Schon mal den Spruch gehört oder selbst gesagt? Kleidung unter fairen Bedingungen, mit fairer Bezahlung und umweltfreundlicheren Materialien herzustellen kostet. Und sie sollte es auch wert sein, bezahlt zu werden. Das Problem ist, dass wir es inzwischen so gewohnt sind, für ein T-Shirt von H&M 10 Euro auszugeben. Da fühlen sich 40 Euro für ein augenscheinlich sehr ähnliches Oberteil viel schmerzhafter an. Und irgendwie auch kontraintuitiv. Die längste Zeit war es die größte Errungenschaft, den extremsten Rabatt zu ergattern.
Eine Zeitlang wurde nachhaltige Mode als ein universelles Gut akzeptiert. Klimakatastrophen und Verletzungen von Menschenrechten = schlecht. Doch dann kam dieser Ansatz, der sagte: Eigentlich sind nachhaltige Marken unerschwinglich. Auch im globalen Norden gibt es Armut, und es liegt nicht in der Verantwortung durchschnittlicher Bürger*innen mit niedrigem Einkommen, die globale Ausbeutung von Arbeitskräften zu beenden. Sollten nicht die Unternehmen, da sie die Schuldigen sind, in die Pflicht genommen werden, anstatt einzelne Menschen, insbesondere ärmere?
„Dürfen arme Menschen keine schönen Klamotten haben? Das ist klassistisch.”
Es ist bekannt, dass billige Kleidung mit großem Leid von Menschen im globalen Süden einhergeht. Ganz zu schweigen von den katastrophalen Auswirkungen auf die gesamte Umwelt.
Die Bevölkerungsgruppen, die am stärksten von den ausgelösten Umweltschäden betroffen sind, sind diejenigen, die bereits ausgebeutet werden, um die Bekleidungsindustrie am Leben zu erhalten. Kaum zu glauben, aber jeder sechste Mensch arbeitet heute in der globalen Modeindustrie. Und weniger als zwei Prozent der Arbeiter*innen verdienen einen existenzsichernden Lohn. Da kommen dann noch die gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen hinzu.
Wir sind einfach zu weit – sowohl psychisch als auch geografisch – von den gravierenden Ausmaßen entfernt, die Fast Fashion hat. Für uns ist der größte Unterschied der, den der Kauf im Portemonnaie macht. Aber tatsächlich können sich viele Menschen Fair Fashion leisten, sie möchten es nur nicht. Armut im globalen Norden ist nun mal nicht Armut im globalen Süden. Und trotzdem ist das Ganze nicht so einfach.
Eine kurze Geschichtsstunde
Wenn wir an Armut denken, denken wir an den globalen Süden. Doch das ist nicht einfach so passiert. Der globale Süden wurden jahrhundertelang vom globalen Norden ausgebeutet.
Europäer*innen kamen mit dem ausdrücklichen Ziel in den Süden, Ressourcen und Arbeitskräfte auszubeuten. So konnten sich heutige europäische Länder dank der Gewinnung von Rohstoffen, die durch Sklaverei gewonnen wurden, wie Kohle, Öl, Zucker, Baumwolle oder Kakao, schnell industrialisieren. Außerdem wurden damit die Menschen in diesen Regionen ihrer eigenen Gemeinschaftsnetze und Subsistenzwirtschaften beraubt. Diese Verluste halten ehemals kolonisierte Länder seit langer Zeit zurück.
Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass es keinen wirtschaftlichen Wohlstand und keine Entwicklung der ersten Welt ohne die andauernde Unterentwicklung der dritten Welt geben würde.
Große Empfehlung zu diesem Thema: Das Buch „How Europe Underdeveloped Africa” von Walter Rodney.
Was bedeutet Armut überhaupt?
