Teil 2

Was das Abwerten der Arbeit von Influencer*innen mit internalisierter Misogynie zu tun hat.

Was sind Influencer*innen eigentlich? Der Duden bezeichnet so eine Person, “die in sozialen Netzwerken besonders bekannt, einflussreich ist und bestimmte Werbebotschaften, Auffassungen oder Ähnliches vermittelt.” Der Begriff “Influencer” ist inzwischen ziemlich vorbelastet – diese Menschen seien wichtigtuerisch, oberflächlich, verzogen und egozentrisch. Sie werden nicht ernst genommen und gelten nur als wandelnde Werbefläche. Der Beruf “Influencer*in” steht deshalb oft in der Kritik. Das hat auch etwas mit der Wahrnehmung der erfolgreichen Frauen zu tun, die diesen Beruf mehrheitlich ausüben.

Die Geschlechterverteilung der professionellen Influencer*innen lag 2019 bei 84% Frauen und 16% Männern. Wenn wir an Influencer denken, haben die meisten auch ohne Hilfe des Gendersternchens Frauen im Kopf. Es ist einfach eine weiblich dominierte Branche. Außerdem wird bei Männern die Bezeichnung des “Influencers” häufig vermieden – sie gelten eher als “Content Creator” und “Producer”. 

Wie die Influencerin und Aktivistin Ida Marie Sassenberg (@wellshesassy) sagt: “Der Berufszweig Influencer*in wird kritischer beäugt als jeder andere, weil es sich dabei um einen Karriereweg handelt, der von Frauen eigenständig geschaffen wurde und in dem hauptsächlich Frauen erfolgreich sind.” Aber wieso ist das so?

Social Media – It’s a Woman’s World

Um erfolgreich zu sein, mussten sich Frauen die längste Zeit in männlich dominierten Branchen beweisen. Die sozialen Medien als moderner Arbeitsmarkt erlauben Frauen eine berufliche und unternehmerische Entfaltungsfreiheit, die es zuvor nicht gab. So haben sie endlich einen Weg gefunden, Erfolg zu haben, ohne traditionellen gesellschaftlichen Regeln zu folgen. Einen Weg, auf dem zwischenmenschliche Verbindungen und Kreativität mehr wertgeschätzt werden als Durchsetzungsfähigkeit und Dominanz. Einen Weg, auf dem ihre authentische Persönlichkeit, ihre Emotionen und Erfahrungen nicht zurückgehalten werden müssen, sondern zelebriert werden. Ein Weg, auf dem sie ihren eigenen Wert bestimmen können.

Frauen regieren die sozialen Medien. Gleichermaßen als Produzentinnen als auch Konsumentinnen. Und erstere werden nun für ihren Erfolg kritisiert.

Wichtig: Kritisch hinterfragen

Natürlich sollte Influencer*innen nicht blind gefolgt werden. Aber das sollte niemandem. Es gibt Frauen, die problematische und möglicherweise gefährliche Körperbilder und Lebensweisen sowie unnütze und überteuerte Produkte bewerben. Das ist nicht okay. Reiche Frauen, die sich die nachhaltigsten, am fairsten produzierten Kleidungsstücke kaufen könnten, stattdessen aber Fast Fashion Shein-Hauls machen. No. Gertenschlanke Frauen, die unerreichbare Schönheitsideale vorleben und behaupten, dass andere mit diesem Detox-Tee oder diesem Diet-Shake genauso aussehen können wie sie. Aber tatsächlich nutzen sie die von ihnen umworbenen Produkte gar nicht selbst, “optimieren“ ihr Aussehen mit viel Zeit (die die meisten von uns nicht haben) und Geld (das die meisten von uns nicht haben) mit Personal Trainer*innen und eventuellen Schönheitsoperationen. No. 

Natürlich gibt es auch unter Influencerinnen schwarze Schafe – die gibt es in jeder Branche. Wir können aber nicht eine komplette Branche über einen Kamm scheren. Wie wäre es, wenn wir unsere Frustration mehr auf die Firmen lenken, die diese Produkte überhaupt auf den Markt bringen? Personen, die diese bewerben, tragen eine Mitschuld, ja, aber sie sind nicht die Wurzel des Problems, auch wenn manche das gerne so darstellen.

