kitafrei

 

 

Endlich! Ein Ende der Kitaschließungen ist in Sicht und für einige Eltern sogar bereits in greifbarer Nähe. Ab August soll in einigen Bundesländern wieder Regelbetrieb herrschen und bis dahin erfolgt eine langsame, stufenweise Öffnung nach Altersklassen und Bedürfnissen. So gehen zuerst die Vorschüler zurück in die Kindertagespflegen und binnen weniger Monate folgen ihnen auch die restlichen Kinder. Vorerst sind nicht überall volle Tage angedacht, sondern nur einige Stunden Betreuung, doch diese schaffen die Möglichkeit, kurz in Ruhe zu arbeiten oder das Chaos der letzten Wochen auf Vordermann zu bringen. Circa 93 Prozent der Kinder zwischen drei und sechs Jahren werden in Kindertagesstätten betreut, bei den unter Dreijährigen ist die Quote jedoch mit rund nur einem Drittel viel geringer. Die restlichen Kinder sind nicht in der Kita, sondern daheim.

Wie, keine Kita? Die ganze Zeit mit den Kindern in den eigenen vier Wänden, wie in den letzten Monaten? Ja, genau! Einige Eltern entscheiden sich bewusst dafür, ihre Kinder selbst zu betreuen, ihren Anspruch auf Fremdbetreuung nicht geltend zu machen und kurzgesagt „kitafrei“ zu leben.

Es ist Montag und die Sonne ist gerade erst aufgegangen, der Wecker dröhnt schon zum dritten Mal und nun muss der Tag beginnen. Schnell sich selbst fertigmachen, die Kinder aus dem Bett holen, anziehen, Brote schmieren und dann los, um den Nachwuchs in die Kita zu bringen und anschließend schnell zur Arbeit zufahren. So oder so ähnlich sieht in vielen Familien ein normaler Montagmorgen aus.

Die eigenen Kinder in eine Kita oder zu einer Tagesmutter zu bringen, ist die Realität der meisten Eltern in Deutschland. Kindertagespflegen sind die häufigsten Betreuungsformen und eines haben sie gemeinsam: Sie sind teuer. In einigen Regionen und Städten, wie beispielsweise Berlin, zahlen Eltern keine Kitagebühren, aber damit bilden sie die Ausnahme. Für den Rest wird eine monatliche Kitagebühr fällig, die sich nach dem Einkommen der Eltern richtet, sowie je nach Kita individuelle Zusatzkosten. Bei mehr als einem Kind und dem vermehrten Wunsch, einen Teilzeitjob anzunehmen, können sich Einnahmen und Ausgaben dann beinah bei null treffen. Da kommt verständlicherweise die Frage nach der Notwendigkeit der Fremdbetreuung auf.

In einigen Teilen Deutschlands herrscht zusätzlich ein Mangel an Kitaplätzen und wenn dann einer dieser begehrten Plätze frei wird, ist das nur mit viel Glück in der Wunschkita. Anett hatte dieses Glück. Sie wohnt mit ihrem Mann in Chemnitz und die junge Familie freute sich sehr über diese Chance, die nicht jeder bekommt. Die damals 31-Jährige stand kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes und bekam nach zwei Jahren auf Wartelisten die Zusage für ihren Sohn, sogar in einer ihr oft empfohlenen Kita. Nachdem es endlich so weit war, lauerte die Ernüchterung während der Eingewöhnung. Für diese empfindliche Phase des Kennenlernens von Eltern, Kindern und Erziehern gab es kein Konzept seitens der Kita, sondern die Eingewöhnungskinder sollten nach einer kurzen Spielzeit im Außenbereich, ohne Interesse oder einer Einladung zum gemeinsamen Spiel seitens der Kitamitarbeiter, direkt ohne ihre Eltern mit den noch fremden Erziehern in die Räume der Kita gehen, Räume die sie vorher noch nie betreten hatten. „Jetzt stand ich da, hochschwanger, den Tränen nah und es war ganz fürchterlich.“ Weder ihr Sohn noch die junge Mutter wollten diese radikale Trennung mitmachen. Dieser Umstand und die Methoden der Erzieher, die Anett als „nach dem ganz alten Fahrplan wie in DDR-Zeiten“ beschreibt, bewegten sie und ihren Mann dazu, ihr Kind wieder abzumelden. Das Paar hoffte darauf, dass sie eine Lösung ohne die Kita finden werden, denn ganz ohne Fremdbetreuung kannten sie noch keinen Weg.

