auf das Sofa gelegt und mich in seiner Armbeuge weinen lassen. Jedes Streicheln über meine Stirn war ein kleines Pflaster. Er gibt mir nun natürlich mehr als sieben Tage Trauer. Fragt mich, wie es mir geht, und lässt mich schweigen, wenn ich Stille brauche.

Ich weiß noch, wie mein Sohn einen kleinen Wutanfall hatte, weil er irgendetwas nicht durfte. Da habe ich gesagt: „Süßkeks, manchmal bekommen wir nicht, was wir wollen und dann darf man auch traurig und wütend sein“, und da hat mein Freund meine Hand genommen und sie gedrückt. Noch ein Pflaster. Er hat mir außerdem gesagt, dass er auch ein wenig traurig ist, nie zu erfahren, wie es wohl als Papa mit einer Tochter ist. Dass er das schon cool gefunden hätte, mal beides zu erleben. Aber das trübt nicht die Freude über die Schwangerschaft und schon gar nicht die Zuneigung zu seinem zweiten Sohn.

Was nun?

Knapp drei Wochen nach der Nachricht stehe ich nun auf der Warteliste für Therapeuten, die sich sonst mit postpartaler Depression oder Geburtstrauma auseinandersetzen. Ich habe mir das Buch „Ein Kleeblatt voll Jungs“ über Geschlechtsenttäuschung gekauft. Morgen ist außerdem meine erste (Selbstzahler-)Stunde bei einer Hebamme, die auch Psychologin ist und per Hypnose Frauen dabei hilft, wieder eine Verbindung zu ihrer Schwangerschaft herzustellen. Ich möchte einfach alles versuchen, was geht. Laut meiner Hebamme habe sie schon vielen Frauen mit Gender Disappointment geholfen.

Eine Überweisung von meiner Frauenärztin habe ich übrigens leicht bekommen. Sie habe jedes Jahr zwei Handvoll Patientinnen, die wie ich in eine Krise stürzen. Oft seien es Frauen, die ein schlechtes Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter hätten und durch eine Tochter das sozusagen für sich „reparieren“ wollen. Außerdem seien es oft Alleinerziehende. Anscheinend empfinden viele den Weg „leichter“ als verbündetes Mutter-Tochter-Gespann. Wie Lorelai und Rory Gilmore. Ich bin gespannt, was meine zukünftige Therapeut:in ausgraben wird, von dem ich vielleicht noch nichts weiß, oder ob es mir einfach helfen wird, viel zu reden und mich selber zu reflektieren.

Es kann nämlich nicht sein, dass ich nun Schmerzen in der Brust kriege, wenn jemand die Wörter „meine Tochter“ in den Mund nimmt. Oder dass ich Tränen unterdrücken muss, wenn mir Kolleg:innen erzählen, dass „ein zweiter Sohn ja toll für den Bruder ist, aber Jungs ja Streitigkeiten immer so körperlich austragen im Kindesalter.“ Ich möchte mit strahlenden Augen wieder sagen können: „Wir bekommen ein Kind und es wird wieder ein Junge.“

Ich möchte mich, wie in der ersten Schwangerschaft, stolz vorm Spiegel drehen und über dieses magische Gefühl in mir freuen, während ich gleichzeitig über Sodbrennen meckere. Ich möchte diese letzte Schwangerschaft voller Liebe in mich aufsaugen können, denn es wird meine letzte bleiben. Ein drittes Kind kommt für mich nicht in Frage. Mein Freund hat mir sogar angeboten, die geplante Vasektomie nicht zu machen. Vielleicht doch noch ein Drittes zu bekommen. Aber ich würde es nur machen, um nochmal die Chance auf eine Tochter zu bekommen. Ich finde, man sollte ein Kind des Kindes wegen wollen und nicht wegen des Geschlechts. Ich verstehe nur nicht ganz, wie mein Kopf da rational sein kann und gleichzeitig der Satz „Hauptsache gesund“ meine Trauer gerade nicht wegspülen kann.

