Folge 4 von unserem neuen digitalen Roman

Mein Po schmerzt, die Dielen sind kalt. Mein Rücken dankt es mir nicht, dass ich schon wieder den ganzen Vormittag im Schneidersitz Holzringe auf Stäbe spieße, Bücher vorlesen möchte, die mir dann doch aus der Hand gerissen werden oder immer wieder eine Wäscheklammer an Aleas Zeh klemme, damit sie sie freudig wieder abreißen kann.

Ich schaue aus dem Fenster und atme tief durch. Das müsste doch jetzt mindestens eine halbe Stunde gewesen sein? Der Blick auf die Uhr schmerzt: Nur sechs Minuten sind vergangen, seitdem ich mir vorgenommen habe, das Spielen jetzt zu genießen. So richtig anwesend und motiviert zu sein. Wann ist endlich Mittagsschlaf? Wir sind allein in der Wohnung. Moritz ist seit drei Tagen ausgezogen. Die nächsten drei Monate pennt er bei einem Kumpel ein paar Straßen weiter.

Warum sagt einem niemand, dass Kindern Schnodder aus den Augen läuft?

Es ist Samstag und es regnet. Hölle. Als ich noch kinderlos war, war ich ein riesiger Schmuddelwetterfan. Regentropfen am Fenster beobachten und dabei telefonieren, Wolldecken, Tees, Bücher, Netflix, Vibratoren. Wenn jetzt schlechtes Wetter ist, werde ich garstig neidisch auf meine kinderlosen Freunde, während ich Matschhosen im durchnässten Kinderwagen verstaue, weil der Nachwuchs das Regenverdeck immer wieder runterzieht. Gibt es Kinder, die Regenverdecke akzeptieren? Das muss eine Lüge der Regenverdeck-Industrie sein.

Wenn es dann noch um 16:00 Uhr dunkel wird und gefühlt alle Playdates Schnupfen haben und absagen, muss ich meine Laune mit Süßigkeiten hochhalten, die ich natürlich heimlich –mit dem Kopf im Kleiderschrank – verdrücke. Alea darf nicht mal ein Kauen bemerken. Und apropos Schnupfen: Warum sagt einem niemand, dass Kindern Schnodder aus den Augen läuft? Meine Mutter hätte mich damals nie mit „Vergiss deine Verhütung nicht! Sonst kannst du nicht mehr Party machen“ vor einer Teenie-Schwangerschaft warnen müssen. Ein einfaches „Kinder weinen Nasensekret“ hätte gelangt, um keusch zu bleiben.

Nun ja. Es ist ein Frühling, zumindest sind die Tage länger, aber meine Spielideen spielen Verstecken. Wo finde ich euch bloß? Mein Blick huscht zu meinem Handy unterm Sofakissen. Nein, Mia. Nicht am Handy daddeln. Ich streichle Alea über ihre dunklen Locken. „Schau mal, wow. Ein Pferd“, sage ich und lege ihr eine Ponyfigur hin. Sie ist unbeeindruckt. Sie sortiert lieber weiter Haargummis in eine Tupperdose. „Okay, na du brauchst mich ja gerade nicht“, sage ich freudig halb zu ihr, halb zu mir und greife zum Handy.

Alte Bodys und cremefarbene Leinenstrampler

Ein Wisch über WhatsApp: Eine entfernte Verwandte hat ein dreiwöchiges Neugeborenes zuhause und bedankt sich für die alten Bodys, die ich ihr geschickt habe. Viel zu viele Emojis für meinen Geschmack. Dazu betont sie, wie pflegeleicht ihr Baby ist und wie entspannt alles ist. Ich muss grinsen. Oh, Honey. Wenn du wüsstest. Ich lasse dich in deiner Illusion. Der nächste Wisch öffnet Instagram.

Die Influencerin mit dem beigen, aufgeräumten Wohnzimmer hat wieder ein ästhetisches Bild gepostet. Eine Vase mit Tulpen, davor ein Kind im cremefarbenen Leinenstrampler. Kein Krümel auf dem Boden. Keine löchrigen Strumpfhosen. Doch das Unrealistischste: ein Kind ohne Schnupfen. „Tja, Smartie. Wärst du das auf dem Foto, würden die Tulpen auf dem Teppich zwischen den Glasscherben liegen, dein Outfit wäre ein verwaschener Pulli von Vinted, bei dem sich deine Mama aufgeregt hätte, was Menschen für illusorische Preise für Zara-Kleidung verlangen, und in den Kinderhaaren würde eine undefinierbare Masse kleben“, sage ich zu meiner Tochter. Stille. Sie spricht immer noch kein Wort. Der nächste Post ist bereits Werbung. Der Algorithmus ist gut. Sommerkleider nach meinem Geschmack, die ich mir nicht leisten kann. Der Algorithmus muss noch lernen, dass ich Kita-Gebühren trage und nur noch in Teilzeit arbeite.

Schon wenn Alea zwei Tage weg ist, macht alles keinen Sinn mehr

Ich scrolle weiter. Eine alte Kollegin macht gerade ein Yoga-Retreat auf Sri Lanka. Sie meditiert vor einer Bananenstaude und schreibt dazu: „Save our nature before it‘s too late“ und einen Erdball-Emoji. Meine Güte. Ich mache einen Screenshot und leite es meiner Mädelsgruppe bei Whatsapp weiter. Dazu ein gehässiger Kommentar. Eigentlich müsste ich sie deabonnieren. Sie macht mich seit Ewigkeiten wahnsinnig, denn ihr Freund ist Pilot und als eingetragene Lebenspartnerin jettet sie nun sehr günstig um die Welt. Mal Surfen in Costa Rica, mal Bootfahren vor Mauritius. Fliegen, fliegen, fliegen. Aber Hauptsache Planet retten.