Bei einer Vorsorgeuntersuchung mit ihrer Hebamme kam der befreiende Moment: Eine andere Hebamme erzählte ihr, dass sie bis zum Schuleintritt ihres Kindes daheim geblieben ist. „Das geht? Das hast du einfach so gemacht?“ Anett hatte viele Fragen, denn in ihrem Umkreis gab es das einfach nicht. Durch diese Initialzündung begann ihr Betreuungs-, ja sogar Lebenswandel, und sie begannen, kitafreie Eltern zu werden. Was so einfach klingt, ist es definitiv nicht. Genau das merken auch andere Eltern besonders gerade in der heutigen Krisenzeit, denn Kinder haben viele Bedürfnisse und noch mehr Energie. Mit den Jahren hat die Familie sich einen Background für ihr kitafreies Leben geschaffen, sie sind in eine kinderfreundlichere Gegend gezogen und haben Kontakte aufgebaut. Ein Alltag ist eingekehrt, der zur Freude der Kinder vor allem aus Spielen besteht. Sie können ihre Zeit frei einteilen und neben wenigen festen Terminen plant Anett Unternehmungen, Spieltreffen mit den Freunden der Kinder und kann genau auf die Bedürfnisse und Interessen aller eingehen. Im Gegenteil dazu sei das im Kitaalltag nicht immer möglich, denkt Anett.

Doch in der Familie stehen nicht nur die Kinder im Vordergrund, sondern auch die Wünsche der Eltern werden berücksichtigt. Anett nimmt sich bewusst Zeit für sich, um nicht nur Mutter zu sein, sondern auch Frau zu bleiben. Außerdem findet sie, dass man eine Aufgabe braucht, die nur für einen selbst ist, egal was es ist. Ihren Auftrag hat sie aus dem Umstand gefunden, dass sie selbst gern mehr Anleitung und Hilfe bei ihrem kitafreien Weg gehabt hätte. Vor Kurzem entschied sie sich, anderen Familien zu helfen und Coachings und Kurse zu diesem Thema anzubieten. „Man muss sich natürlich nicht selbstständig machen, es kann auch reichen, dass man häkelt oder so was. Wenn man darin eine Erfüllung findet und das wirklich für sich selbst ist, dann denke ich nicht, dass man sich verliert. Es ist ein großes Thema mit der Selbstliebe und auf sich selbst zu achten.“

Nicht jeder befürwortet ihr Kitafreileben, sie würde nur zu Hause sitzen und nichts machen, Vorwürfe wie „Du bringst kein Mehrwert für die Gesellschaft“, schmerzen nach wie vor. Dennoch möchte sie dem kein Raum in ihren Gedanken geben und versucht, sich von Anerkennung und Lob von außen zu lösen. „Sinn und Zweck der ganzen Sache ist ja, dass man sich davon frei macht, dass man das gar nicht mehr braucht. Natürlich braucht jeder Wertschätzung, aber die kann man sich auch selbst geben. Ich bin nicht davon abhängig, dass mir jemand anderes sagt, wie toll ich das mache. Das weiß ich.“

Einige ihrer Kritiker sind nun zeitweise durch das Coronavirus gezwungen, auch kitafrei zu leben. Für die Familie selbst hat der Lockdown, außer dem Homeoffice des Familienvaters, keine großen Veränderungen mit sich gebracht. Anett vermutet jedoch, dass viele andere Familien nun ihr Betreuungskonzept überdenken und „merken, was [die Kinder] tun würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Sie könnten ihren Hobbys nachgehen, frei spielen und auf einmal total aufblühen. Es kann sein, dass sie ganz ruhig werden, gar nicht mehr so streng gestresst sind. Es ist ja auch ein Stressfaktor, so eine Kita, alles ist eingetaktet und getimet und das muss ja auch sein, wenn man so viele Kinder in den Einrichtungen betreut, das geht dann gar nicht anders. Also, sie könnten merken, was das eigentlich für einen positiven Effekt hat, wenn man die Kinder länger zu Hause lässt.“ Sie betont aber, dass sie kein Kitafeind sei und kitafrei nur funktioniert, wenn die Eltern das auch ehrlich möchten. Es nütze keinem Kind etwas, wenn die Mutter oder der Vater überfordert seien. Anett und ihre Familie stehen auch nach vier Jahren zu 100 Prozent hinter ihrer Entscheidung, kitafrei zu leben. Ihr Sohn ist mittlerweile sechs Jahre alt und ihre vierjährige Tochter bereichert das Leben der Familie.

Es ist Montag, die Sonne ist aufgegangen und der Wecker klingelt. Die Kinder werden wach und können in Ruhe vor dem Frühstück spielen, während der Tag beginnt.

So oder so ähnlich sieht ein normaler Montagmorgen in Anetts Familie aus, entschleunigt, bedürfnisorientiert und kitafrei.