armanien reisen

Briefe eines Vaters – Jonas Bräuer

„Liebe Lilith,

an einem Freitag im April, deinem ersten, seitdem du auf dieser Welt bist, begann für dich und uns eine ganz besondere Reise. Eine, auf der wir dir deine und unsere Welt zeigen möchten. Aber auch eine, auf der wir uns zu dritt kennenlernen wollen.“

Im Frühjahr 2019 brachen Lisa (33), Lilith (7 Monate) und ich (Jonas, 33) auf, um im selbstgebauten russischen Campermobil (GAZ Gazela, 40) die Welt zu erkunden. Oder zumindest die halbe. Für die beiden reiseerprobten Erwachsenen eigentlich eine entspannte Sache … Aber schon im Vorfeld mussten wir uns für unsere dreisame Abenteuerlust oft rechtfertigen. 

Unsere Pläne, auf dem Landweg in den Iran und weiter auf dem Pamir-Highway zu reisen, veranlasste eine Reihe von Gefühlen bei den Daheimgebliebenen: von Begeisterung und Bewunderung bis zu Vorwürfen und Ängsten. Und es war auch nicht unumstritten zwischen uns als Eltern. Aber am Ende überwog der Reiz zur Reise und die Abmachung, sich zwar Reiseziele zu setzen, aber in ein- bis zweiwöchigen Abständen immer wieder zu reflektieren, ob es uns allen gut damit geht. 

Ich machte mir damals vielleicht etwas weniger Sorgen als Lisa, dennoch beschäftigte mich der Umstand, wie wir herausfinden konnten, ob es Lilith auch wirklich gutgeht. Damals las ich in einem Arzt-BLOG, dass solange ein Kleinkind „friedlich vor sich hin brabbelt“, es ihm sehr wahrscheinlich auch gutgeht. So simpel und so effektiv.    

„Die ersten Kilometer beobachte ich dein Verhalten sehr genau, weil ich fürchte, die tiefen Frequenzen des Turbodiesels könnten dir nicht besonders behagen. Aber zu meiner Erleichterung lässt du dich dadurch eher zum Schlafen, als zum Schreien animieren. Welch Glück.“

Die ersten Tage vergehen schnell. Wir vier (3 x Mensch und 1 x Maschine) machen schnell Fortschritte im Kennenlernen und gewöhnen uns so langsam an einen neuen Alltag. 

„Das größte Lob bekommt Mama. Wie sie deine wachen Fahrzeiten so kurzweilig wie möglich gestaltet, ist unbezahlbar. Mittlerweile folgt es einem bestimmten, bewährten Muster. Da wir oft direkt nach dem Frühstück starten, „dunzelst“ du meistens nach kurzer Fahrt weg und schläfst ein bis zwei Stunden. Nach dem langsamen Erwachen wird erstmal im Kindersitz gespielt. Bei ersten ernsthaften Unmutsäußerungen deinerseits, darfst du meistens in den Arm von Mama wechseln. 

Die neue Sichtweise reicht ungefähr für eine halbe Stunde, bis so viele Eindrücke von außen auf dich eingegangen sind, dass dir langweilig wird. Also beginnt Mama, die Schatzkammer zu öffnen: das Handschuhfach. Alles was sich darin findet, besitzt Magie, so weisen es zumindest deine Augen aus. Eine weitere halbe Stunde, wenn es gut läuft, sind verfahren. Wenn die Magie dann nachlässt, stimmt Mama Kinderlieder an. Das Medley hat sich über die Reisezeit erheblich erweitert und beinhaltet mittlerweile eine beachtliche Anzahl an Kinderliedern. 

Sobald Mamas Stimme heiser wird, weiß ich als Fahrer, dass es nun Zeit wird, eine geeignete Haltestelle zu suchen, um mindestens zwei Stunden mit Essen, Laufen lernen und Spielen zu verbringen. An langen Fahrtagen dann am Nachmittag erneut derselbe Ablauf. Es scheint für dich diese Tage sehr erträglich zu machen. Bedeutet aber für Mama mindestens ebenso viel Einsatz und Geduld wie für den Fahrer.“

Osteuropa und den Balkan fertigen wir relativ schnell ab, da wir uns in Georgien mit Freunden treffen wollen. Die Fähre über das Schwarze Meer ist dann schonmal ein Highlight: 

„Ein typischer Tag auf See beginnt mit einem ‘Frühstück‘. Morgens um acht gibt es erstmal gegrillte Bockwurst mit Käse und weißem, undefinierbarem Brot. Aber wenn wir mit dir den Essenssaal betreten, geht immer ein Raunen durch die knapp 50 anwesenden LKW-Fahrer. Es scheint, als hätte dich ein jeder hier sofort ins Herz geschlossen. Alle Lächeln dir zu, ob mit oder ohne Zähne (meistens ohne), mit oder ohne Fahne (meistens mit), mit oder ohne Haare (meistens ohne), mit oder ohne Bierbauch (meistens mit).“ 