Was ich noch gar nicht erzählt habe: Ich habe bei der Zeugung dieses Kindes versucht, das Schicksal zu beeinflussen. Habe mir den chinesischen Mondkalender angeschaut, habe mich sauer ernährt. Habe nach der Shettles-Methode meinen Eisprung berechnet, extra keinen Höhepunkt gehabt, extra Missionarsstellung. Zeugung: 6 Tage vor ET (errechneter Termin). Vorbildlich. Als mein Freund dann zwei Tage später wieder mit mir schlafen wollte, habe ich um ein Kondom gebeten. Denn laut Berechnungen hätten an dem Tag wieder die männlichen Spermien einen Vorteil gehabt.

Wir haben uns dann gestritten. „So schlafe ich nicht mit dir. Das ist krank“, hat mein Freund gewettert. Wir haben den restlichen Monat nicht mehr miteinander geschlafen. Tief im Inneren, wusste ich, dass er recht hat. Aber ich wollte einfach, falls auf dem Ultraschall doch ein Penis zu sehen sein sollte, nicht ein Leben lang denken: Hättest du mal keinen Orgasmus gehabt. Ich wollte es einmal versuchen, um im Nachhinein kein Hätte-wäre-Könnte zu empfinden.

Was habe ich nun? Hätte-wäre-Könnte. Wie wäre das Leben mit einer Tochter? Wahrscheinlich ganz anders, als ich es mir immer ausmale. Nur leider kann ich diese Erfahrung nicht machen. Wie bei einem Mann, für den man schwärmt, aber nie erfährt, wie es wirklich mit ihm gewesen wäre. Und man ihn dann auf einen Sockel hebt.

Ich habe manchmal das Gefühl, mein ganzer Bekanntenkreis kann seine Träume noch erfüllen. Das Haus am See? Möglich, wenn du es wirklich willst und dafür kämpfst. Die Korrespondentenstelle in Bolivien? Möglich, wenn du es wirklich willst. Doch mein Traum ist jetzt irgendwie zu Ende. Er ist nicht mehr erfüllbar, obwohl ich es so sehr wollte.

Freude ist kein Schalter, den man einfach umlegen kann

Alles wird gut, wenn das Kind erstmal da ist“, höre ich meine Freundin sagen. Das Problem: Das haben alle beim ersten Kind auch gesagt. Und obwohl mein kleiner Bub mein Leben ist und mein Herz täglich platzen lässt, ist die Sehnsucht nach einem Mädchen nicht verschwunden. Daran muss und möchte ich nun arbeiten. Dass mein Herz auch mit meinen beiden Söhnen vollkommen erfüllt und glücklich ist. Meine Hebamme sagt immer, dass dieses Gefühl wohl nie ganz weggehen wird. Dass ich immer mal wieder im Leben denken werde: „Ach, diese Situation hätte ich gerne mit einer Tochter erlebt.“ Aber dass ich das irgendwann schmerzfrei sagen kann. Einfach als Feststellung.

Einen kleinen Hoffnungsschimmer durfte ich am Wochenende erfahren. Ich habe Karten geschenkt bekommen zu einem Weihnachtsmusical. Singende und tanzende Elfen, Schneeflocken-Ballett, Weihnachtslieder in allen Formen. Ich hatte Tränen in den Augen und hatte das freudige Weihnachtsgefühl wieder im Bauch, die Glückseligkeit dieser Jahreszeit. Das Baby im Bauch hat so fleißig getreten. Ich fand es sogar kurz schön und konnte meine Hand drauflegen. „Du bist weder Mädchen, noch Junge, du bist einfach ein Weihnachtsfan“, dachte ich.

Freude ist kein Schalter, den man einfach so umlegen kann. Aber meine Familie, Freunde und Profis werden mir helfen, ihn immer öfter anknipsen zu können. Damit es spätestens im Kreißsaal vollkommen hell ist.