Ob kritische Kommentare zu deinem Aussehen, deiner Kindererziehung oder deinem Beziehungsleben. Du willst nicht länger von anderen Menschen emotional verletzt werden? Wie du verbalen und non-verbalen Angriffen Grenzen setzen und die Angst vor Ablehnung loslassen kannst.

Ich erinnere mich noch gut daran, als ich das letzte Mal mit der Verletzung der persönlichen Grenzen zu tun hatte. Eine Freundin von mir war von einer ihr nahestehenden Person in Sachen Kindererziehung hart kritisiert worden. Sie fühlte sich tief getroffen. Im Affekt reagierte sie heftig auf diese Kritik und es wurde ein großer Streit daraus. Das hätte sie gerne verhindert. Doch wie kann ich meine persönlichen Grenzen schützen, ohne ein großes Drama vom Zaun zu brechen? Dazu habe ich mich mit Beziehungscoach Masha Hell-Höflinger unterhalten. Sie ist Mitbegründerin der Beziehungs-Academy SozialDynamik und selbst Mama von zwei Söhnen.

Liebe Masha, wie hättest du reagiert, wenn du zu deiner Kindererziehung kritisiert worden wärst?

Ich kann gut verstehen, dass deine Freundin so heftig reagiert hat, dass es zum Streit kam. Kritik trifft uns besonders in sensiblen Bereichen, in denen wir nicht ganz sicher sind. Der Bereich des Mamaseins ist einer, in dem wir unter großem Druck stehen. Die Ansprüche der Gesellschaft und auch unsere eigenen sind so hoch, dass es unmöglich ist, all dem gerecht zu werden. Es kann große Erleichterung bringen, wenn du realisierst “Jemand hat meine Grenze überschritten. Aber ich bin da auch leicht zu treffen, weil meine Ansprüche an mich, eine tolle Mama zu sein und auch so wahrgenommen zu werden, vielleicht zu hoch sind”. Eine aggressive Reaktion bringt immer nur noch mehr Aggression. Stattdessen kannst du um Akzeptanz bitten: “Beim Thema ‚Mama sein‘ bin ich so empfindlich. Ich gebe da wirklich alles, lass uns darüber bitte so nicht sprechen.”

Wenn ich realisiere, ich muss nicht andere davon abhalten kritisch mit mir zu sprechen, sondern ich kann bei mir etwas dafür tun, dass ich nicht mehr so verletzlich bin, gibt mir das meine Macht zurück. 

Ja, es ist eine Befreiung und die Gelegenheit zu sagen “Ich sehe zu, dass ich in diesem Thema selbstsicherer werde”. Gerade bei Themen wie Kindererziehung, Beziehung oder Karriere sind wir so bestrebt, allen Ansprüchen zu genügen, dass wir uns gar nicht mehr die Erlaubnis geben, nicht perfekt zu sein. Ich kann lernen, mir zu sagen “Für meine Lebensumstände, beispielsweise mit einer Mehrfachbelastung durch Haushalt, Kind, Job oder Pflege der Eltern, gebe ich mein Bestes. Und das, was ich schaffe, ist eine ganze Menge”. Wenn du in dieser Wahrheit ankommst – als Mensch, als Mutter, als Partnerin – kannst du ganz entspannt bleiben. “Interessant, dass du so über mich denkst, aber ehrlich gesagt, sehe ich das anders und möchte das mit dir so nicht oder gar nicht besprechen. Ich bin mit der Art und Weise, wie ich Mama bin, völlig im Reinen.”

Das klingt so einfach, in der Realität ist es aber schwierig, in kritischen Momenten ruhig zu reagieren. Warum ist es so schwer für uns, unsere persönlichen Grenzen zu schützen?

Um unsere Grenzen schützen zu können, müssen wir wissen, wo sie sind. Doch im Alltag sind wir oft so sehr für andere da, dass wir keine Zeit mehr haben, auf unsere persönlichen Grenzen zu achten. Wenn jemand unsere Grenzen verletzt, schnürt es uns vielleicht die Kehle zu. Oder wir bemerken es erst viel später, an einem negativen Gefühl im Bauch oder Brustkorb. Außerdem wird in unserer Gesellschaft selten über persönliche Grenzen und Werte gesprochen. Stattdessen werden viele von uns von klein auf getrimmt, persönliche Grenzen zu übertreten. Beispielsweise wenn wir auf uns verzichten, um unsere Eltern nicht zu belasten oder die Belastungsgrenzen mit dem/der Partner*in oder der Arbeit. 

