Folge 2 von unserem neuen digitalen Roman
Das eiskalte Wasser rinnt über meine Hände. Im Badezimmerspiegel schaut mich eine Frau mit Augenringen und fettigem Haar an. Dünnes rotes Flusenhaar. So dünn, dass es mich in den Wahnsinn treibt, wenn ich als Hochzeitsgast romantisch-spielerische Hochsteckfrisuren von YouTube nachbauen möchte und immer wieder enttäuscht feststellen muss: keine Haare, kein Boho-Updo. Den rotblonden Ansatz wollte ich noch vor meinem ersten Arbeitstag überfärben lassen, aber Alea hatte beim Friseur einen Tobsuchtsanfall, weil ich sie davon abhalten musste, Haare vom Boden zu fressen. Manchmal frage ich mich, ob ich Mutter bin oder Zoodirektorin.
Vier Tage ist es nun her, dass ich die Trennung vor mir herschiebe. Jeden Morgen denke ich: heute Abend! Und jeden Abend denke ich: morgen. „Viel Glück heute bei der Arbeit“, rief mir Moritz vor wenigen Minuten noch zu, ehe er aus der Haustür sprang. Ich hatte ihn eigentlich gebeten, dass er ausnahmsweise heute mal das Kind zur Kita bringen soll. Schließlich bin ich nervös, wieder ins Büro zu gehen. „Mia, du weißt, dass ich am Montag-Meeting dabei sein muss“, sagte er. Und ich hatte keine Kraft zu diskutieren. Vier Tage. Vier Tage zu viel. Heute, Mia, wirklich. Heute.
Ich sprühe mir entschlossen Trockenshampoo – meinen treusten Begleiter während der Elternzeit – auf den Ansatz. Selbst nach dem Rauskämmen bleibt ein weißer Rest. Egal. Lieber Granny-Look als aufwändiges Duschen. Die Babyhaare an den Schläfen fixiere ich mit Haarspray.
Die süßeste Saboteurin des Planeten
Ich setze meine grüne, runde Brille auf und schlurfe zur Toilette. Als ich den Deckel hebe, sehe ich die tägliche Gabe für den Klo-Gott: ein Holzeisenbahnwaggon auf dem Grund. Danke, Alea. Und danke Moritz, dass du die Kindersicherung für den Klodeckel besorgt hast. Da wankt die süßeste Saboteurin des Planeten auch schon in die Tür. Wann habe ich eigentlich das letzte Mal alleine gekackt? Wann habe ich das letzte Mal gekackt, ohne vorher mit der Hand nach Spielzeug zu fischen?
„Na, suchst du deinen Flummi, meine Süße?“, frage ich. Stille. Alea redet nicht. Sie zeigt fleißig mit den Fingern auf Gegenstände und versteht uns gut, aber sie hat mit vierzehn Monaten noch kein einziges Wort gesprochen. Welch Ironie, bedeutet ihr Name doch „die Redegewandte“. Während ich das Klopapier abrolle, höre ich die Stimme meines Schwiegervaters in meinem Kopf: „Also Moritz konnte mit 10 Monaten schon sein eigenes Eis bestellen.“ Ich atme durch.
Eine Wampe mit Dehnungsstreifen
Alea tappst auf mich zu, grinst schelmisch und steckt ihren Finger in meinen Bauchnabel. Das liebt sie. „Ja, da warst du mal drin, Smartie“, sage ich. Sie strahlt mich an. Mein Herz explodiert. Ich kann nicht arbeiten. Ich kann dieses Kind nicht wieder zur Kita bringen. Ich kann nicht nicht 50 Fotos aus derselben Perspektive von ihr schießen und meinen Cloudspeicher sprengen.
Als ich versuche, Alea auf die Stirn zu küssen, holt sie mit ihrer Hand aus und kneift mich in den Bauch. Sie vergräbt ihre Hand wie in einem Pizza-Hefeteig. Meine Schwangerschaftskilos haben sich nach dem Stillen kurz verabschiedet, nur um danach noch mehr Freunde mit auf die Party zu bringen. Außerdem habe ich eine Fettschürze – ein grauenvolles Wort. Eine richtige Wampe mit Dehnungsstreifen. Aber ohne Wampe keine Alea: ein Deal, den ich jederzeit wieder unterschreiben würde.
Ich muss zugeben, dass mich der Bauch nackt kaum stört. Er ist mein Souvenir an eine Zeit voller Sodbrennen und Wunder. Aber er frustriert mich, wenn ich mich – wie jetzt – in eine Jeans zwänge, nur um dann festzustellen, dass sich jeder Pulli wölbt und alles unförmig as fuck aussieht. Grübelnd öffne ich meinen Kleiderschrank. Ich kann nicht an meinem ersten Tag nach der Babypause bei der Arbeit erscheinen, als würde ich mich gleich wieder in den Mutterschutz verabschieden. Alea reißt in der untersten Etage alle Röcke heraus, und ich schaue hektisch auf die Uhr.
