anonym geschrieben

2012, Ethikunterricht der 13. Klasse, ich bin 19 Jahre alt. Der nicht-invasive Pränataltest (NIPT), der das kindliche Erbgut auf die Trisomien 13, 18 und 21 untersucht, wird bald auf den deutschen Markt kommen. Laut lesen wir im Klassenzimmer ein paar Artikel, die unser Lehrer zu dem Thema mitgebracht hat.

Darauf folgt eine Diskussion, in der vorrangig die ethische Unvertretbarkeit gegenüber Familien und vor allem Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch bei einem auffälligen Ergebnis vornehmen, unterstrichen wird. Es fallen Begriffe wie „vorgeburtliche Selektion“. Alle verlassen aufgebracht den Unterricht: „Man kann sich doch kein Kind wünschen und sich dann dagegen entscheiden, weil es mit einer Behinderung auf die Welt kommen wird“, „Total schlimm, diese Kinder haben doch auch ein Recht auf Leben.“

2019, ich bin 26 Jahre alt und in der 17. Schwangerschaftswoche. Letzte Woche hatte ich eine Amniozentese (auch als Fruchtwasseruntersuchung bezeichnet). Kurz bevor der Arzt das Fruchtwasser entnommen hat, habe ich erfahren, dass du ein Mädchen bist. Seit zwei Tagen kann ich dich spüren. Noch eine Woche, dann kommt das Ergebnis nach 14 Tagen. Ich schreibe an einer Hausarbeit, aber meine Konzentration lässt mit jedem Tag etwas nach. In regelmäßigen Pausen gehe ich am Bach spazieren. Dabei halte ich dich ganz oft, ich singe dir Lieder vor und spreche dir zu. Unbedingt möchte ich, dass du in deinem kleinen Nest spüren kannst, dass du geliebt bist, egal wie lange du bleibst. Ich fühle mich so tief zu dir verbunden, meine Kleine. Ich denke realistisch: die Chancen stehen 50/50 und immer wieder kommt die Angst hoch. Doch ich fühle mich kraftvoll und habe ein gutes Gefühl. Ich glaube daran, dass ich dich gesund in meinen Armen halten werde.

Eine Woche später, 6:00 Uhr morgens, ich bin hellwach. In zwei Stunden öffnet die Praxis. Heute sollte das Ergebnis kommen. Ich zittere, lasse mein Handy nicht aus dem Blick. Bekomme keinen Löffel Müsli runter. 08:30 Uhr. Die Praxis hat sich noch nicht gemeldet. Ich rufe an. Noch kein Ergebnis da, ich soll mich um 14:00 Uhr nochmal melden. Nichts.

Durch die langjährige Kinderwunschbehandlung meiner älteren Halbschwester habe ich bereits mit Anfang 20 erfahren, dass ich ebenso wie sie eine seltene chromosomale Translokation vererbt bekommen habe, die für mich persönlich medizinisch irrelevant ist, aber Auswirkungen auf meinen Kinderwunsch haben kann. Daher hatte ich direkt  gemeinsam mit meinem Freund eine genetische Beratung in Anspruch genommen. Uns wurde gesagt, es könnte etwas länger dauern, bis ich schwanger werde. Außerdem habe ich ein erhöhtes Risiko für Fehlgeburten und wir sollten uns, wenn es soweit ist, mit der Möglichkeit der Pränataldiagnostik auseinandersetzen, falls wir unser Baby auf das erhöhte Risiko von Fehlbildungen untersuchen wollten. Dies würde nicht via Bluttest möglich sein. Uns wurde geraten das Thema Kinderwunsch möglichst jung anzugehen. „Vielleicht sehen wir uns also in ein paar Jahren!“, verabschiedete sich die Ärztin optimistisch.

Als ich (nach dem ersten Versuch) schwanger wurde, bekam ich leider keinen zeitnahen Termin in derselben Praxis, also gingen wir zu einer anderen Genetikerin in einer Praxis für pränatale Untersuchungen. Aus dem Mund der scheinbar herzlosen Ärztin klang meine Lage nicht annährend so optimistisch wie vor ein paar Jahren: „Da kann auch mal ein richtig behindertes Kind bei rauskommen“ (Wortlaut der Ärztin!). Sie war Fan von Zahlen. Sie rechnete mir eine 50/50-Chance aus: zu 50% würde einfach alles gut gehen. Die anderen 50% betitelte sie mit der Möglichkeit einer Fehlgeburt oder einem Baby mit Schwerstbehinderung.

Ich versuchte, meinen letzten Optimismus zusammenzunehmen und berichtete, dass meine Mutter eine Fehlgeburt gehabt hatte und es in den mir bekannten Generationen der Familie keine Menschen mit Behinderung gab. Könne das nicht bedeuten, dass diese Art der chromosomalen Veränderung in meiner Familie vom Körper erkannt und frühzeitig abgestoßen wurde? Sie ging nicht weiter darauf ein.

Ein klares Krankheitsbild konnte aufgrund der Seltenheit dieser Auffälligkeit nicht gegeben werden. Die Ärztin sagte uns, es würde sich um eine Genveränderung handeln, die die zentralen Organe des Körpers betraf. Das Baby würde in diesem Fall schwerstbehindert auf die Welt kommen und hätte eine Lebenserwartung, die das Kindes- oder Jugendalter vermutlich nicht überschreiten würde. Abschließende Information des Gesprächs: Sollte ich mich nach auffälligem Ergebnis für einen Abbruch entscheiden, wäre es bereits zu spät für eine Vakuumaspiration. Ich müsste eine Totgeburt durchleben. Bäm.

Alle ethischen Fragen. die uns danach durch den Kopf gingen, sprengen den Rahmen dieses Artikels deutlich. Ich würde gerne eine gut überlegte Antwort auf alle grenzüberschreitenden Kommentare oder Fragen geben, die mir diesbezüglich entgegengekommen sind. Und auch dafür bräuchte ich einen eigenen Artikel. Kurz zusammengefasst: „Nein. Du weißt nicht, was du in Situation X getan hättest. Oder in meiner Lage. Denn du warst nie in meiner Lage als 26-jährige Marie zu Anfang ihres Masterstudiums im Jahr 2019.“ Wir waren uns als Paar einig, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage sehen oder nicht in der Lage sehen wollten, unser Leben auf alle Herausforderungen, die eine Geburt eines schwerstbehinderten Kindes mit sich bringt, umzustellen. Aus Gründen.

Zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort hätten wir vielleicht eine andere Position gehabt. Was wir letztendlich entschieden hätten, können aber auch wir nicht zu 100% wissen. Denn wir haben das unendliche Glück, eine gesunde Tochter auf die Welt gebracht zu haben. Und falls du zu denen gehörst, die so eine bescheu*te Frage stellen würden: Sollte sie jemals aus dramatischen Gründen pflegebedürftig sein, würden wir alles für sie tun. Und nein, das ist nicht das gleiche.

Wir sprechen bei Pränataldiagnostik vom Recht auf Entscheidung. Das man in Anspruch nehmen darf oder auch nicht. Und neben vielen anderen Fragen, die man sich in so einer Situation stellen sollte (und glaubt mir: Alle Menschen in so einer Lage würden niemals unreflektiert handeln), ist eine: Wie würde mein Leben mit dieser Entscheidung aussehen? Und darüber wurde im Ethikunterricht 2012 auffällig kurz diskutiert.

Welche Entscheidungen du oder ihr auch trefft – sie sind okay und unterstützenswert.