Ein Baby erblickt das Licht der Welt – und in Windeseile urteilt die Gesellschaft darüber, wie das Kind geboren wurde. Ein Kaiserschnitt gilt dabei als Geburt zweiter Klasse oder als gar keine richtige Geburt. Zu Unrecht.
“Ich habe meinen Sohn geboren”
Wieder stehe ich vor dem Spiegel. „Ich habe meinen Sohn geboren. Ich habe meinen Sohn geboren.“ Ich blicke in ungezupfte Augenbrauen und abstehende Babyhaare an den Schläfen. Der hormonelle Haarausfall hat seine Spuren hinterlassen. Genau wie der Kommentar meiner Nachbarin. „Naja, ein Kaiserschnitt ist ja keine richtige Geburt“, hat sie gesagt. Zugegeben – sie ist Alkoholikerin und steht mir nicht sonderlich nahe. Nahe geht mir aber ihre Bemerkung. Trifft mich mitten ins Herz. Nach unserem Klönschnack im Treppenhaus nicke ich höflich und stolpere direkt ins Badezimmer, um mein Mantra aufzusagen: „Ich habe meinen Sohn geboren.“
Meine liebe Hebamme hat mir diese Aufgabe gegeben. Ein paar Tage nach der Geburt sprach sie mich auf meine Formulierungen an. Warum ich immer sagte: „Als er auf die Welt kam“ und nicht: „Als ich ihn geboren habe“. Ich brach in Tränen aus. Es ging mir einfach nicht über die Lippen. Weil ich mich nicht so fühlte. Mein Kopf wusste, dass ich ihn geboren hatte. Aber mein Herz hat es nicht geglaubt. Jedes Mal, wenn meine Hebamme zu Besuch kam, sollte ich ihr den Satz ins Gesicht sagen. Bis er in meiner Seele angekommen sei. Seitdem stelle ich mich in Momenten des Zweifelns immer mal wieder vor den Spiegel.
Arielle, die kleine Meerjungfrau
Ich habe zwar kein Geburtstrauma, aber einen zerplatzten Traum. Der Traum einer natürlichen Geburt – mein größter Wunsch. Am liebsten ohne Schmerzmittel, in der Geburtswanne, mit möglichst wenig Interventionen. Erst schrie alles nach einem Happy End: Die Wehen kamen schnell und heftig, der Muttermund war innerhalb von sechs Stunden vollständig geöffnet. Ich war bei mir, veratmete, schrie, tönte, schaffte es. Keine Schmerzmittel. Trotz Corona-Lockdown war mein Freund bei mir, saß mit Maske neben der Geburtswanne, streichelte mir den Rücken. Der Kreißsaal war dunkelblau bemalt, dazu eine Walflosse. Mein Lieblingstier. Ich war so unendlich glücklich, wie ich da lag, mitten in meiner Traumgeburt.
Dann platzte die Fruchtblase und es ging bergab: immer schlechtere Herztöne, Umlagerung aus der Wanne in ein Bett, Blutabnahmen am Kindskopf, sinkender Puls, Presswehen, ungenügende Werte. Immer mehr Ärzte mit immer höheren Titeln, tuschelnd, in hellblauen Hemden im dunkelblauen Kreißsaal. Alles ging so schnell. Ich erinnere mich, wie mir ein Blattpapier vor die Nase gehalten wurde. „Wir empfehlen dringend, das Kind jetzt zu holen“, und der Zeigefinger auf die Einverständniserklärung. Ich fühlte mich wie bei Disneys Arielle. Als die Meerjungfrau den Vertrag der Hexe Ursula unterschreibt, ihre Stimme damit abgibt und man sich als Zuschauer denkt: „Neiiin! Tu es niiicht!“ Ich tat es für die Gesundheit meines Kindes und aus Angst, die falsche Entscheidung zu treffen.
Ein Auto, in das ich niemals einsteigen wollte
Eben lag ich noch mit einer Kerze und Ruhe in der Wanne im blauen Kreißsaal. Plötzlich fand ich mich bei einer Bauch-OP im kalten Operationssaal mit den weißen Kacheln wieder, an Kabel gebunden wie Jesus am Kreuz, spürte meine Beine nicht mehr, dafür aber Enttäuschung und Angst. Ist das jetzt eine Geburt?
Damals dachte ich: Nein. Mein Baby kämpft sich schließlich nicht wie von der Natur vorgesehen durch den Geburtskanal und erblickt zwischen meinen Beinen das Licht der Welt. Es wird künstlich aus dem Bauch herausgeschnitten. Ich fühlte mich wie bei einem Marathon, für den ich monatelang trainiert hatte, auf den ich mich gefreut hatte. Ich habe so sehr gekämpft und wurde kurz vor dem Finale in ein Auto gezerrt, dass mich über die Ziellinie gefahren hat. Ein Auto, in das ich niemals einsteigen wollte.
Die Kommentare aus dem Umfeld machen es nicht besser.
Ein Kaiserschnitt? „Oh, aber du wolltest doch unbedingt eine normale Geburt?“
Oder: „Geil! Dann ist deine Muschi ja noch heil!“ Save the love channel und so.
„Cool. Kein Dammschnitt. Du Glückliche.“
Und sehr viel: „Daran verdienen Krankenhäuser ja auch besser.“
Eine Freundin, die Medizin studiert hat, fragte sogar: „Notkaiserschnitt? Wurdest du denn intubiert?“ Auf mein Kopfschütteln nickte sie nur nachdenklich. Anscheinend war mein Kaiserschnitt nicht dringlich, nicht dramatisch genug.