Das Henne-Ei-Problem

Influencerinnen gelten als oberflächlich und egozentrisch. Sie werden nicht ernst genommen, weil sie sich mit belanglosen “weiblichen” Themen beschäftigen. (Das gleiche gilt übrigens für Männer, die diese Themen behandeln.) Gleichzeitig wird Frauen suggeriert, dass sie gut aussehen und sich schön präsentieren sollen. Aber wenn sie ihre antrainierte Expertise und erlernten Fähigkeiten aus Bereichen wie Beauty und Mode dazu nutzen, um selbst daraus Profit zu schlagen – nee, das geht gar nicht. Das sind ja oberflächliche Influencerinnen. Männer hingegen dürfen ihre Heimwerker-Skills und gelerntes Finanzwissen teilen – das sind ja clevere Unternehmer.

Einen Raum schaffen

Es heißt, jeder kann im Internet erfolgreich werden. Für manche klingt es deswegen zu einfach, zu inflationär, für andere ist es eine zuvor nie dagewesene Chance. Die Influencerin Madeleine Alizadeh (@dariadaria) ließ ihren Frust auf das ständige Hinterfragen ihres Erfolgs raus: Das Internet und Social Media haben ihr, und vielen weiteren zuvor nicht in Medien und der Politik sichtbaren Menschen, ermöglicht, einen Raum einzunehmen. Das betrifft Frauen, insbesondere Women of Color oder mehrgewichtige Frauen sowie Menschen mit Behinderungen, sowie auch Mitglieder der LGBTQ-Community.

Bereits in der Kindheit wird Frauen gesagt, wie sie sich zu verhalten haben, wie sie aussehen sollen, was sie tun und lassen sollen. Uns wird Scham für bestimmte Körperteile eingetrichtert und erzählt, dass wir zu fragil seien für bestimmte Sportarten und zu emotional für Führungspositionen. Mit den sozialen Medien wurde ein neues Wertesystem geschaffen, in dem Frauen nicht mehr gezwungen sind, sich in den Grenzen gesellschaftlich zugelassener Weiblichkeitskonzepte zu bewegen. Und was ist ermächtigender, als den Lebensunterhalt damit zu verdienen, einfach man selbst zu sein? 

Trotzdem sollte auch der Einfluss von sozialen Medien auf limitierende und potentiell gefährliche Schönheitsideale bedacht werden. Es ist ein zweischneidiges Schwert. So einfach ist das alles nicht.

Das gefährliche Halbwissen

“Influencer machen ja nur ein paar Fotos und halten Produkte in die Kamera.” “Fußballer treten ja nur gegen einen Ball.” “Informatiker klicken ja nur auf ein paar Tasten herum.” “Mechaniker schrauben ja nur ein bisschen hin und her.” “Anwälte geben ja nur ein paar Tipps.” Ida Marie Sassenberg bringt die Heuchelei gut auf den Punkt.

Die Psychologen David Dunning und Justin Kruger bereicherten 1999 die Welt mit einer faszinierenden Entdeckung: Menschen mit Halbwissen überschätzen ihre Fähigkeiten und ihr Wissen und sehen sich als kompetenter an, als sie tatsächlich sind. (Dunning Kruger Effekt) Sie haben gerade genug Wissen über das jeweilige Thema, dass sie wissen, worum es in etwa geht, aber nicht genug, um die Komplexität zu erkennen. Menschen “vom Fach“ hingegen stehen sich selbst eher kritisch gegenüber und unterschätzen sich eher. Denn sie sehen, wie komplex die Umstände wirklich sind. Zusätzlich unterschätzen weniger kompetente Menschen auch die Fähigkeiten der kompetenteren. Eine solche Wahrnehmung führt zum Hinterfragen der Fähigkeiten und der Arbeit anderer, obwohl man selbst nur die Oberfläche kennt. 

Meckern kann jeder

Ein Werk des Künstlers Craig Damrauer fasst die Debatte um moderne Kunst zusammen: “Modern Art = I could’ve done that + Yeah, but you didn’t”. Diese Einstellung passt auch zur Wahrnehmung von Influencer*innen. 

Wenn jemand meint, die Arbeit sei so einfach – dann macht es doch erst einmal selbst besser. Oft wird auch die jahrelange – meist kostenlose – Arbeit übersehen, die damit einhergeht, Fähigkeiten zu erlernen und ein Repertoire sowie eine Community aufzubauen und diese zu erhalten. Das ist nicht unähnlich wie bei Fotograf*innen, die zu Beginn ihrer Karriere kaum bezahlt werden und als langjährige Profis dann für scheinbar zu hohe Preise kritisiert werden. Übersehen werden der jahrelange Aufbau an Skills, Ressourcen und einer Klientel. Es ist leicht, Arbeit zu unterschätzen, die man selbst nicht ausübt. 

