Triggerwarnung: Krebs, Krankheit

Geschrieben von Corinna // @cocowillmeer

Ich stand am Flughafen und ich wusste, dass der Moment jetzt gekommen war. Das Ende war da, das Ende einer tiefen Beziehung. 

Er hatte einen langen Bart, seinen Rucksack auf dem Rücken und sein Surfboard in der Hand. Er stolperte lächelnd auf mich zu. „Die Frau, die nicht lieben wollte!“ – das war das Buch, was meine Hand fest umschloss. Mein Blick glitt über das Cover – welche Ironie. Es fühlte sich genau so an. Die Frau, die nicht lieben wollte. Oder eher… es nicht konnte. Nicht mehr konnte? 

Die Frau, die nicht mehr lieben konnte… 

Vor exakt sieben Jahren hatten wir uns getroffen. Unsere Blicke trafen sich auf dem Weihnachtsmarkt und es war buchstäblich Liebe auf den ersten Blick. Einfach so. Ich habe ihn gesehen und ich wusste, den will ich haben. Die Funken sprühten und ich wusste einfach, dass er zu mir gehörte. Er traf mich mit voller Wucht und sollte über sieben Jahre mein treuer Begleiter bleiben. Ein ganz besonderer, starker und warmherziger, wunderbarer Mensch. Wir haben uns ineinander verliebt, wir haben uns kennengelernt, gelacht, getanzt, gemeinsame Reisen gemacht und einfach nur gelebt. Alltägliches, stinknormales Leben. Ein ganz normales Paar, eine ganz normale Liebesgeschichte eben. 

Krebs, das kleine Arschloch! 

Bis zu diesem einen Augenblick, in dem ich wusste, dass sich etwas verändert hatte. Und niemand hatte Schuld daran. Der Krebs hat Dinge zum Vorschein gebracht, die längst schon unterschwellig vorhanden waren. Aber die vielleicht nicht so relevant gewesen wären, wenn der Krebs nicht eines Tages und voller Wucht, unangekündigt, uns beide hart treffend, in unser Leben gekommen wäre. 

Schon seit Monaten hatte er Schmerzen im Kiefergelenk. Ich machte noch eine Reise mit meinem Bruder, sodass wir uns mehrere Wochen nicht sahen. Danach stiegen wir gemeinsam in unseren Bulli und wollten das Leben genießen, das Meer und unserem gemeinsamen Hobby, dem Surfen, nachgehen. Es sollte nach Spanien gehen. Wir hatten eine tolle Zeit, wir waren uns verdammt nah. Aber ihm ging es schlechter und schlechter, er hatte Schmerzen und er wusste einfach nicht, warum. 

Ich konnte diese Schmerzen nicht nachvollziehen, weil ich sie nicht spüren konnte. Wer denkt dabei auch schon an Krebs? Aber ich konnte sehen, dass seine Wange immer größer und größer wurde. Irgendetwas stimmte nicht. Er schleppte sich von Arzt zu Arzt und jeder hatte so seine ganz eigene Theorie dazu. Helfen konnte aber keiner. Er musste immer höher dosierte Schmerzmittel nehmen, konnte nicht mehr schlafen und schleppte sich durch den Alltag. Irgendwann kam er dann von einer Ärztin zurück – ich hatte das in dem Moment noch gar nicht so ernstgenommen – und sagte, dass ein MRT gemacht werden müsse. 

Mir war die Tragweite bis zum allerletzten Moment nicht bewusst. 

Dann ging die Mühle los, denn es war ein bösartiger Tumor und damit mussten verschiedene Entscheidungen getroffen werden. Chemotherapie, OP, Kinder kriegen? – All diese Fragen mussten beantwortet und all diese Entscheidungen mussten getroffen werden. Die ganze Welt stand plötzlich auf dem Kopf. Unser bisheriges Leben wurde dabei vollkommen unwichtig. Alle anderen Probleme wurden nichtig. Sie waren einfach nicht mehr existent. Seine Emotionen überschlugen sich, meine Emotionen überschlugen sich. Starr vor Angst mussten Entscheidungen getroffen werden, die über ein ganzes Leben entscheiden konnten. Wie soll so etwas gehen? Wie kann so etwas einfach so ertragen werden? 

Diese Zeit werde ich nie wieder vergessen. All die Dinge, die bedacht werden mussten. All die Fragen, die gestellt wurden. All die Menschen, die helfen wollten und es doch irgendwie nicht konnten. Ihm nicht, mir nicht, uns nicht. 

Dann ging die Mühle weiter: Chemotherapien, Operationen, unzählige Wochen, die wir bangten. Stunden um Stunden, die er im Krankenhaus verbrachte, die er stark sein musste. Die ich mit ihm dort verbrachte. Gemeinsam in unseren Gedanken und doch irgendwie allein. Immer wieder ein Gesundheitssystem, welches insbesondere menschlich an seine Grenzen kam. Immer wieder neue Nachrichten, die den hereinbrechenden Alltag unterbrachen und innehalten ließen. Immer wieder ein vollkommen neues Leben, was das Gewicht auf meinen Schultern größer und größer werden ließ. 

Ich nahm mich selbst zurück

In dieser Zeit habe ich nicht gemerkt, wie ich mich von mir selbst entfernt habe, wie ich mich schützen wollte, ihn schützen wollte, uns… und mich damit immer mehr von dieser Beziehung entfernt habe. Ich habe nicht mehr auf meine Bedürfnisse gehört, ich habe nicht gemerkt, dass auch ich wichtig war und es bin. Ich habe mir nicht mehr zugehört. Ich habe meine Ängste und Bedürfnisse runtergeschluckt, sie ignoriert, weil ich stark sein wollte. Ich wollte in dieser Machtlosigkeit etwas tun, ich wollte einfach nur da sein. Und das war ich auch. 

