Die Schwesterherzen Doulas – das sind Natalia und Sarah. Als Geburtsbegleiterinnen betreuen sie tagtäglich Schwangere und Paare. Dies geht über die letztendliche Geburt hinaus, denn auch die Zeit rund um die Geburt ist sehr wichtig für die langfristige psychische und physische Gesundheit von Schwangeren. Das Mutterwerden verändert Frauen für immer. Deshalb sehen Natalia und Sarah dies nicht als ein einmaliges Event an, sondern als eine Entwicklungsphase. Und es als solche anzuerkennen, verhilft zu Verständnis und Solidarität. Im folgenden Artikel erläutern sie den Begriff der “Muttertät” als Namen für die Phase des Mutterwerdens und seine Bedeutsamkeit.
Was genau bedeutet “Muttertät” oder “Matrescence”?
“Matrescence” beschreibt die Phase des Mutterwerdens, die verschiedene Bereiche im Leben einer Frau umfassen kann – körperliche, zwischenmenschliche, berufliche sowie psychische. Es geht um die reguläre Veränderung der Persönlichkeit in der Mutterschaft, die ähnlich einschneidend ist wie in der Pubertät. Natürlich geht die Frau dadurch nicht verloren, sie besteht weiterhin, aber sie ist für immer (mental und auch körperlich) verändert. So wie ein junger Erwachsener nie wieder ein Kind sein wird, wird eine Person, die Mutter geworden ist. Nie wieder eine Nichtmutter sein. Wir haben es für den deutschsprachigen Raum mit “Muttertät” übersetzt, weil “Matrescence” für viele schwer auszusprechen ist und die Diskussion darüber erschwerte oder das Wort danach direkt wieder vergessen wurde.
Gibt es ein männliches Equivalent zur Muttertät?
Ja, auch Väter sowie Adoptiv- oder Pflegeeltern spüren durch das Elternwerden tiefgreifende Veränderungen. Sie stehen ebenso vor der Herausforderung, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, auch wenn sie Schwangerschaft und Geburt nicht selbst durchlebt haben. Ihr Leben wird auf ähnliche Weise durcheinandergebracht: weniger Schlaf, weniger Sport, weniger Sex, weniger Freizeit, mehr Verantwortung und mehr finanzieller Druck. Ein ganz neuer Mensch im eigenen Leben.
Der Unterschied zu Menschen, die nicht selbst schwanger waren und gebärt haben, ist, dass man die Veränderungen in ihrer Gehirnstruktur nachweisen kann. Die Veränderungen sind so deutlich, dass Forscher*innen mindestens zwei Jahre lang allein anhand der Abbildungen von Hirn-Scans mit 100-prozentiger Sicherheit sagen konnten, ob das Gehirn zu einer Mutter gehört oder nicht. Eine ähnlich plastische Umstrukturierung konnte bisher nur in der Pubertät beobachtet werden. Auch dort werden in kurzer Zeit so viele neue Verbindungen ausgebildet, dass es zu einer Abnahme der grauen Masse führt. Verantwortlich dafür sind höchst wahrscheinlich auch genau dieselben Hormone bei jungen Frauen in der Pubertät – Östrogen und Progesteron. Und bei jungen Männern noch Testosteron.
Sprache schafft Wirklichkeit. Was kann das Benennen der Mutterschafts-Erfahrung als “Muttertät” bewirken?
Es heißt, sobald wir etwas konkret benennen können, können wir es auch beherrschen. In unseren Augen steckt das Potential hinter „Muttertät” in erster Linie darin, dass der Begriff das oftmals erlebte Durcheinander und die Veränderungen in der Mutterschaft normalisiert und validiert. Außerdem gibt er Orientierung dafür, dass es absolut ok ist, was Mütter fühlen und es vielen so geht wie ihnen! Durch die Parallelen zur Pubertät wird auch sofort klar, dass Mutterwerden ein Prozess ist, der dauert und nicht mit der Geburt abgeschlossen ist. Wenn wir für bestimmte Lebensabschnitte eine Bezeichnung haben, dann kann das zu mehr Verständnis von der Umgebung führen, aber auch zu mehr Selbst-Mitgefühl.
Ihr sagt, “ein Hauptmerkmal von Muttertät sind ambivalente Gefühle.” Könnt ihr das erläutern?