Endlich alleine kacken
Eine schweißtreibende Fahrradtour mit Kind, einen Kita-Stopp und zwei panische Sprachnachrichten an meine Mama später stehe ich vor meiner Vergangenheit: das Backsteinhaus mit Garten, Sportplatz und versäumten Karrierechancen. Um das Schild „Stadtteilzentrum Goosestraße“ rankt Efeu. Mein Herz rast – nicht nur vor Nervosität. Auch aus purer Freude, nun sechs Stunden täglich alleine kacken gehen zu können. Und im Büro Butterkekse zu snacken, ohne dass jemand mit Krokodilstränen danebensteht und mich anschreit.
„Ich glaube es nicht“, schallt es aus der Tür. Dann stürzt eine Frau im Kapuzenpulli hinaus und fällt mir in die Arme. „Das waren die schlimmsten 382 Tage in diesem Irrenhaus ohne dich“, flüstert sie mir ins Ohr. „Aber dein Nachfolger ist zumindest gut bestückt. Ich konnte die Blicke kaum von seinem Schritt abwenden. Immer eine Beule – definitiv Linksträger“. Ach, Josephine. Josephine wurde von ihren Eltern nach Napoleons großer Liebe benannt. Und auch mein Herz schlug für meine Lieblingskollegin. Leider hat sie privat kaum Zeit. So eng wir bei der Arbeit immer waren, so rar gab sie sich nach Feierabend. Tausend aufregende Pläne, und mein Fuß ist an das Babyphone gefesselt.
Gratulationen und Mitleid
Genau wie bei Napoleon und Josephine gab es auch im Stadtteilzentrum ein Thronfolgerproblem. Nach der Verkündung meiner Schwangerschaft fragten sich alle, wie diese große Lücke wieder zu schließen sei. Ich bekam unzählige bestürzte Emails. Ja, Gratulationen. Aber auch Mitleid.
„Oh je, den Job kannst du doch mit Kind gar nicht mehr machen, oder?!“ Jein.
„Such dir doch eine Kita mit Spätbetreuungszeiten?“. Puh.
„Kann Moritz nicht die Kinderbetreuung übernehmen?“. Haha.
Eigentlich bin ich Veranstalterin. Ich stelle im Stadtteilzentrum libanesische Kochabende auf die Beine, organisiere Lesungen von lokalen Autoren oder Freiluft-Filmnächte im Garten. Normalerweise bin ich viel mit Künstlern und Kulturschaffenden im Gespräch, bin immer auf Achse. Ich hole mir Inspiration für unser Programm und bin am Abend vor Ort die Verantwortliche. Nun – 200 gemanschte Karotten später – ist mein Schreibtisch liebevoll mit Luftballons geschmückt. Doch Blumen und „Welcome-back“-Karten sind nur Pflaster, die auf Schusswunden geklebt werden.
Die alte Lok auf dem Muddi-Gleis
Seit ich Mutter geworden bin, kann ich in den Job, in dem ich sonst Vollgas gab, nur noch im Schritttempo bewältigen. Um meinen Lieblingsmenschen aus der Kita abzuholen, muss ich meinen eigentlichen Lieblingsmenschen vernachlässigen: mich. Meine neue Aufgabe besteht darin, mit der Kulturbehörde und dem Jugendamt zu kommunizieren, dazu noch hier und da EU-Fördergelder zu beantragen und aus dem Fenster zu schauen, um mich zu fragen, mit welchem Keim sich mein Kind gerade ansteckt.
Es ist ein komischer erster Tag. Ein Gemisch aus neugewonnener Freiheit und dieser Frustration, dass ich nun gefühlt wie eine alte Lok auf dem Muddi-Gleis abgestellt wurde. Die Stunden fliegen vorbei, Kollegen gratulieren. Kurz bevor ich in den Feierabend gehe, höre ich eine fremde Stimme: „Freunde, wer hat mein Beamer-Kabel?“, schallt es durch den Raum.
“Ich bin Mia und müde“
Der Mann spaziert lässig durch‘s Büro, zieht jede Schreibtischschublade heraus. Dazu pfeift er einen Beatles-Song und kratzt sich am Nacken. Er stockt, als er mich sieht. „Nanu, wer bist du denn? Neue Volontärin?“, fragt er mich von oben herab. Volontärin. Penner.
„Ich bin Mia“, sage ich. Mehr bringe ich nicht über die Lippen. Denn ich bin Mia und müde.
