geschrieben von J.
Wer bin ich?
Durch einen vorgeburtlichen Schlaganfall habe ich eine rechtsseitige Hemiparese. Eine Hemiparese ist eine Körperbehinderung, durch die ich in meinen körperlichen Fähigkeiten, besonders beim Laufen, eingeschränkt und durch einen schlafferen Muskeltonus schwach bin.
Doch wie ist das eigentlich, mit einer Behinderung zu leben?
Um mir das Gehen zu erleichtern, nutze ich eine Orthese, die mittlerweile zu mir dazu gehört, wie das Muttermal in meinem Gesicht. Sie ist irgendwie ein Merkmal von mir. Sie definiert mich aber nicht, denn ich bin eine junge Frau, die Sport und Fotografieren mag und mit Kindern arbeitet. So möchte ich gesehen werden und nicht als „Die mit der Behinderung“.
Wenn ich irgendwo neu hinkomme, stelle ich mir die Frage: „Soll ich es ihnen gleich erzählen oder lieber warten? Wissen sie es vielleicht schon?“ Denn es ist keine Seltenheit, negative Kommentare zu erleben, mit bestimmten Blicken konfrontiert zu sein. Ich weiß genau, wenn ich mich umdrehe, wird gestarrt. Oder es folgt große Vorsicht, da viele Menschen nicht wissen, wie man mit mir umgehen soll. Dabei bin ich ein Mensch, wie du! Stelle lieber Fragen, als zuvor schon ein Urteil zu bilden.
Wie das Muttermal im Gesicht
Eigentlich möchten wir alle doch als Mensch kennengelernt werden. Wäre es nicht schön, wenn wir es schaffen, dass Behinderung nichts „Besonderes“ mehr ist, sondern ein Merkmal – wie das Muttermal in deinem Gesicht –, das auch nicht deinen Charakter definiert. Jeder Mensch hat seine eigenen Merkmale.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass ich erkannt habe: Diese Behinderung ist nicht meine Schwäche, sondern etwas, das einfach zu mir gehört. Nicht aus dem Grund, weil ich etwas besonders gut kann – eher im Gegenteil. Denn bei der Arbeit im Kindergarten geht es immer wieder um feinmotorische Tätigkeiten wie Basteln und das ist für mich eine meiner größten Schwächen. Heute weiß ich, dass es aus dieser Perspektive keine Schwäche sein muss, sondern einfach etwas, das dazugehört, alltäglich ist, mich und meinen Wert aber nicht definiert.
Es kommen aber immer wieder Sätze, die abwertend sind, wenn man nicht „perfekt“ ist. Dabei ist es egal, ob dies durch eine Krankheit, eine Behinderung nach einem Unfall oder eine Einschränkung, die seit der Geburt besteht, entstanden ist. „Du musst es akzeptieren“, wird oft gesagt. Natürlich ist es ein Prozess, ein solches Schicksal zu akzeptieren. Aber es ist auch die Gesellschaft, die Behinderung mehr Akzeptanz schenken muss.
„Offene“ Sicht
Als ich in der Reha war, habe ich einige junge Menschen kennengelernt, die erst in einem späteren Alter ein Handicap bekommen haben. Sie erzählten mir, wie schwierig es war, dies zu akzeptieren. Aber auch sie hatten es geschafft.
Ich habe meine Hemiparese seit meiner Geburt, ich bin damit aufgewachsen, ich kenne es nicht anders. So habe ich das Thema Behinderung erlebt und habe eine „offene“ Sicht auf Menschen mit Handicap. Weil ich es von klein auf erlebe, ist es nichts Unbekanntes, es ist Alltag.
Meine Freunde, meine Familie haben es miterlebt, sie kennen meine Schwächen sowie meine Orthesen. Sie begegnen Menschen mit Einschränkungen daher sehr offen. Aber das ist doch klar, oder? Oder sollte es zumindest sein.
Wenn ich etwas nicht kenne, schaue ich nach. Genau darauf will ich hinaus: Behinderungen sollten als etwas Alltägliches anerkannt werden. Das kann dann geschehen. Denn wenn wir etwas kennen und damit vertraut sind, gehen wir offener damit um.
Brille vs. Orthese
Wenn ich auf die Straße gehe – ich müsste es mal mitzählen – beobachte ich, dass bestimmt 50 Prozent der Passanten, die mir über den Weg laufen, eine Brille tragen, meine Eltern eingeschlossen. Viele haben sicherlich nur eine geringe Sehschwäche und können mit ihrer Brille ein möglichst uneingeschränktes Leben führen. Wenn man es aber aus meiner Sicht betrachtet, ist die Brille ein Hilfsmittel, genau wie eine Prothese und meine Orthese. Der Unterschied? Brillen sind in der Gesellschaft verbreitet, bekannt und akzeptiert.
Aber warum wird die Brille als normal anerkannt und eine Orthese angestarrt? Auf diese Frage habe ich folgende Antwort: Neue Dinge sind uns fremd – wir schauen, rätseln, was dahintersteckt, und zeigen einen verwunderten Blick. Da Brillen im Alltag aber häufiger vorkommen als Prothesen, verwende ich dies als Beispiel.