In Georgien vergessen wir schnell die Zeit. Zwei Wochen sind geplant, vier werden es. Der Kaukasus. Das leckere Essen. Der gute Wein. Es gibt viel Gründe, in Georgien zu verweilen. Aber irgendwann liegt der Reiz wieder im Neuen und als wir Armenien erreichen, sind wir ebenso schnell gefangen. Auch wegen unserer blonden, blauäugigen Tochter: 

„Im ersten Café merken wir dann schnell, du bist hier nicht allein. In Windeseile steht die ganze Belegschaft um uns herum, vielmehr um dich, und alle wollen ein Lächeln ergattern. Wir fühlen uns etwas bedrängt, aber freuen uns natürlich auch ein bisschen über die Anerkennung. Noch … […] Die Landschaft Armeniens wechselt von Tal zu Tal. Das ist tatsächlich faszinierender, als in vielen anderen Ländern dieser Erde. Zwischen Wüste, Alpenpanorama, Urwald und Kaukasusgebirge liegen nie mehr als 100 Kilometer. Wir biegen oft einfach von den Hauptstraßen ab und finden uns plötzlich in Dörfern wieder, die irgendwo zwischen Mittelalter, Sowjetzirkus und Coca-Cola ihren Platz haben.“

Auch Armenien hält uns länger in Atem, als wir vorher dachten – aber die Zeit drängt, denn das Visum für den Iran droht auszulaufen. Doch dann: 

„Aufregung macht sich breit. Irgendetwas scheinen deine Eltern zu suchen. Am frühen Morgen. In brütender Hitze. Unter einem abgewrackten Tankstellendach. Irgendwo in einem kargen Landstrich. Genauer, an der Grenze zwischen Armenien und dem Iran. Die Vorbereitung auf den Grenzübertritt zeigt nämlich: Es fehlen Versicherungsdokumente für mich. Eigens verschuldet. Sofort wird eine schnelle Skype-Konferenz nach Hause initiiert. Gott lob Armeniens 4G-Netzabdeckung. Oma Carmen wird auf den Dachboden geschickt und nebenbei eine PAINT-Fälschung vorbereitet. Mama und Papa sind angespannt. 

Mittlerweile erreicht das Thermometer 40 Grad im Schatten. Der Iran steht also vor der Tür. Oder wir vor seiner, besser gesagt. Nach anderthalb Stunden Korrespondenz mit der Heimat, unzähligen Fälschungsformaten und mittlerweile schweißgebadet greifen wir ihn dann an. Also rein diplomatisch. Wir ziehen zur Grenze und Armenien lässt uns in 10 Minuten gehen. Dann ein Grenzfluss und wir stehen mit beiden Beinen auf iranischem Boden, gefasst auf einen langen Grenzübertritt. Doch dann … Vom gut gelaunten iranischen Beamten bekommen wir innerhalb von zwei Minuten unseren Eintrittsstempel. Aufs Papier, nicht in den Pass, um Unannehmlichkeiten an anderen Grenzen zu vermeiden. Die Einreisezeit ist jedenfalls neuer Rekord für ein visapflichtiges Land. Vielleicht hilft es aber auch, dass genau in diesem Moment Deutschland gegen Iran im Volleyball spielt und alle Grenzer aufmerksam folgen. Und: Deutschland verliert drei zu null. Glück für uns.“

Was wir in den folgenden vier Wochen kennenlernen, lässt all unsere medial getriebenen Vorurteile dahinschmelzen. Vielseitige, atemberaubende Landschaften. Unglaublich nette und offene Menschen. Safran-geschwängertes Essen. Trotz regierungswidriger Umstände erleben wir ein stolzes, hochgebildetes und ganz zuvorkommendes Volk. Aber es wird auch erstmals etwas ernster, auf dem bisher sonst so leichtgängigen Gazellenritt:

„Auf der Rückfahrt liegst du auf Mamas Arm und hast keine Kraft mehr, nicht mal zum Schreien. Wie im Delirium. Der Anblick bereitet mir große Sorgen. Zurück in Tabriz gehen wir vom diesmal schönen Hotel direkt ins Krankenhaus. Wir kommen quasi sofort zur Ärztin, die leider gar kein Englisch spricht. Sie untersucht dich kurz und schreibt dann sehr, sehr viel Medizin auf. Auch Antibiotika. Wir entnehmen ihrer Körpersprache aber, dass wohl kein Grund zur Panik besteht. Wir

beruhigen uns langsam und am nächsten Morgen stabilisiert sich dein Zustand tatsächlich allmählich, auch ohne Antibiotika. Der erste Tag ohne Fieber wird mit viel Frohsinn gefeiert. Als du tags darauf am ganzen Körper Ausschlag bekommst, sehen wir uns in einer Anfangsvermutung bestätigt: 3-Tages-Fieber. Es erleichtert uns sehr.“