Sich etwas nicht leisten zu können, bedeutet zu arm für etwas zu sein. Im Laufe der Geschichte hatte der Begriff „Armut“ eine Vielzahl von Bedeutungen: Verlust des sozialen Status, Ausschluss aus der Gemeinschaft oder öffentliche Demütigung. Im Laufe der Zeit bekam Armut eine moralische Bedeutung und bezog sich auf fehlendes Kapital. Arm zu sein, ist heute das Gegenteil von reich zu sein. Reich an Geld. Und auf globaler Ebene wird Armut nur noch als materielle Entbehrung beurteilt.
Für den Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen ist Armut nicht nur Geldmangel, sondern eine soziale Angelegenheit, die davon abhängt, ob die Grundbedürfnisse innerhalb einer Umgebung gedeckt werden. Demnach gibt es oft eine ebenso große Ungleichheit und Armut in Ländern des globalen Nordens wie des Südens. Es ist alles relational: „In einem reichen Land relativ arm zu sein, kann ein großes Handicap sein, selbst wenn das absolute Einkommen im weltweiten Vergleich hoch ist.“
Aber wenn wir ehrlich sind: Die Menschen im globalen Süden, die ausgebeutet werden, um für Fast-Fashion-Unternehmen Kleidung herzustellen, sind genauso arm, wenn nicht sogar noch ärmer als die Menschen aus dem globalen Norden, die behaupten, sie hätten nicht genügend Geld, um diese Kleidung zu kaufen.
Umweltschäden, Leid und Müdigkeit
Traurige Zahlen über Mode und Umweltverschmutzung sind überall: Die Mode-Lieferkette ist der drittgrößte Umweltverschmutzer der Welt und verursacht fünf Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen. 57 Prozent aller weggeworfenen Kleidungsstücke landen auf Mülldeponien und die Modeindustrie ist für 20 Prozent aller Abwässer weltweit verantwortlich. Das sind erschreckende Tatsachen. Aber wir sind es inzwischen gewöhnt, so viele schlimme Dinge zu hören. Und wir sind es leid.
Verständlicherweise. Der Begriff „Compassion Fatigue“ oder „Mitleidsmüdigkeit“ beschreibt dieses Phänomen: Je mehr negative Nachrichten uns umgeben, desto mehr stumpfen wir mit der Zeit ab und fühlen nicht mehr so sehr mit Situationen und Menschen mit, wie sie es verdient hätten. Auch Kampagnen, die auf das Leid anderer hinweisen, erklären selten systematische Ursachen für dieses Leid. Sie appellieren an einzelne Menschen, um Schuldgefühle zu verursachen und Geldspenden zu akquirieren, nicht an multinationale Unternehmen, deren Verantwortung viel größer ist.
„Es gibt keinen ethischen Konsum im Kapitalismus“
Im Kapitalismus häufen einige wenige ihren Reichtum auf dem Rücken der vielen an – das ist ein von Natur aus unethisches System. Wenn wir andere dazu auffordern, „ethisch zu konsumieren“, legen wir die Verantwortung für die Beseitigung der Missstände auf Individuen, die dafür eigentlich nichts können. Ich kann vegan leben, aber immer noch werden jährlich Millionen von Tieren geschlachtet. Ich kann einen Jutebeutel zum Einkauf mitnehmen, aber trotzdem werden unzählige Plastiktüten produziert und weggeworfen.
Außerdem: Der Versuch, „ethisch zu konsumieren“, ist ziemlich teuer. Es gibt Grundbedürfnisse des Lebens, bei denen viele weder die Zeit noch das Geld haben, um sie aus ethischen Gründen zu vermeiden. Aber das sind die Schlüsselworter: Grundbedürfnisse und Überleben.
“Mode für alle“ oder auch „Was brauchen wir wirklich?”