Da ich selbst Brillenträgerin bin, weiß ich, dass eine Brille auch lästig sein kann. Wenn ich zur Arbeit im Kindergarten gehe, tragen dort fünf Kinder eine Brille. Sie werden nicht deswegen gehänselt, das Wort Brillenschlange fällt heutzutage seltener als zu meiner Kindheitszeit. Die Kinder wachsen damit auf, es gehört bereits dazu. Wenn man von Anfang an eine neutrale Sicht darauf entwickelt, ist die Brille einfach ein kleines Merkmal wie das Muttermal auf deiner Nase. Nichts Besonderes mehr, was angestarrt werden muss. Warum? Weil die Kinder es kennen und als „normal“ ansehen.
Und genau das sollte auch das Ziel für andere Hilfsmittel sein: Sie „bekannt“ zu machen und „normal“ werden zu lassen. Wenn Kinder einem Rollstuhlfahrer begegnen, wird immer noch erstaunt geschaut oder zurückgeschreckt, denn viele Kinder kenen keine Rollstühle, sie sind seltener gesehen. Eine Brille hingegen trägt die Tante und der Onkel und ist daher alltäglicher. Noch ist Inklusion für alle Arten von Behinderung in Schulen oder Kindergärten nicht möglich – die Rahmenbedingungen sind noch nicht überall so, das Inklusion umgesetzt werden kann.
Wie kann es gelingen, dass Behinderungen in unseren Alltag integriert werden?
Inklusion sollte nicht mehr großgeschrieben werden, sondern als Nebensatz im Kleingedruckten erscheinen.
Einfach ganz klein beginnen – bei den ganz Kleinen.
Behinderungen und Hilfsmittel wie Rollstühle werden oft dann thematisiert, wenn ein Kind mit besonderen Bedürfnissen eine Einrichtung besucht. Dann werden Bücher rausgeholt, das Thema besprochen und nach kurzer Zeit ist es meistens abgeschlossen. Die Bücher werden wieder weggeräumt, das passende Spielmaterial verstaut.
Aber wäre es nicht sinnvoller, solche Materialien fest in den Alltag zu integrieren? Wenn es einfach selbstverständlich wäre, dass Paul im Rollstuhl neben Tim spielt, der in seiner Entwicklung altersentsprechend ist, ohne dass Mina fragen muss, was das für ein Fahrzeug ist, indem Paul sitzt.
Warum wird Behinderung und Vielfalt nicht das ganze Jahr über thematisiert? So könnten Kinder von Beginn an mit Vielfalt in Kontakt kommen. In Konzeptionen solcher Einrichtungen ist die Wertevermittlung wie Respekt und Toleranz fest mit inbegriffen und sollte dementsprechend auch umgesetzt werden. Nur so wird es zum Alltag. Warum nicht ganz klein, bei den Kleinsten anfangen, um von Beginn an Barrieren zu vermeiden.
Kinder, da spreche ich aus eigener Erfahrung, sind die einfachsten Menschen, wenn es um solche Themen geht. Sie sind ehrlich. Ihnen ist egal, was du für ein Gewicht hast, ob du mit einem Fleck auf der Hose arbeitest oder eine körperliche Einschränkung hast. Sie akzeptieren dich, wenn du sie liebevoll begleitest.
Kinder machen es einem einfach
Auch ich hatte schon solche Begegnungen und diese waren bisher nur positiv. An einem Tag im Kindergarten, ich war noch relativ neu und puzzelte mit einem 5-jährigen Mädchen, verkrampfte meine Hand und zeigte Spasmen. Das Kind fragte direkt ohne Hemmungen: „Was macht da deine Hand?“ Ich erklärte es ihr mit einfachen Worten und sie akzeptierte es sofort.
An einem anderen Tag – es war Waldtag – trug ich meine Orthese und auch hier bekam ich fragende und neugierige Blicke zugeworfen. Denn die Kinder kannten es nicht. Im nächsten Morgenkreis brachte ich meine Orthese mit und erklärte die Funktion simpel, knapp und kurz. Natürlich wollten die Kinder auch wissen, wieso ich das brauchte und sie nicht. Anhand von Bildern vermittelte ich auf einfache Weise „Was ist ein Schlaganfall?“, und damit hatten die Kinder genau die Infos, die sie brauchten. So hatten sie Gelegenheit, mit einer Körperbehinderung in Kontakt zu kommen.
Und genau das ist so wichtig: Es offen anzusprechen und kindgerecht zu vermitteln. Umso mehr man als Kind kennenlernt, desto leichter ist der Umgang damit auch später im Leben. Ich bin mir fast sicher, dass solche Kinder Menschen mit Behinderung offener begegnen als solche, die noch niemanden mit Behinderung kennengelernt haben.
Von dem Moment an, als ich meine Orthese erklärt hatte, wurde bei jedem Spaziergang darauf geachtet: „Hat Jana ihre Schiene an?“ Der Umgang der Kinder damit begeisterte mich so sehr, dass mir bewusst wurde, wie wichtig es ist, solche Themen zu thematisieren.
Zum Abschluss
Genau das möchte ich erreichen: Behinderungen sollen nicht versteckt werden, sie sollen gekannt werden. Mithilfe eines Bilderbuchs im Bücherregal, durch eine Kooperationen mit einem Sportverein, der Sport für Kinder mit und ohne Behinderung anbietet, durch einen Besuch im Pflegeheim, den Besuch eines Orthopädietechnikers im Morgenkreis, der Orthesen mitbringt oder mithilfe eines Themenabends für Eltern. Oder warum nicht mal eine Puppe mit einer Orthese über das ganze Jahr hinweg in der Puppenecke bereithalten?
Es sind doch, wie immer, die kleinen Dinge, die das Leben einfacher machen würden.