Es soll auf der ganzen Reise das einzige Mal bleiben, das wir kurzzeitig sorgenvoll sind. Die Hitze des Irans lässt uns leider tatsächlich nicht kalt. Bei Temperaturen um die 40 Grad Celsius hilft nur der Fahrtwind, um es grenzwertig erträglich zu halten im nicht-klimatisierten Gazellecockpit. Aber die Vielseitigkeit des Irans lässt auch andere Behelfsmöglichkeiten zu: Über 3000 Metern ist es nämlich zumindest nachts deutlich erträglicher. So entfliehen wir immer wieder in eines der zahlreichen Gebirge, um uns zu akklimatisieren – ein Hoch auf unser Allradmobil! Vor Beginn der Reise war es nur eine Vermutung, währenddessen merken wir fast jeden Tag, wie viel mehr an Freiheit es uns ermöglicht. Nach vier schönen, aber auch anstrengenden Wochen verlassen wir das einstige, persische Reich mit Ziel: Tadschikistan/Pamirgebirge. 

„PS: Was du in den letzten Wochen gelernt hast: 1) Farsi 2) Wasser trinken 3) Du solltest bestimmen dürfen, wer dich küssen darf.“

Von nun an wird die Reise russisch geprägter. Das erste „STAN-Land“, Turkmenistan, ist so paradox wie unwirklich. Man darf nur im gewaschenen Auto die Grenze überqueren. Die Hauptstadt besitzt ausschließlich weiße Häuser und es sind auch nur weiße Autos erlaubt. Man verwanzt an der Grenze unser Auto und gibt uns fünf Tage, um das Land zu durchqueren. Wir verbringen eine Nacht im teuersten Hotel des Landes. Und eine am Rande des Höllentores, einem 35 Meter breiten und 20 Meter tiefen Lochs, aus dem unnachgiebig Gas strömt, was in den Siebzigern angezündet wurde und seitdem brennt … 

Wir kämpfen uns über schlechte Straßen und durch endlose Sandwüsten. So langsam fordert die Reise auch von der Gazelle ihren Tribut. Immer wieder gibt es kleinere und größere Reparaturen, doch wir beginnen zu merken, das mit Draht, einer Cola-Büchse und etwas Fingerfertigkeit in der Regel ein Großteil der Reparaturen durchgeführt werden kann. Und sonst sind die lokalen Mechaniker stets Meister der Improvisation. 

Usbekistan ist so schnell erreicht wie durchfahren, denn wir können es kaum erwarten, in die tadschikischen Berge zu kommen. Pamir. Hochlandregion. Dazu der zweithöchste „Highway“ der Welt, immer entlang der afghanischen Grenze. Zu Hause sorgt man sich daher. Wir sind einfach nur sprachlos – über Tage. Kilometerhohe Felswände und Schluchten. Dazwischen grüne Oasen und wilde Flüsse. Und wir reisen nun langsamer als sonst. Der höchste Punkt beträgt 4600 Meter über N.N. (Normalnull) – die Gefahr, an der Höhe zu erkranken, ist nicht gerade klein. Wir muten uns max. 400 Höhenmeter am Tag zu und beobachten uns und Lilith jeden Tag sehr genau. 

Das eingangs erwähnte „Kindergebrabbel“ als Zeichen der Unversehrtheit trägt uns förmlich durch jeden Tag. Aber Lilith zeigt keinerlei Anzeichen von Beeinträchtigungen irgendeiner Art. Sie lacht sich durch den Tag und findet vor allem an den zahlreichen Murmeltieren großen Gefallen. Und wir werden nicht satt vom Panorama. Zwischendurch tauchen immer wieder einzelne Jurten auf, die den wanderden Nomaden Schutz gegen Kälte und Wind geben auf ihren Streifzügen durch diese vollkommen andere Welt. Zwei Wochen lässt uns der Highway nicht los. In Gedanken wahrscheinlich nie. Kirgistan und Kasachstan sind die letzten eindrucksvollen Länder dieser Reise – wir spüren erste Sentimentalität ob des Erlebten – fünf Monate nähern sich langsam dem Ende. 

Diese Elternzeitreise, diese halbe Weltreise, war das Beste, was wir zu dritt erleben konnten. Zeitweiligem Stress und Strapazen zum Trotz: Für uns als Familie war es eine intensive, aber unfassbar schöne Zeit. Die Verbindung andere Länder, andere Kulturen und nebenbei sich selbst besser kennenzulernen war für uns eine unglaublich tolle Erfahrung, die wir uneingeschränkt empfehlen können. 

Lilith wird leider kaum Erinnerungen daran haben. Die Briefe an sie, aus denen in diesem Text immer wieder zitiert wird, sollen ihr später einmal helfen, vielleicht auf ihren eigenen ersten Spuren zu wandeln. Ein Ziel hätte sie: An einem der schönsten und abgelegensten Plätze dieser Reise inmitten des Pamirgebirges mit Blick auf den schneebedeckten Hindukusch liegt unter einem Stein vergraben ein kleiner Brief …


Die Briefe, die Jonas seiner Tochter geschrieben hat, könnt ihr hier komplett lesen. Nehmt euch eine Tasse Tee und genießt die liebende Worte eines Vaters, der seine Reise für seine Familie festgehalten hat.