Beim Coaching unterscheiden wir fünf Bereiche der persönlichen Grenzen: Emotionale Grenzen, mentale Grenzen, Grenzen unserer Zeit und Energie, materielle Grenzen und körperliche Grenzen.

Emotionale Grenzen werden beispielsweise im Streit mit dem/der Partner*in verletzt, wenn sie uns im Streit mit verächtlichen Worten kritisieren. Materielle Grenzen werden verletzt, wenn ein Freund ein geliehenes Buch kaputt zurückgibt. Oder wenn eine Freundin sich, ohne zu fragen, eine Flasche Wein aus dem Weinregal nimmt. Die Grenzen unserer Zeit und Energie werden oft bei der Arbeit verletzt, wenn unser/e Chef/in uns immer noch mehr Arbeit auf den übervollen Schreibtisch packt.

Aber auch im privaten Bereich kann es Grenzverletzungen geben. Zum Beispiel wenn eine Freundin immer wieder unsere Zeit beansprucht, um uns ihr Leid in Sachen Liebe zu klagen. Deine mentalen Grenzen wirst du spüren, wenn jemand anderes versucht, dir seine Meinung aufzudrücken. Deine körperlichen Grenzen werden verletzt, wenn dich jemand ungewollt berührt oder dir zu nahe kommt. Das kann passieren, wenn sich jemand im Bus oder im Wartezimmer zu nah neben dich setzt, aber auch durch kritische Kommentare zu deinem Körper, wie etwa deiner Figur.

Wenn wir unsere Grenzen kennen, trauen wir uns oft trotzdem nicht, diese zu schützen, weil wir Angst davor haben, was andere von uns denken, wenn wir sie zurückweisen. Wie schaffe ich es, diese Angst vor Ablehnung loszulassen?

Deine Grenzen zu schützen bedeutet nicht, andere abzulehnen. Deine Grenzen zu schützen bedeutet, deine Ressourcen zu schützen – deinen Körper, deinen Geist, deine Sachen, deine Zeit und deine Energie! Das ist wichtig, damit du ein gutes und gesundes Leben führen kannst. Nur wenn es dir gut geht, kannst du ein harmonisches und erfülltes Beziehungsleben gestalten, ob in der Familie, in der Liebe, in Freundschaften oder im Beruf. Mit diesen Gedanken im Kopf fällt es uns viel leichter, Grenzverletzungen freundlich und selbstsicher zurückzuweisen. 

Menschen, die Schwierigkeiten haben, für sich einzustehen, sind mit ihren Empathie-Antennen nach außen gerichtet und achten ständig auf die Gefühle anderer. Dabei vergessen sie viel zu oft, darauf zu achten, wie es ihnen damit geht. 

Ja, Selbstfürsorge ist ein Thema, das uns selten nahegebracht wird.

Gerade Frauen bringt unsere Gesellschaft eher bei, für andere zu sorgen. Aber es ist gut und wichtig, wenn du zuerst für dich sorgst! Hilfreich kann es auch sein, wenn du verstehst, welche inneren Mechanismen dazu führen können, dass du so verletzlich bist. Bei den meisten Menschen ist es das innere Kind, das in Momenten der Kritik reagiert und uns dazu bringt, so heftig zu reagieren. 

Kannst du die Idee des „Inneren Kindes“ genauer erklären?

Ein kleines Kind kann viele negative Glaubenssätze entwickeln, beispielsweise „Wenn ich zu oft Nein sage, stehe ich nachher alleine da“ oder „Ich muss mich anpassen, um geliebt zu werden“. Solche Glaubenssätze entstehen durch herabwürdigendes Verhalten unserer Herkunftsfamilie oder anderer Bezugspersonen wie etwa Lehrer*innen. Um solche Glaubenssätze aufzulösen, musst du eine ehrliche Reise in deine Kindheit machen und schauen: Was habe ich in der Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, gelernt? Hat die Mutter mich nur gelobt, wenn ich brav und still war? Habe ich auf eine Weise, die mir nicht gut getan hat, um die Aufmerksamkeit meines Vaters kämpfen müssen? Dann habe ich gelernt, dass es einen Weg gibt, richtig zu sein für andere, aber nicht, dass ich selbst richtig bin, so wie ich bin. 