Natürlich bin ich neben der Verachtung extrem neidisch. Ich möchte auch einfach abhauen. Mich in eine Hängematte schmeißen oder Schluchten durchwandern, ohne ein schwitziges Kind in der Trage auf dem Rücken zu haben. Gleichzeitig möchte ich keinen Urlaub ohne Alea. Schon wenn sie mal zwei Tage bei ihren Großeltern ist, macht alles irgendwie weniger Sinn. Ich feiere dann die Freiheit euphorisch, nur um mir dann abends im Bett Fotos von ihr anzuschauen und meine Eltern zu fragen, ob sie die Kartoffeln denn gemocht hat.

„Mia egal“

Meine Instagram-Timeline ist voll von Reisefotos. Gefühlt ist mein halber Bekanntenkreis auf Abenteuern unterwegs oder schlürft zumindest geilen Kaffee in den Straßen Amsterdams. „Mia egal, Mia egal“, flüstere ich mir zu und schleudere das Handy aufs Sofa.

„Miaegal“. Mit dem Spruch wurde ich früher gehänselt. Mein Nachname ist Hegal. Und meine Eltern haben meinen Vornamen nicht gut durchdacht. Und so wurde aus Mia Hegal auf dem Grundschulpausenhof „Mia egal“. Wenn ich also meinen Mut zusammennahm und die coole Marissa fragte, ob wir uns nach der Schule treffen wollten, sagte sie: „Miaegal“ und lief davon. Meine Mitschüler kicherten, wenn Lehrer bei der Anwesenheitsliste meinen Namen aussprachen. Noch heute witzeln Erwachsene bei der Arbeit, wenn ich den Telefonhörer abnehme.

Inzwischen ist Miaegal aber ein gutes Mantra geworden. Ein Ventil, um Druck abzulassen. Ich wollte den Namen bei der Hochzeit nicht mal mehr ablegen.

Das Kind frisst im Streichelzoo Ziegenköttel? Mia egal.

Die Balkonpflanzen sind verdörrt und schimmeln? Mia egal.

Eine Warnung von Klarna? Mia egal.

Naja. Zumindest ein paar Tage.

Bauchgefühl vs. Erziehungsratgeber

Alea ist inzwischen in der Küche und schreit die Tupperdose mit den Rosinen an. Mein Fehler. Als ich die Packung wieder verstecken will, stolpere ich über Spielsachen auf den Fliesen. Unter anderem hat das Baby meinen Erziehungsratgeber angesabbert und einige Seiten zerpflückt. Moritz hat mich immer damit aufgezogen, dass ich mir Erziehungstipps aus Büchern oder dem Netz hole. Und auch ich war immer felsenfest der Meinung: Ich erziehe nach Bauchgefühl.

Doch als wir einmal Probleme hatten, Alea davon abzuhalten, am Ganzkörperspiegel zu rütteln, schlug ich vor, sie wie eine Katze mit Wasser anzusprühen. Es war mein erster Impuls. Zum Glück konnte Moritz intervenieren. Da grinste er mich an: „Ok, vergessen wir dein Bauchgefühl. Bitte lies weiter deine Bücher.“ Hat es geholfen? Ich glaube nicht. Erziehungsratgeber sind wie Möbelanleitungen. Man denkt sich: Ach so, easy, ja klar. Und Stunden später schmerzen die Arme, weil der Regalboden irgendwie nicht so leicht reinzuschrauben ist, wie man sich das dachte.

Ich bücke mich, um das Chaos zu beseitigen. Aufräumen – all day, every day. Mia egal.

Da klingelt es. „Mi querida, was machst du Spannendes?“, fragt mich Lupita.

„Ha, ha“, sage ich.

„Schläft die Kleine schon?“, fragt Lupita.

„Hoffentlich gleich. Wieso? Was willst du?“, sage ich.

„Du reagierst nicht auf mein Angebot. Ich möchte, dass du dich gleich an deinen Laptop setzt, guapa, und dir Flüge raussuchst. Komm mit nach Kolumbien. Das wird ein fantastischer Monat! Du brauchst mit der Trennung jetzt Ablenkung. Und ich brauche meine beste Freundin“, sagt sie.

„Mia, trau dich“

Ich seufzte. „Ich kann nicht so einfach einen Monat weg. Das ist teuer. Ich muss arbeiten. Ich muss ein Kleinkind in einem Flieger bespaßen. Puh, nee danke, Ursula.“

„Melde dich krank, nimm dir deine Urlaubstage. Lass dir was einfallen! Ich habe meinen Bonus bekommen. Du zahlst deine Flüge, und ich übernehme Unterkunft und Maracujasäfte für Alea“, sagte Lupita. „Por favor, Mia, trau dich“.

„Das kann ich nicht annehmen. Das ist viel zu viel. Ich könnte höchstens zwei Wochen. Und … ach, das geht einfach nicht. Das geht nicht“, sage ich.

„Amor, liegst du mir nicht immer in den Ohren, dass du nicht dein ganzes Leben an die Ostsee fahren willst?“, fragt Lupita. „Ich weiß, das ist jetzt ein Postkartenspruch. Man bereut immer nur die Erfahrungen, die man nicht gemacht hat“.

Stille.

„Es tut mir leid Lupita. Ich kann nicht“, sage ich.

Doch das ist eine Lüge. Denn nur eine halbe Stunde später buche ich – das schlafende Kind in der Armbeuge liegend, das Handy in der anderen – einen Flug. Solange es nicht um Erziehungsmethoden geht, folge ich meinem Bauchgefühl. Ein verrückter Plan. Mia egal.