Aber ich konnte eben nur zugucken und nur da sein. Still, ganz allein in meinem Kämmerlein habe ich geweint. Wenn ich aus seinem Krankenzimmer ging und im Aufzug stand, habe ich geweint, wenn ich die Treppe runterging, das Treppenhaus betrat und die unzähligen Stufen – Stufe für Stufe, Stockwerk für Stockwerk – nahm, habe ich geweint. Ich musste mich oft einfach sehr zusammenreißen, um für ihn stark zu sein. 

Wenn ich wieder mit Mundschutz das Zimmer betreten musste, wenn ich all die anderen Onkologie-Patient*innen sah, dann war ich einfach so unfassbar stolz auf ihn. Aber ich konnte irgendwie nichts tun, nur da sein. Natürlich war es für ihn noch viel schlimmer, noch viel belastender. Er hat diese Krankheit überlebt, er hat gekämpft und ist bis zur letzten Therapie stark geblieben. Er ist der Held in dieser Geschichte, mein Held. 

Die Welt dreht sich dann plötzlich verkehrt herum 

Irgendwann sollte dann dieser Alptraum vorbei sein, die Chemotherapien vorbei… und dann ging es in die Reha. Und als er zurückkam, war alles anders. In diesen vier Wochen habe ich mich frei gefühlt, wie aus einer anderen Zeit, bei mir. Ich musste mir keine Sorgen machen, weil ich wusste, dass es ihm gut geht. Ich wollte wieder aus vollem Herzen lachen, feiern, meinen Alltag – nach meinen Wünschen – gestalten. Ich musste keine Rücksicht mehr nehmen. Ich konnte leben – frei von Sorgen, frei von Krankheit, frei von Krebs. 

Egoistisch? Ja, sicherlich. Dass ich die meiste Zeit aber einfach überfordert war, über einen langen Zeitraum an meine Grenzen gegangen war und eigentlich Hilfe – auch für mich – notwendig gewesen wäre, das wurde mir erst viel später bewusst. So unverhofft hatte mich die Situation mitgerissen, mit voller Wucht, mir voll und ganz den Boden unter den Füßen wegzogen. Aber ich habe es mir nicht anmerken lassen. Ich habe nicht auf mich gehört. Ich hatte es nicht wahrhaben wollen. Und zu dem Zeitpunkt musste ich diese Beziehung also beenden. 

Die Schuld, die ich in mir trage

Letztlich kann man niemandem einen Vorwurf daraus machen. Auch ich sollte mir keinen Vorwurf daraus machen. Letztlich ist diese Beziehung nicht nur daran gescheitert. 

Aber es ist einfach wichtig, sich in solchen Notsituationen, in solchen wahnsinnig herausfordernden Momenten nicht selbst zu verlieren. Auch als Begleiter*in darf man sich schlecht fühlen, darf man traurig sein, darf einem die Kraft fehlen. Auch als Begleiter*in darf und muss man sich Zeit für sich nehmen, darf man sich Hilfe holen. Je früher, desto besser. 

Deswegen sollten alle Begleiter und Begleiterinnen wissen: Ihr seid nicht allein. Ihr werdet gehört und gesehen. Es ist absolut okay, traurig zu sein, Hilfe zu benötigen und diese auch in Anspruch zu nehmen. Wir sind nicht allein. Und es gibt in jeder ausweglosen Situation eben auch die kleinen Lichtblicke und die Dinge, die uns auf eine wohltuende und sanfte Art und Weise für das ganze Leben positiv prägen – oder eben etwas härter… 

Es ist alles eine Frage der Perspektive 

Heute blicke ich auf eine herausfordernde Zeit zurück, die aber auch voller schöner Momente war. Die tollen Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen, die sich täglich und mit vollem Elan und Wertschätzung in ihre Arbeit gestürzt haben. Die sich um alles gekümmert haben. Die neue Perspektiven gegeben haben und immer ein offenes Ohr hatten. Die vielen kleinen schönen Momente: zum Beispiel das Lächeln, wenn ich zur Tür reinkam. Die Pizzeria vorm Krankenhaus. Der weite Blick aus dem Krankenhausfenster. Die geschaffte Arbeit am Krankenhausbett. Das tägliche Nicken des Pförtners an der Eingangstür. Die kleinen Besuche, die Mut gemacht haben. 

All die netten Worte von Freund*innen, die sich gekümmert haben, Essen kochten und über belanglose, alltägliche Themen berichteten. Die kleinen Reisen, die wir unternahmen. Die kleinen Spaziergänge, die wir machten und der großartige Mut und die positive Energie, die trotzdem immer wieder aufblitzte. Unsere Familien im Hintergrund, das starke Band, was einfach da ist und all die positiven Erfahrungen, die ich für das Jetzt mitnehmen durfte. Denn die Menschen, die Begegnungen, die Wertschätzung und Liebe zwischen den Menschen und für sich selbst ist wichtig. Denn auch in den schlimmsten Momenten sind sie da, die heilsamen Momente. 

Für meinen eigenen Weg war diese Zeit unheimlich wichtig. Ich habe gelernt, dass es Liebe in den verschiedensten Formen und Größen gibt. Und ich empfinde eine Verbindung und eine Liebe zu diesem Menschen, die keine Bezeichnung und kein Label braucht. Ich weiß, dass sie da ist, denn gemeinsam haben wir es durch diese Zeit geschafft, gemeinsam haben wir uns getragen. Und dafür bin ich unheimlich dankbar. Und ich empfinde auch wieder eine neue Liebe für mich selbst. Es hat Zeit gebraucht, aber jetzt ist sie wieder da. Und das, obwohl wir uns getrennt haben.