Kinder brauchen zwei wesentliche Pfeiler, auf denen sie gesund aufwachsen können. Einerseits das Gefühl von Zugehörigkeit, von “Mit dir ist alles richtig” und “Du gehörst hierher”. Andererseits das Gefühl von Ermächtigung durch die Eltern. Zum Beispiel wenn sie sagen “Jetzt, wo du weißt, du gehörst zu uns, hast du alle Macht, der Mensch zu sein, der du bist”. Wenn Kinder diese zwei Dinge nicht bekommen und stattdessen immer wieder in einer Weise kritisiert werden, die sie schlecht dafür fühlen lässt, wie sie sind, – „Du bist so unfähig/blöd/schlampig, aus dir wird nie etwas!“ – wird ihr Selbstwertgefühl nachhaltig verletzt. 

Bei Kritik taucht ein bestimmtes Gefühl im Körper auf – das Heimatgefühl (das gewohnte Gefühl) deines inneren Kindes. Da hat jede:r ein anderes Gefühl. Die einen werden wütend. Andere denken: “Schon wieder bin ich nicht gut genug, was stimmt nicht mit mir?” In diesem Moment empfehle ich: Nimm dein inneres Kind gedanklich auf den Schoß und signalisiere Verständnis: “Du hast irgendwann viel zu wenig Liebe bekommen, dafür, wie du bist. Es ist okay, so zu sein, wie du bist. Du bist nicht falsch. Du bist völlig genug.”

Je öfter du diese Gefühle durchlebst, umso schneller wird dein inneres Kind sich gesehen und verstanden fühlen. Und irgendwann wird es nicht mehr so oft anklopfen. Dann wird es dir viel leichter fallen, gelassen auf Ablehnung oder Kritik zu reagieren. 

Was kann ich noch tun, um meinen Selbstwert aufzubauen?

Dieser Prozess der Annahme des inneren Kindes ist nicht leicht, aber unglaublich wertvoll für dich. Du kannst dazu jede Menge Bücher lesen, somatische Ansätze versuchen und sogar Massagen machen, mit denen du Blockaden lösen kannst. Es gibt Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Sprach-, Lach- oder auch Gestalttherapie. Auch Meditation ist sicher ein guter Ansatzpunkt. Generell alles, was du machen kannst als Mensch, damit du in deine Stärke kommst, kann helfen, auch wenn die Umsetzung schwer sein kann.

Wenn ich lese, dass Eltern möglicherweise Fehler gemacht haben, die mir als Kind geschadet haben, dann kann daraus eine große Angst entstehen, beim eigenen Kind Fehler zu machen. Wie kann ich mich von dieser Versagensangst freimachen?

Ganz wichtig ist die Erkenntnis: Du wirst garantiert einiges übersehen und falsch machen – bitte erlaube es dir! Wir sind alle nur Menschen mit unseren Ängsten und Gefühlen. Auch deine Eltern hatten womöglich nicht die besten Vorbilder und damit ihre eigenen Probleme. Das hilft dir, liebevoller auf deine Eltern zu blicken und ihnen zu verzeihen. Eltern, die sich selbst und ihren Kindern erlauben, Fehler zu machen und dabei trotzdem liebevoll mit sich selbst und anderen bleiben, sind besonders wichtig für Kinder. Wo sonst werden Kinder lernen, dass es nicht das Ziel ist, keine Fehler zu machen und perfekt zu sein, sondern aus Fehlern zu lernen und zu wachsen, wenn sie es nicht von zu Hause vorgelebt bekommen? 

Das Gleiche gilt für das Thema Grenzen setzen. Wenn wir unseren Kindern vorleben, dass wir unsere Grenzen schützen und auch ihre Grenzen respektieren, dann werden sie lernen, selbst ebenfalls achtsam mit ihren Grenzen umzugehen und auch die Grenzen anderer zu respektieren. Zum Beispiel, dass wir es akzeptieren, wenn sie körperlich nicht berührt werden wollen oder sprechen ihnen ihre Gefühle nicht ab, wenn sie wütend oder traurig sind.

Mehr zu Masha Hell-Höflinger und ihrer Arbeit, findet ihr hier.