Viele Mütter sind überrascht, dass sie nicht, wie durch zum Beispiel Social Media suggeriert, 24/7 Glück und Dankbarkeit empfinden, sondern auch mal Aspekte ihres alten Lebens vermissen oder einfach nur eine Auszeit für sich brauchen. Das bringt sie dann zum Zweifeln und sie fragen sich, ob sie überhaupt eine gute Mutter sind oder denken, allen anderen würde die Mutterschaft viel leichter fallen als ihnen. Wir sehen, dass es oft gefühlt nur zwei Extreme gibt – „regretting motherhood“ oder „Mutterschaft als einzige Erfüllung“. Das führt dazu, dass Mütter in zwei Lager gespalten werden, statt sich gegenseitig zu unterstützen. „Muttertät“ füllt die Lücke dazwischen und sagt, dass wir sowohl denken dürfen, dass unser Kind das Beste ist, was uns je passiert ist, als auch, dass wir gerne Zeit ohne unser Kind verbringen möchten. Es ist kein Entweder-oder, sondern vielmehr ein Sowohl-als-auch.
Auf eurer Seite “Schwesterherzen Doulas” habe ich diesen Spruch gesehen: “Birth is not only about making babies. Birth is about making mothers.” Könntet ihr dazu etwas sagen?
Wir verstehen das so, dass die Gesellschaft bei der Geburt viel zu oft den Fokus auf das Kind legt. Zu häufig heißt es: „Hauptsache, das Kind ist gesund!“, und dabei wird vernachlässigt, dass dieses Erlebnis für jede gebärende Person mehr als nur ein Tag in ihrem Leben ist. Es ist ein Tag, der ihr für immer im Gedächtnis bleibt und der auch ausschlaggebend dafür ist, wie sie in diesen neuen Lebensabschnitt startet. Hatte sie ein bestärkendes Geburtserlebnis, wird sie viel selbstsicherer und intuitiver durch die ersten Wochen und Monate der Mutterschaft navigieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass mit jedem Baby auch die Mutter geboren wird und dabei sollte sie optimal begleitet werden. Denn wer sich um die Mutter kümmert, kümmert sich gleichzeitig auch bestmöglich um das Kind.
Findet ihr, Mütter und ihre Leistungen werden in unserer Gesellschaft angemessen wertgeschätzt?
Leider gar nicht. Ähnlich wie schlechter bezahlte Berufe meist nicht besonders hoch angesehen sind, werden die „Gratis“-Leistungen von Müttern noch weniger wertgeschätzt. Muttersein wird als Gegeben betrachtet und soll quasi ganz natürlich funktionieren. Wen das anstrengt, der macht etwas falsch oder hätte sich das vorher besser überlegen sollen. Wir haben vergessen, dass Kinder aufziehen nie als One-Women-/Couple-Show gedacht war. Es braucht ein Dorf. “It takes a village.” Das zeigen auch zahlreiche evolutionsbiologische Studien. Unsere Gesellschaft aber verlangt, dass Frauen arbeiten, aussehen und auftreten, als wären sie keine Mütter und als würden sie nicht arbeiten oder hätten keine weiteren Interessen (als das Muttersein).
Habt ihr konkrete Beispiele, inwiefern spätestens ab der Geburt der Fokus von der Mutter zum Kind übergeht? Und die Tatsache übersehen wird, dass bei der Geburt nicht nur ein Kind, sondern auch eine Mutter geboren wird?
Als Schwangere bekommt man in der Regel viel Beachtung, es gibt regelmäßige ärztliche Kontrollen und auch in der Gesellschaft wird sich oft nach dem Befinden erkundigt. Die Babyparty gibt dann einen kleinen Ausblick darauf, wer spätestens ab der Geburt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken wird. Bereits unter der Geburt beobachten wir, dass häufig nur das CTG mit den fetalen Herztönen beachtet wird und für die psychische Verfassung oder individuellen Wünsche der Gebärenden kaum Zeit ist.
Ist das Kind geboren, folgen alle paar Wochen Untersuchungen bei Kinderärzt*innen. Die Mutter aber hat sechs Wochen nach der Geburt genau einen Termin beim Frauenarzt bzw. bei der Frauenärztin. Wenn sie nicht das Glück hat, eine Nachsorgehebamme zu haben, ist sie in ihrer neuen Rolle somit komplett auf sich allein gestellt. Ein weiteres Beispiel ist die uneinheitliche Erfassung der Müttersterblichkeit in Deutschland (mit Ausnahme von Bayern), die die von der WHO empfohlenen Kriterien nicht berücksichtigt.
„Hauptsache, das Kind ist gesund!“, spiegelt sich somit in der Medizin wie auch im Alltag wieder und vernachlässigt die psychischen und physischen Auswirkungen der Geburt auf die Gesundheit der Mutter. Dabei ist bekannt, dass die Pubertät wie auch “Muttertät” Phasen mit besonders hoher Auffälligkeit für psychische Erkrankungen sind. Wenig Unterstützung, Überforderung und Einsamkeit können das Auftreten von postpartalen Depressionen begünstigen.
Hier kommt ihr auch zu unserem Beitrag über postpartale Depression.
Gibt es ganz bestimmte Sorgen und Erfahrungen, die die Mütter, mit denen ihr arbeitet, teilen? Besonders solche, bei denen sie eventuell Sorge haben, dass sie damit alleine sind?
