reisen nervt

Reisen. Es ist das Nonplusultra unserer Zeit. Früher wurde mit einer schnieken Uhr angegeben, heutzutage mit Urlauben. Ich packe meinen Koffer und nehme mit: Prestige, soziale Anerkennung und Selbstdarstellung. Zeit im Ausland als heiliger Gral. Meine Mama unterscheidet gerne zwischen Must-haves und Nice-to-haves im Leben. Eine Hausratversicherung? Must-have. Ein eigenes Auto? Nice-to-have. Ein Urlaub müsste eigentlich in die Schublade: Nice-to-have, und ist in den vergangenen Jahrzehnten gesellschaftlich eindeutig zum Must-have aufgestiegen. Dabei kann Reisen übelst nerven. Erzählt das Umfeld davon gern? Selten. Extrem selten. Lieber wird bei der Rückkehr im Büro geschwärmt: „Alles war meeega. So so schön. So erholsam. Toll. Wer diesen Ort nicht gesehen hat, verpasst etwas.“ Ich sage: Manchmal verpasst man auch nichts. Eine Ode ans Nicht-Reisen.

Es beginnt mit der Entscheidung. Wohin? Wie lange? Für wie viel Geld? Wie warm soll es sein? Mietwagen ja oder nein? Selber kochen, Hotelessen oder Restaurants? Sonne oder Schnee? Stadt oder Natur? Wandern oder rumgammeln? Backpacking, Pauschalreise oder Airbnb (natürlich total authentisch Tür an Tür mit der Bevölkerung)? Puh, nervig. Nächtelanges Scrollen auf der Suche nach Ferienhäusern, endlose Flugpreisvergleiche im Netz und immer wieder die Frage an den Mann, was er denn vorschlägt. Schulterzucken. Würde der Partner für den Urlaub zuständig sein, wäre ein Tagesausflug nach Buxtehude das höchste der Gefühle. 

Wie soll ich eine Entscheidung treffen in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten? Ob Schafe hüten in Estland, Trampen durch Uganda oder einfach nur Rumliegen an der Costa Brava. Es ist der Fluch der tausend Optionen: Schließlich fallen mit jeder Entscheidung, die getroffen wird, tausend andere Möglichkeiten weg. Ein quälender Gedanke.

Handgepäck-Gebühr wollen die auch noch?

Sind die Würfel endlich gefallen, der nächste Schreck: Der Flug ist gar nicht so billig wie in der Suchmaschine?! Ok, ich zahle noch Langstreckenaufschlag. Und Aufschlag für die Reiserücktrittsversicherung. Und Aufschlag für Gepäck. Handgepäck-Gebühr wollen die auch noch? Herrje, aber dann sind wir doch durch, hoffe ich. Tada – da werden nochmal 10 Euro für die Bezahlung per Kreditkarte fällig. Wobei ich mit Paypal auch 10 Euro zahlen müsste. Oder 10 Euro für eine Überweisung. Macht ja vollkommen Sinn – NOT. 

Nach der Buchung geht es ultra entspannt weiter: heimlich auf der Arbeit Reiseblogs lesen, um bloß keinen Geheimtipp zu verpassen. Hektisch im Supermarkt die Sonnenmilch suchen, die nicht so klebt. Super freundlich zu seinen Eltern sein, schließlich muss ich sie in wenigen Tagen bitten, sich in meiner Abwesenheit liebevoll um meine Pflanzen zu kümmern. Nebenbei immer mal wieder in den Kleiderschrank luschern, um festzustellen, dass keiner von den fünf Übergangspullis zu den wechselhaften Temperaturen des Urlaubsortes passt. Nebenbei stresst mich die Zwangsstörung, stündlich die Wettervorhersage im Smartphone für Ort XY zu stalken. Sind die trüben Wolken-Smileys endlich verschwunden?

Notiz an Zukunfts-Alina: auf Papa hören.

Mein Papa, verantwortungsbewusst wie er ist, erinnert mich nochmal daran, an Reisechecks zu denken oder die Währung in der Wechselbank zu besorgen. Wie umständlich. Lieber krame ich meine Reise-Kreditkarte aus der krümeligen Schublade, tippe beim Bargeld-Abhol-Test dreimal den falschen PIN ein, hänge Tage später in der Kunden-Hotline der Bank und warte Last-Minute vor der Reise auf neue Zugangsdaten. Notiz an Zukunfts-Alina: auf Papa hören. Dazu nochmal verwirrt googeln, ob wir im europäischen Ausland eigentlich krankenversichert sind und ob wir für den Mietwagen noch eine Buchungsbestätigung ausdrucken müssen (der Drucker hat natürlich keine Patronen).

Der Weg zum Urlaubsort ist noch gespickt von Euphorie. Ob Flug, Bus, Fähre, Bahn oder Auto: Vorfreude liegt in der Luft, die Aufbruchstimmung erfüllt das Herz. Wenige Tage oder Wochen später liegt auf dem Heimweg per Flug, Bus, Fähre, Bahn oder Auto nur noch eines in der Luft: Schweiß und die deprimierende Erkenntnis, dass es nun vorbei ist. Dass ich monatelange geackert habe, um in wenigen Tagen eine Unmenge Geld auszugeben. 3,2,1 … nicht mehr meins. 