„Ach was. Also habe ich dir dieses Programmheft mit dem Rechtschreibfehler zu verdanken“, sagt er.
Er hat einen auffällig blonden Drei-Tage-Bart. Etwas Wikingerhaftes. Mein Blick schweift kurz auf seinen Schritt. Definitiv Linksträger.
Aus dem Nebenbüro schallt es: „Nein! Das war die andere. Die nach Mia noch.“
Er zieht seine Augenbrauen hoch. „Ach ja. Die Kollegin, die dich ersetzen sollte, ist ja auch sofort schwanger geworden“.
Er wühlt sich weiter durch alle Schränke. Genervt überprüft er jede Ablage. Dieser kalte Mensch übernimmt also mein liebevolles Kulturprogramm.
„Wie heißt du?“, frage ich. „Nikola“, nuschelt er. „Meine Eltern kommen aus Kroatien.“
Ich stehe auf und setze mir möglichst selbstsicher meinen Rucksack auf.
„Das Beamer-Kabel ist – wie sonst auch – im Eckschrank unter der Treppe, Nikola“, sage ich. Und verlasse das Büro.
“Ich möchte deine Lippen küssen“
Als ich zu meinem Fahrrad laufe und nochmal über mein Handy scrolle, zucke ich kurz zusammen. Moritz hat geschrieben. Er hat früher Feierabend gemacht und Mia bereits abgeholt. Ist das ein Scherz? Möchte er mir auf die letzten Meter doch noch Last abnehmen? Seine WhatsApp besteht aus fünf lieblosen Wörtern. Kein Smiley.
Ich scrolle im Verlauf. Süße Nachrichten markiere ich mir bei WhatsApp immer mit Sternchen, die Funktion kennen wenige. Ich gehe in Moritz‘ Sternchen-Ordner. Ich habe ewig nichts abgespeichert. Die letzte Nachricht ist knapp zwei Jahre alt. „Mia, meine Mia. Du fehlst mir. Drei Tage Mia-los fühlen sich länger an als die Tage, bevor man den Adventskalender öffnen darf. Ich möchte deine Lippen küssen – die im Gesicht, und die zwischen deinen Beinen“. Ich starre auf das Display.
Arielle oder Ursula?
Ein Anruf holt mich aus der Trance. Das Wort Ursula blinkt über dem grünen und roten Telefonhörer. „Ey! Wie fühlt es sich an, wieder unter der arbeitenden Bevölkerung zu sein, mi amor?“, fragt Lupita. Lupita ist meine beste Freundin, eine Seele von Mensch. Eine Mexikanerin mit tiefer Stimme. Kinderlos, impulsiv, interessiert an der Welt. Sie ist großer Arielle-Fan. Als Lupita mal ein dummes Buzzfeed-Quiz gemacht hat, bei dem herauskommen sollte, welcher Disney-Charakter sie ist, hat sie extra alle Fragen in Richtung Arielle beantwortet. Zu ihrem Erstaunen lautete das Ergebnis dann: Meerhexe Ursula. Ein wundervoller Spitzname für eine so hübsche Frau.
„Hm. Es war okay. Unspektakulär. Mein Nachfolger ist eine Nullnummer“, sage ich.
„Das war ja wohl klar, mi linda. Ich bitte dich. Niemand kann dich ersetzen. Noch ein Grund mehr, mich nach Kolumbien zu begleiten“, sagt Lupita.
„Ich kann nicht. Du weißt das. Der Job. Alea. Alles“, erwidere ich.
„Da du mich noch nicht weinend angerufen hast, gehe ich davon aus, dass du noch nicht mit Moritz geredet hast?“, fragt Lupita.
Stille.
„No, no, no. Schieb das nicht vor dir her, Mia. Du gehst noch kaputt“, sagt Lupita.
„Heute“, seufzte ich. „Heute, Ursula. Ich traue mich bloß nicht. Ich bin die Liebe seines Lebens. Okay, ich weiß, die Liebe ist irgendwie gerade sehr abwesend. Aber ich bin immer noch seine Eine, weißt du?“.
Kurze Pause. „Wenn du mich danach brauchst, ruf mich an, ok? Du schaffst das. Besos, amor“, sagt Lupita und legt auf.
Sechs Kilometer später…
…stecke ich mit pochendem Herzen den Schlüssel in das Haustürschloss. Entschlossen, am Abend doch wieder zu schweigen, nebeneinander Netflix zu schauen und dabei am Handy zu daddeln. Als ich reinkomme, sehe ich es in seinem Blick.
„Alea spielt mit Emil im zweiten Stock“, sagt Moritz. „Wir müssen reden.“
Und so bricht der Mann, dem ich nicht das Herz brechen wollte, mein Herz.