Statt Mitgefühl bekam ich außerdem oft den Eindruck vermittelt, dass ich ja nun keine richtige Geburt erlebt habe. Dass ich den „easy way out“ wählte. Dazu füllte sich mein Herz mit Schuldgefühlen und Selbstzweifeln. Habe ich nicht tief genug geatmet? Wäre im Geburtshaus alles anders verlaufen? Weint mein Baby, weil es nun traumatisiert ist? Habe ich die falsche Klinik gewählt?
Die Geburt zweiter Klasse
Beim Kaiserschnitt schwingt immer die Vermutung mit, dass nicht das Schicksal zum Schnitt geführt hat, sondern Profitgier, überfüllte Kreißsäale, Hebammenmangel. Ich kann nur so viel sagen: Ich habe Hamburgs Klinik mit einer der niedrigsten Kaiserschnittraten gewählt, hatte ein liebes Team um mich, habe den Kreißsaal nur wenige Stunden „besetzt“ und hatte durchgängig zwei Hebammen an meiner Seite.
Und doch, obwohl ich rational weiß, dass es Schwachsinn ist, denke ich immer wieder daran, ob man mit mir Geld machen wollte. Ich hasse es, darüber nachzudenken. Aber die Grübelei schleicht sich immer wieder ein. Ich zwinge mich dann zu denken: „Hey, Alina. Sei dankbar. Vor 150 Jahren wäre dein Baby vielleicht gestorben. Und du möglicherweise mit ihm. Verteufle nicht den Kaiserschnitt. Es ist ein Fortschritt, der Leben rettet.“ Gleichzeitig gilt er als Geburt zweiter Klasse.
In der Bio einer Influencerin sah ich auf Instagram damals den Satz: „Vom Kaiserschnitt zur Alleingeburt“. Ich glaube, der Satz ist nicht so gemeint, wie er bei mir ankommt. Ich – immer noch mit einem imaginären Pflaster über meinen Geburtserinnerungen – lese daraus: „Kaiserschnitt ist das Unheil, Alleingeburt der Shit.“ „Von der 6 zur 1+“. „Vom Praktikanten zum Geschäftsführer“. Stunden später schickt mir dann auch noch eine Freundin eine Sprachnachricht mit den detaillierten Infos, wie ihr Sohn auf die Welt gekommen ist. Unsere Geburten ähneln sich. Als würden wir denselben Weg nehmen, doch an der Kreuzung biege ich links in den OP-Saal ab, und sie darf nach rechts zur natürlichen Geburt. Sie bekommt ihr Happy End. Zitternd und schluchzend liege ich auf dem Sofa. Ich bin neidisch, weil sie „eine Geburt“ hatte. Und ich nicht. Mein Freund starrt mich hilflos an.
Ein kleines Stück Frieden
Ein kleines Stück Frieden mit dem Kaiserschnitt schenkt mir meine Hebamme zweieinhalb Wochen nach der Geburt. Wir baden den Kleinen, ich soll mich danach nackt ins Bett legen. Sie legt mir mein Baby nass auf den Bauch, ein Schmerz fährt durch die Narbe, und der Säugling kämpft sich instinktiv nach oben, robbt zu meinen Brüsten und dockt – ganz ohne Hilfe – an. Ein waschechter „Breast Crawl“. Für ein paar Sekunden stelle ich mir vor, dass das alles hier nicht in meinem Wochenbett passiert. Sondern im dunkelblauen Kreißsaal in der Geburtswanne. So liegen wir im Bett. Ich, das Baby stillend, meine Hebamme an der rechten Hand, mein Freund an der linken Hand. Komplette Stille im Schlafzimmer. Und der seelische Reißverschluss, der bei der Operation geöffnet wurde, schließt sich ein Stück.
Was ist eine Geburt?
Bleibt noch die Frage, ob ein Kaiserschnitt eine Geburt ist. Die einzig wahre Antwort lautet: Ja! Aber sowas von. Höllische Schmerzen inklusive.
Eine Geburt wird nicht definiert über den Austritt aus der Vagina. Wir haben unsere Kinder auf die Welt gebracht: Wir haben in der Schwangerschaft unsere Frühstückseier gecheckt, ob sie gut durchgekocht sind. Haben den Bauch gestreichelt, die Kugel über Stock und Stein geschleppt, haben Sodbrennen bekämpft und stundenlang das Ultraschallbild angeglotzt. Haben schlaflose Nächte durchlitten, während unser Körper Organe baute. Unsere Reise ist viel länger als ein kurzer Schnitt. Eine Geburt ist, wenn das Kind den Mutterleib verlässt. Eine Geburt ist das Ende der Schwangerschaft. Eine Geburt ist Leid und Liebe. Eine Geburt ist der Beginn einer schrecklich schönen Reise.
Vielleicht waren es fremde Finger, die unsere Babys aus dem Bauch zogen, während unsere eigenen Hände an Schläuchen hingen. Unser Herz aber war dem Baby zu jeder Zeit näher als der Ärztehandschuh.
Sieben Monate nach der Geburt meines Kindes stehe ich nur noch selten vor dem Spiegel. „Ich habe meinen Sohn geboren!“. „Ich habe meinen Sohn geboren!“
Ich glaube fest daran. Meistens.