Fast Fashion hat Stil demokratisiert. Das war das Mantra des Gründers von Zara, Amancio Ortego Gaona. Ursprünglich gab es eine Modesaison pro Jahreszeit. Vier im Jahr. Überschaulich. Aber die Nachfrage wurde immer größer. So wurde der Trendzyklus von vier Kollektionen auf über 50 pro Jahr erweitert. Menschen aller sozioökonomischen Schichten können nun aussehen, als kämen sie gerade vom Laufsteg. Und heute fühlen wir uns berechtigt, die neueste Mode zu den günstigsten Preisen zu kaufen.
Marken wollen uns einreden, dass wir Dinge brauchen, die wir eigentlich nicht brauchen. Autos? Je nach Wohnort, okay. Handys? Es ist schwer, heutzutage ohne zu leben. Schuhe, um die Füße zu schützen. Eine Jacke, um mich warmzuhalten. Aber wenn wir ehrlich sind, brauchen wir keine 9 Paar Stiefeletten oder 14 Mäntel.
Doch die reiche Elite hat einen Neidkult geschaffen, bei dem sich die Massen in das Streben nach Reichtum und Status einkaufen. Unternehmen nutzen dies und vermitteln die falsche Vorstellung, dass wir nur mithalten können, wenn wir ihre Produkte kaufen. So wurde schon in den 1950er Jahren der Fernseher als Zeichen des Fortschritts vom Unterhaltungsobjekt zum „Grundbedürfnis“.
Aber: Es geht hier nicht ums Überleben! Die einzige wirkliche Konsequenz von der Konsumverweigerung ist soziale Verurteilung und Demütigung. Das gilt für alle sozialen Schichten. Denn alle kaufen Fast Fashion, nicht nur diejenigen, die es sich wirklich nicht anders leisten können. Auf Social Media sieht man besonders die Menschen SHEIN-Hauls präsentieren, die sich definitiv fair produzierte Kleidung leisten können.
Somit kann man zynisch zusammenfassen: Das Recht, modisch zu sein, ist wichtiger als das Recht, nicht von Unternehmen ausgebeutet zu werden. Es ist wichtiger, als in einigen Jahren bei einer Überschwemmung nicht zu ertrinken. Wichtiger, als eine Familie gründen zu können, ohne existenzielle Angst davor zu haben.
Fazit: Mehr Ehrlichkeit und Balance
Natürlich kann eine alleinerziehende Mutter selbst mit gutem Gehalt ihren drei Kindern im Wachstum nicht alle paar Monate ausschließlich die fair produzierten Sandalen kaufen. Und natürlich kann sich kein Student auf BAföG nur die Lebensmittel aus dem Unverpackt-Laden leisten. Mehrgewichtige Menschen haben oft nicht die Möglichkeit, sich in Fair Fashion Marken einzukleiden, wenn diese nur bis Größe L (meist das Äquivalent zu 38/40 – wow!) anbieten.
Und selbst wenn – selbst wenn wir es uns alle leisten könnten, manchmal mag man auch kein Gutmensch sein und immer die bestmöglichste Entscheidung für die gesamte Gesellschaft treffen. Manchmal wollen wir auch egoistisch sein, etwas Geld sparen, nicht lange drüber nachdenken und einfach das T-Shirt von H&M mitnehmen. Das ist okay. Das ist ehrlich. Wir sind alle keine Engel. Ich geb es zu: Ich war gerade erst letzte Woche bei H&M. Bitte beschimpft nicht die nächste Person, die ihr seht, die Kleidung von Fast Fashion Marken trägt. Es sei denn es ist SHEIN – das ist die Ausnahme. Aber wer weiß, vielleicht ist es ja Second Hand?
Nicht alle schaffen es, die eigenen Kaufgewohnheiten komplett zu ändern oder aufzugeben. Aber versuchen können wir es. Schritt für Schritt. Und unser Bestes tun. In der Zahl liegt die Kraft. Und je mehr von uns sich gegen ein unglaublich schädliches System auflehnen, desto wahrscheinlicher ist es, dass es fällt – oder sich auf sinnvolle Weise ändert.