Stiefvater Gewalt

Aline ist 13 Jahre alt und wohnt in Bamberg. Sie trifft sich nach der Schule gern mit ihren Freundinnen und macht Tik-Tok-Videos, spielt im Verein Volleyball und hat einen kleinen Bruder. Ihre Eltern haben sich vor einem Jahr getrennt, doch das Mädchen scheint glücklich zu sein. Doch dieser Schein trügt: Ihr Stiefvater schlägt sie.

Die Jugendämter in Deutschland haben im vergangenen Jahr bei rund 55 500 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Laut Statistischem Bundesamt ist das ein Anstieg von circa 10 Prozent im Gegenteil zu 2018 und auf einem traurigen neuen Höchststand. Elf Prozent der betroffenen Minderjährigen wuchsen dabei bei einem Elternteil in einer neuen Partnerschaft auf.

„Er schrie mich an und schubste mich so, dass ich auf den Boden fiel. Ich stand auf und sagte ihm, dass er nicht das Recht hätte, mich so anzuschreien. Dann nahm er meinen Hals und schlug mich gegen die Tür meines Zimmers.“

„Er schlägt mich oft, einfach nur um mich ruhigzustellen. Gerade eben hat er mich bedroht, weil ich mich geweigert hatte, ihm ein Bier zu holen und Essen zu kochen. Meine Mutter glaubt mir nicht, wenn ich ihr davon erzähle.“

Er, der Schrecken, der Peiniger, der Täter oder wie Außenstehende ihn nennen: der Stiefvater. Hier geht es nicht um sich sorgende, familiäre Bonusväter, sondern um Männer, die Kinderschutzexperten schon länger beschäftigen. Heinz Kindler, der am Deutschen Jugendinstitut im Bereich der Kindeswohlgefährdung arbeitet, sagte gegenüber der FAZ, dass über die Rolle des Stiefvaters ist immer wieder diskutiert worden sei. Wenn es um Gewalt gegen Kinder gehe, seien die neuen Lebensgefährten der Mutter überrepräsentiert.

Das sind nicht Alines Aussagen über ihren Stiefvater, sondern nur kleine Ausschnitte aus Internetforen, in denen Kinder um Rat und Hilfe bitten. Normale Kinder, die sich aus ihrer Not und Verzweiflung heraus meist anonym an die Moderatoren der Internetforen wenden, da sie sich nicht trauen, mit ihren leiblichen Eltern über diese Vorfälle zu sprechen.

Auch Aline wird von ihrem Stiefvater geschlagen und hat Angst mit ihrer Mutter über die Vorfälle zu sprechen. „Sie glaubt bestimmt nicht mir, sondern ihrem Freund“, so das junge Mädchen. Wie kommt es dazu, dass Kinder das Gefühl haben, für das Elternteil ein weniger vertrauenswürdiges Familienmitglied zu sein als die/der neue PartnerIn?

Das kann durch bereits fehlende bzw. durch die neue Beziehung entstandene geringere Aufmerksamkeit des leiblichen Elternteils entstehen. Der Autor und Pädagoge Martin R. Texter sagt, dass das Leid und Ängste der Kinder oft erst spät wahrgenommen werden, „schließlich sind ihre Eltern durch das neue Liebesverhältnis, romantische Gefühle und paarbezogene Aktivitäten abgelenkt.“

Generell seien Kinder ihren Stiefelternteilen in der Regel „distanziert, kritisch oder sogar negativ gegenüber“. Sie hätten Angst „ihren anwesenden Elternteil an den neuen Partner zu verlieren, oder befürchten, dass dieser den abwesenden (nichtsorgeberechtigten oder toten) Elternteil aus ihrem Leben verdrängen möchte. Dies gilt umso mehr, wenn sie ihre Stellung in der Teilfamilie als bedroht erleben.“ 

Im Fall von Aline wird jedoch nicht nur ihre Stellung in der Familie, sondern ihre leibliche Unversehrtheit bedroht. „Als ich einmal allein mit meinem Stiefvater und meinem kleinen Bruder war, fing er nach dem Essen an, uns anzubrüllen, weil wir den Geschirrspüler nicht ordentlich eingeräumt hätten. Mein Bruder rannte in sein Zimmer und mein Stiefvater warf mir ein Teller entgegen. Als ich ihn anschrie, dass er aufhören solle, schlug er mir mit der Faust ins Gesicht. Das war so doll, dass meine Lippe aufplatzte.“

Die Berater in dem Online-Forum, in dem sie ihre Geschichte teilte, raten ihr dringend mit ihrer Mutter zu sprechen. Falls sie sich nicht trauen sollte, könne sie sich an eine andere vertraute Person, wie ihren leiblichen Vater, Großeltern oder andere Familienmitglieder wenden. Weitere Möglichkeiten seien Vertrauenslehrer oder letztendlich das Jugendamt. 