Ja, auf jeden Fall. Es wird dazu tendiert, Gefühle zu bewerten und einzuteilen in gute und schlechte. Dadurch entsteht ein schlechtes Gewissen für die „schlechten“ Gefühle und sie werden aus Scham verschwiegen. Das kann auch schon direkt am Anfang der Schwangerschaft passieren. Wenn sie zum Beispiel bei einem positiven Test nicht sofort die größte Freude verspüren – unabhängig davon, ob das Kind gewünscht und geplant war. Wenn sie plötzlich unsicher sind, ob das eine gute Entscheidung war oder Angst haben, es nicht wirklich gut zu machen. Dabei sagen diese Gefühle überhaupt nichts über die Qualifikation als Mutter aus. Sie sind ganz normal, in den meisten Fällen nicht von Dauer und werden von zahlreichen Menschen geteilt.
Bei Müttern mit Kindern, die schon ein paar Monate oder älter sind, sehen wir Wut als besonders belastendes Gefühl. Durch die Mutterschaft wird unsere Gefühlsskala erweitert, die Highs werden higher und die Lows werden lower. Viele Frauen sind überwältigt davon, dass sie plötzlich so große Wut empfinden können, die sie zuvor nicht kannten und sie schämen sich sehr dafür. Es gibt diese unrealistische Vorstellung, dass Erwachsene ihre Gefühle immer im Griff haben müssen und besonders die „negativen“ Emotionen immer kontrollieren sollten. Sie dürfen nie laut werden, nie die Fassung verlieren und so weiter. Dies erzeugt Druck, gefolgt von Enttäuschung, weil man es nicht immer schafft, und diese kann sich wiederum auch auf das Familienleben übertragen.
Wie hat diese Reflexion, die Bedürfnisse der Mutter mehr anzuerkennen und zu priorisieren euch persönlich beeinflusst?
Es hat unsere Perspektive auf Mütter und vor allem auf uns selbst verändert. Wir wissen nun, wie viel ein ehrlicher Austausch unter Müttern bewirken kann. Wie viel Druck wir von anderen nehmen können, wenn wir ihnen sagen, dass es uns ähnlich oder genauso geht. Außerdem versuchen wir, mehr auf uns zu achten, arbeiten an der „fiesen“ inneren Stimme und wissen, dass es nicht nur ok, sondern ein Muss ist, zuerst sich selbst die „Sauerstoffmaske aufzuziehen“, bevor wir anderen helfen können. In anderen Worten: Wir versuchen zuerst uns selbst eine gute Mutter zu sein, weil wir es dann auch für unsere Kinder sein können.
Wie hat das Konzept der Muttertät eure Arbeit als Doulas beeinflusst?
Wir achten darauf, Frauen bereits früh darüber zu informieren, dass sie sich nicht gegen Veränderungen wehren müssen, sondern es als eine Art Weiterentwicklung, als ein Upgrade ansehen können. Dass es unrealistisch ist, zu erwarten, dass wir nach einer Geburt so denken und fühlen, als wäre nichts gewesen. Geburt ist das Tor zur Mutterschaft, es ist viel mehr als nur ein körperlicher Vorgang. Die ganze Seele ist beteiligt und das versuchen wir entsprechend zu begleiten und wertzuschätzen.
Was gefällt euch an eurer Arbeit am meisten?
Direkt erleben zu dürfen, welchen positiven Einfluss unsere Arbeit auf eine Frau und ihre Familie haben kann. Das ist der schönste Lohn, wenn andere deine Anwesenheit und Taten als lebensbereichernd empfinden. Die Geburtsbegleitung hat dann nochmal seinen ganz eigenen Zauber. Es ist eine Zeit, in der wir vollkommen präsent sind. Es gibt in dem Moment keine anderen Gedanken, nur die Frau und was sie brauchen könnte. Noch mehr in der Gegenwart zu sein, geht wohl nicht.
Und zu guter Letzt: Wie möchtet ihr Mütter unterstützen? Und was möchtet ihr ihnen mit auf den Weg geben?
“Muttertät” soll nicht wie die Lösung eines Problems verstanden werden. Vielmehr entspricht es einem Rahmenkonzept, damit der lebensverändernde Übergang zum Muttersein leichter beschrieben und begriffen werden kann. Es ist eine empathische Haltung sich selbst und anderen Müttern gegenüber, die wir Frauen gerne „schenken“ möchten.
Dasselbe Geschenk wurde einst Jugendlichen gemacht, die, bevor man sie so nannte, für verrückt gewordene Kinder gehalten wurden.
Wenn ihr Natalia und Sarah und ihre Arbeit näher kennen lernen möchtet – hier kommt ihr auf ihre Webseite und hier zu ihrem Instagramprofil.