Folge 8 und die vorerst letzte Folge unseres digitalen Romans

Ja oder Nein. Ja oder Nein. Trennung oder Kämpfen, Trennung oder Kämpfen? Trennung. Nein, Kämpfen. Nee, Trennung. Ein schrilles Kreischen von Alea reißt mich aus meinen Gedanken. Sie greift verzweifelt Richtung Boden, doch der Gurt im Kinderwagen hindert sie. Bunte Stifte liegen kreuz und quer über dem Kachelmuster. Größtenteils Mütter und Rentner schlendern durch die engen Gänge der Drogerie. Wo sind eigentlich die verdammten Väter?  Ich wende mich von dem Fotoautomaten ab und analysiere, wie das Kind wieder so schnell etwas aus den Regalen ziehen konnte.

Ewiges Deja-Vu

Eine ältere Dame bückt sich und reicht meinem Baby, das kein Baby mehr ist, die Stifte. Wow, die Lady hat einen besseren Rücken als ich. Bestimmt auch einen besseren Beckenboden, wahrscheinlich schafft sie es ohne Periodenunterwäsche aufs Trampolin.

Bitte!“, sagt die Dame und reicht Alea die Wachmalstifte. Meine Kleine strahlt. Gedankenversunken starre ich sie wieder an. Womit habe ich dieses todesanstrengende aber süßeste Wesen des Planeten verdient?

Na, du musst noch Danke sagen“, ermahnt die Dame mein Kind.

Wundern Sie sich nicht. Es ist nicht meine Erziehung. Sie kann noch nicht sprechen“, sage ich.

Oh, achso“, sagt die Dame, „wie alt ist sie denn?“

Anderthalb. Naja, 1 ¾ Jahre, wenn man das so sagen kann“, antworte ich.

Kurzes Schweigen.

Oh. Na… das ist ja schon recht spät. Nunja, man sagt ja immer, entweder sie sprechen gut, oder sie sind motorisch stark“, sagt sie.

Ich seufze. Wie oft werde ich diese Konversation noch führen? Ich lebe im ewigen Deja-Vu, im Fehler in der Matrix.

Ja, bestimmt“, lächle ich aufgesetzt und wende mich wieder dem Fotoautomaten zu.

Erinnerungen aus Kolumbien

Es rattert. Die ersten Fotos aus Kolumbien plumpsen in das Plastikfach.

Das Waffenmuseum, in dem Lupita eine vollgeschissene Windel gewechselt hat.

Ich, in dem T-Shirt, dass ich auch auf dem grausamen Rückflug trug, auf dem ich viel zu wenig Snacks bei mir hatte.

Wir, im Selfiemodus, vor den Kokosnusspalmen, mit Sonnenbrand auf der Nase.

Die Altstadtstraße, in der ich Lupita vom Sex mit dem Taxifahrer erzählt habe und sie mir die Geschichte erst ein Dutzend Ampeln später geglaubt hat.

Das grüne Tal, durch das wir mit Trage, Schweiß und Tränen gewandert sind, in dem mir Lupita gesagt hat, dass sie immer gedacht hätte, dass wenn ein Paar es wirklich bis in den Schaukelstuhl gemeinsam schaffen würde, es Moritz und ich wären.

So glotze ich wieder auf das leuchtende Ausgabefach des Automaten.

Kämpfen oder Trennung? Kämpfen oder Trennung? Ich habe nur noch wenige Stunden Zeit.

Kopf oder Herz? Kämpfen oder Trennung?

Ich packe den dicken Stapel Fotos in meinen Einkaufskorb, gewiss, dass ich diese Fotos niemals einkleben werde, sondern sie in den To-Do-Schrank quetschen werde. Mein Handy vibriert. „Hör auf deinen Bauch“, dazu ein Bizeps-Emoji. Absender: Meine Arbeitskollegin Josephine. „Wieso hast du – die sich nie auf einen Mann festlegen will –  immer die besten Ratschläge? ;)“, schreibe ich. Ihre Antwort bringt mich zum Lachen: „Coaches don‘t play“.

146 statt 11 Minuten

Von der Kasse bis nach Hause sind es laut App 11 Minuten. Mit Kinderwagen sind es 12. Mit Alea laufend sind es 33. Ohne Pfützen. Mit 52. Und heute – mit einer Entscheidung im Nacken – sind es 146 Minuten. Ich schlendere, grübele, zeige Alea eine Amsel am Himmel, und grübele weiter.