Und was macht einen “echten“ Beruf aus? 40 Stunden im Büro? Dass man sich die Hände schmutzig macht? Eine bestimmte Ausbildung? Filmemacher*innen und Aktivist*innen haben auch keine traditionellen Arbeitszeiten oder Aufgaben und dennoch bereichern sie unsere Welt mit Kultur und setzen sich für wichtige, gesellschaftliche Themen ein. Nur weil jemandem ein Beruf missfällt, heißt es nicht, dass es keinen Markt dafür gibt. 

Who gave you the permission?

Die Influencerin Jessica Megan (@jess_megan_) sieht Frauenfeindlichkeit als eigentlichen Grund für die Abneigung gegen Influencer*innen: “[H]ating influencers often comes down to internalized misogyny, bred from the idea that confident women should only be confident if given permission first. And these young, self-made influencers were not given the authorization to be famous by the traditional structures.”

Es wird gesagt, Influencer*innen wollen nur Aufmerksamkeit und machen nur Werbung. Aber ist Aufmerksamkeit nicht gut für jede Marke? Und besteht unsere halbe mediale Welt nicht aus Werbung? Im Fernsehen, auf Reklametafeln und in Magazinen. Nur wenn Influencer*innen für ihre Zeit und Arbeit bezahlt werden möchten, dann sind wir empört. Und irgendwie möchte jeder Content konsumieren, aber die wenigsten wollen für ihn bezahlen. Wie soll das möglich sein?

Immer dieser Gender Pay Gap

Ein Analyse-Unternehmen berichtet, dass auch unter Influencer*innen Männer mehr verdienen als Frauen – 7 Prozent mehr. Und das in einer von Frauen aufgebauten und größtenteils von Frauen besetzten Branche.
Übrigens gehört der meist gefolgte Instagram-Account immer noch dem Fußballer Christiano Ronaldo mit über 300 Millionen Follower*innen. Er verdient schlappe 1,6 Millionen US-Dollar pro Post. Wo ist da der gesellschaftliche Mehrwert? Ich könnte jetzt die erhöhte Quote von häuslicher Gewalt nach Fußballspielen erwähnen, aber ich denke, das muss ich nicht.

Manche sagen, dass dieser Gender Pay Gap an der weiblichen Übersättigung des Marktes liegt. Aber dann erkläre mir doch jemand, warum das nicht auch in den meisten anderen Berufen passiert, in denen es eine Art männliche Übersättigung gibt – ihr Wert sinkt dort nicht. Es scheint fast so, als ob bei Frauen, egal in welchem Kontext, einfach nochmal genauer hingeschaut wird, ob sie ihr Geld auch wirklich verdienen.

Don’t hate the player, hate the game

Viele kritisieren, dass Influencer*innen für ihre Arbeit zu gut bezahlt werden – dabei wissen die wenigsten, was sie wirklich verdienen. Aber was sie wissen ist, dass es zu viel ist! (In diesem Artikel haben wir übrigens Social Media Expertinnen dazu befragt.) 

Influencer*innen sind ein gefundenes Fressen für Kritik. Durch ihren hohen Grad an Sichtbarkeit und die noch immer relative Neuheit in der Berufswelt, eignen sie sich gut als Sündenböcke. Wofür? Naja, irgendwie alles. Aber da sollten wir mal lieber auf unsere kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur schauen.

Wenn wir vom gesellschaftlichen Mehrwert sprechen: Viele systemrelevante Berufe geben zu wenig Geld. Ist es fair, dass Influencer*innen im Vergleich zu diesen Menschen viel mehr Geld verdienen? Nein. Aber ist es fair, dass Fußballer (und ich gendere hier bewusst nicht) mehr verdienen als die Bundeskanzlerin? Nein. Und richtige Vielverdiener – an die trauen wir uns sowieso nicht ran, oder? 

Es muss Systemkritik her und eine Umverteilung von Ressourcen, damit eine Pflegerin nicht nur einen Bruchteil von dem verdient, was ein Softwareentwickler bekommt. Aber wie Madeleine Alizadeh sagt: Das darf nicht auf dem Rücken der Frauen passieren, die sich eine Branche aufgebaut haben, in einer Welt, in der auf dem traditionellen Arbeitsmarkt kaum Platz für sie vorgesehen war.

Die Wurzel des Problems sind nicht Influencer*innen. So einfach ist die Welt nicht.