Die Befürchtung, dass das leibliche Elternteil dem Kind nicht glauben könnte, ist leider nicht unbegründet. Jörg Fegert ist der ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Ulm und sagte gegenüber der FAZ: „Wir haben eine erstaunlich hohe Zahl von Müttern, die Mitwisser solcher Taten sind und nichts dagegen unternehmen.“ Das beziehe sich nicht nur auf Kindesmisshandlungen sondern auch auf sexuellen Missbrauch von Kindern.

Aline nahm all ihren Mut zusammen und sprach mit ihrer Mutter. Alines Stiefvater versuchte sich rauszureden und beteuerte, dass das nicht seine Absicht war und die Kinder ihn provoziert hätten. Glücklicherweise nahm sie ihre Tochter ernst und nachdem auch ihr kleiner Bruder sich traute, von weiteren Vorkommnissen zu erzählen, trennte sie sich komplett von ihrem Freund, brach jeglichen persönlichen Kontakt ab und denkt über eine Anzeige nach. Das Mädchen ist erleichtert, dass ihre Mutter den Geschwistern Glauben geschenkt und unterstützt hat.

Aline ist keine reale Person, sondern steht für viele, ja, zu viele Kinder, die von ihren Eltern und in diesen Fällen, Stiefeltern, geschlagen, bedroht oder sexuell belästig werden. Denn jedes einzelne Kind ist eines zu viel. Aline ist ein Sinnbild für all die über 55 500 Kinder in Deutschland, denen ein Leben ohne Gewalt zusteht.

Falls ihr mitbekommt, dass euer Kind von irgendjemandem, egal wie sehr ihr die andere Person liebt oder schätzt, falsch behandelt, geschlagen oder gar missbraucht wird: Handelt. Nicht morgen, nicht übermorgen, sondern jetzt. Habt den Mut, euch von toxischen Menschen zu lösen, steht für eure Kinder ein und seid für sie da! 

Falls du Hilfe benötigst, rät die Kinderschutzhotline zu folgenden Möglichkeiten:

Wenn es sich um einen Notfall handelt und Sie Sorge um Sicherheit, Leib und Leben eines Kindes haben, wählen Sie bitte den Notruf der Polizei. Dort kann in der Regel auch der Kontakt zum Notdienst des Jugendamtes hergestellt werden.

Zu medizinisch dringlichen Fragen wenden Sie sich bitte an die nächstgelegene Notaufnahme für Kinder. In lebensbedrohlichen Notfällen an den Notruf unter 112.

Viele Jugendämter bieten auch in Notfällen eine Erreichbarkeit fast rund um die Uhr, z.B. in folgenden Regionen:

Berliner Notdienst Kinderschutz: 030 61 00 66

Kinderschutzhotline Mecklenburg-Vorpommern: 0800 14 14 007

Brandenburg, Landkreis Barnim: 03334 214-1700

Frankfurt am Main: 0800 20 10 111

Hamburg: 040 428 15 3200

Ggf. hilft die Internetsuche nach „Kinderschutztelefon“ oder „Kinderschutz“ in Verbindung mit dem Namen Ihrer Stadt, Ihres Landkreises oder Ihres Bundeslandes weiter.

Beratungen und Vermittlung von Hilfen finden Sie bei folgenden Einrichtungen:

Telefonseelsorge, rund um die Uhr (auch online): www.telefonseelsorge.de 0800 1110111

Hilfetelefon sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 (Mo, Mi, Fr 9-14 Uhr; Di, Do: 15-20 Uhr)

Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen (berät Anrufende aller Geschlechter rund um die Uhr): 08000 116016

Nummer gegen Kummer Kinder und Jugendliche: Mo-Sa 14-20 Uhr 116111

Nummer gegen Kummer Eltern: Mo – Fr 9-11 Uhr, Di und Do 17-19 Uhr: 0800 111 0 550