Ob Moritz in den letzten drei Monaten auch mit einer Fremden geschlafen hat? Oder noch schlimmer: Einer Bekannten? Würde ich es – wenn ja – überhaupt wissen wollen? Würde er heute Abend beim Gespräch um mich kämpfen, oder sich erleichtert die Scheidung wünschen? Warum trifft es meinen Stolz, dass er sich vorerst trennen wollte, obwohl es zuerst mein Wunsch war? War es wirklich mein Wunsch, oder wollte ich ihn bloß warnen? Dass wir langsam in den Abgrund schlittern. Obwohl ich immer dachte, wir seien ein Team. Aus unserem Team wurde ein Wettkampf: Wer müder ist, wessen Arbeit dringlicher ist, wer das Kind ins Bett bringt. Dabei lautete die Antwort auf die letzte Frage am Ende immer gleich: Ich. 

Ein neuer Alltag

Das hat sich in den letzten Monaten geändert. Durch unsere räumliche Trennung hat Moritz die Kleine am Wochenende genommen. Ich habe an seinen Augenringen gesehen, dass in der Schlafroutine nicht alles glatt lief. Gleichzeitig rechnete ich es ihm an, dass er sich nicht beschwerte. Er hat mir sogar einen Trick gezeigt, wie Alea leichter den Löffel halten kann. Außerdem hat er ein Extrateil für den Kindersitz gekauft, sodass sich das kleine Rücksitzmonster nicht mehr aus dem Gurt pulen kann. Ja, er hatte sie auch mal mit Sonnenbrand zurückgebracht, oder mit der falschen Windelgröße. Aber unterm Strich sah ich, dass er endlich einen Alltag mit seiner Tochter lebte.

Niemals – nicht mal im hinterletzten Winkel meines Großhirns – hätte ich gedacht, dass uns das unsere Liebe kosten könnte. Mit dem Ultraschall in der Hand war ich damals überzeugt, dass wir eine Bilderbuchfamilie sein werden. Weit gefehlt.

Strudel der Vergangenheit

Aua“, zische ich. Unter meinem Fuß liegt Aleas Miniatur-Spieluhr. Während ich aufräume, trete ich nicht nur auf kleine spitze Teile, sondern auf Erinnerungen. Wie Kerzenwachs. Ich war einst totbetrübt, und dass in einer Zeit, in der meine Brüste noch unterm Kinn hüpften. Ich wollte unbedingt auf dem DIY-Markt selber Kerzen ziehen, doch dann gingen dem Standbesitzer Dochte aus. Zwei Tage später kam ich heim und Moritz hatte in unseren Küchentöpfen bereits Wachs geschmolzen, Dochte an Bleifstifte gehängt und scrollte sich durch YouTube-Anleitungen.

Ich sehe aber auch das gepunktete Lätzchen: Zahlreiche Frühstücke, bei denen ich tausendmal aufstehen musste, während er genüsslich sein Rührei aß. Meinen Rasierer, der dringend neue Klingen braucht, aber unser eintöniges Sexleben auch nicht retten würde. Und ein leeres Radler vom letzten Wochenende. Die traurige Wahrheit ist: Ich dachte immer, Alleinerziehende durchlebten die Hölle. Da das Kind aber am Wochenende betreut wurde, fernab meiner Wohnung, konnte ich seit Jahren mal wieder durchatmen. Freundinnen einladen, zu True-Crime-Podcasts meine Füße raspeln, meinen Balkon in Seelenruhe bepflanzen. Eine neu gewonnene Freiheit. Alleinerziehend am Limit – das war ich im Grunde viel mehr mit Moritz, als ohne ihn.

Es klingelt an der Tür. Mir wird schwummrig.

Wollte ich wirklich – jetzt, wo ich mich wieder spüre, inspiriert bin, Energie habe – zu den Marotten alter Zeiten zurück? Jetzt, wo ich frei von Insel zu Insel schwimme, habe ich Angst, in den Strudel der Vergangenheit gezogen zu werden. Trennung oder Kämpfen? Alleine auf die nächste Insel schwimmen, oder versuchen, sich gemeinsam aus dem Strudel herauszukämpfen?

Alea schreit.

Ja, ich weiß, es ist zum Heulen“, kommentiere ich. Da klingelt es an der Tür. Mir wird schummrig. Ich kann das jetzt nicht. Nein, nein. Er ist pünktlich. Aber nein.

Alea steht händchenhaltend an meiner Seite an der Haustür, während ich still auf meine nackten Füße gucke.

38317 in feinen Linien.

Eine Ewigkeit beobachte ich den geschwungenen Code. Unseren Code.

Langsame, gemütliche Schritte nähern sich.

Alea und ich luschern ins Treppenhaus.

Und gerade, als Moritz um das Geländer biegt, spricht mein Baby ihr erstes Wort:

Papa“.

Wir erstarren, schnappen nach Luft, starren voller Freude das Kind an. Starren uns an.

„Ja, Papa“, lächle ich. Und drücke fest die Hand meiner Tochter.