Besonders unnötige Taler habe ich natürlich auf dem Markt verloren. Während andere Nationen charmant, hartnäckig oder clever ihre Waren runterhandeln können, stolpere ich unbeholfen durch die Gassen. Ein schüchternes Grinsen, „no, no, grazie“, und innerlich genervtes Augenrollen. Die Sehnsucht nach Festpreisen. Ein Markt im Ausland bietet mir gefühlt nur zwei Möglichkeiten: a) ich werde übers Ohr gehauen oder b) ich fühle mich miserabel, weil ich als Touristin einer Industrienation zu geizig war zu handeln. Gerne auch: Mitleidseinkäufe. Noch immer sehe ich den hässlichen gestrickten Drachen in Vietnam, den ich nie haben wollte, aber die indigene Frau hat doch so nett gelächelt. 

Gelächelt wird auch auf unseren Fotos. Ganz fleißig. Das Lächeln ist immer echt – anders als die Landschaftsfotos für Freunde und Familie. Da wird beim Bergpanorama der überfüllte Mülleimer abgeschnitten, die anderen Touristen im Ozean oder die fremden Wanderer am Wasserfall weggelassen. Alles sieht so wild und einsam aus – wow! Viva la Crop-Funktion. Der Bildausschnitt ist die größte Lüge jedes Urlaubs. Die Kirsche auf der Sahntorte der Flunkerei ist der Filter: blauerer Himmel, türkiseres Wasser, rötere Sonnenuntergänge. 

Dabei bin ich ja selber Tourist

Und während ich mir einrede, total entspannt zu sein, mich treiben zu lassen und super spontan zu reagieren, erwische ich mich dabei, wie ich mich doch gestresst fühle. Davon, etwas zu verpassen. Die falsche Route zu nehmen. Die Balance zwischen authentischen Ecken und Highlights, die man gesehen haben sollte, nicht halten zu können. Die Krux ist doch: Ich möchte zwar individuell reisen, authentische Viertel entdecken und gleichzeitig Must-sees nicht verpassen: Was wäre Paris ohne Eiffelturm, Ägypten ohne die Pyramiden oder Bolivien ohne die Salzseen? Ich will sie sehen. Aber ich will keine anderen Touristen sehen. Dabei bin ich ja selber Tourist. Ich muss mir diese wunderschöne Welt halt mit anderen Bewunderern teilen und gute Zeitpunkte für Besuche abpassen. Alles nervig.

Ein besonderer Tiefpunkt des Reisens markierte für mich eine Busfahrt auf Borneo, Malaysia. Da war ich nun, auf einer paradiesischen Insel mit handgroßen Schmetterlingen, Delfinen im Meer und exotischen Früchten am Straßenrand. Doch statt im Grünen saß ich sechs Stunden lang in einem Bus auf einem staubigen Schotterweg. Einigen von euch ist es sicher bekannt: In vielen Ländern gibt es keine festen Busfahrpläne, sondern der Fahrer tritt erst auf das Gaspedal, wenn der Bus einigermaßen voll ist. Da saß ich nun, allein bei 38 Grad, und wartete vergeblich auf Mitfahrer. Sechs Stunden lang. Schweiß, ein schmerzender Po, ein leerer MP3-Player. Generell hasse ich im Ausland den Verkehr wie die Pest: hupende Autos ohne ersichtliche Regeln, keine Fahrradwege, Fähren ohne Rettungswesten, Busse, die im strömenden Regen im Hochgebirge an ungesicherten Klippen vorbeirasen. Ja, ja. „Ein Abenteuer“. „Der Weg ist das Ziel“. Nein, manchmal ist auch einfach nur das Ziel das Ziel. Und da möchte ich heil ankommen.

Ach, mir fallen zig Dinge ein, die in Urlauben nerven können. Fremde Betten mit durchgelegenen Matratzen. Englische Touristen. Postkarten schreiben und dann keinen Briefkasten finden. Eiskalte Klimaanlagen. Flugpassagiere, die bereits aufspringen und drängeln, obwohl der Flieger gerade erst den Boden berührt hat. 5 Bücher mitnehmen. Und dann 5 Bücher wieder ungelesen mit nach Hause schleppen. Straßenhunde, die grausam behandelt werden. Blutige Mückenstiche. Das schlechte Gewissen um seinen CO2-Abdruck. Durchfall. Der Druck, diese Zeit unbedingt zu genießen. Bergeweise Wäsche nach der Rückkehr.

Und doch, geben wir es zu, schreibe ich diesen Artikel aus Zwang. Ich belüge mich selbst. Natürlich sind die Strapazen am Ende alles wert. Alles! Und die Zeit in einem fremden Land ist unvergesslich. Oh, wie schön wäre es jetzt in Panama! Doch manchmal hält uns nicht nur fehlende Zeit oder mangelndes Geld von Urlauben ab, sondern eine Pandemie vor der Haustür. Die Seele, die nach Urlaub trachtet, muss sich an die Schattenseiten des Reisens klammern, um nicht durchzudrehen. Hier, in den eigenen vier Wänden – statt an Stränden. 

Und ein Mittelchen bekämpft das Fernweh ganz besonders: Die gute Nachricht, dass sich die Natur die nun leeren Touristengebiete zurückerobert. Delfine vor Venedig. Mehr Pinguine auf Galapagos. Erholung der Korallen im Roten Meer. Der Flußregenpfeifer (ein süßer Vogel der scheinbar einen schwarzen Schal um den Hals trägt) nistet wieder an heimischen Flüssen. Und weil ich nicht mit anderen Backpackern durch den kolumbianischen Urwald stampfe, brüten die Kolibris wieder in Ruhe. Noch nie habe ich mich durch mein Nichtstun mehr als Umwelt-Wohltäter gefühlt. So spaziere ich gern – statt durch den Dschungel – einfach um den Tümpel ums Eck. Voller Zufriedenheit. Statt Kolibris bewundere ich halt die Stockenten. Auch schön.