geschrieben von Agnieszka Schönemann // auf Instagram @multikultimom

„Schwerbehinderte Menschen werden bei gleicher Eignung bevorzugt.“ Dieser Satz gehört als Bildungsbegleiterin einer Reha-Maßnahme zu meinem Arbeitsalltag.

„Wow, das hört sich ja toll an“, denke ich als neue und hochmotivierte Mitarbeiterin. Ich lerne meine Teilnehmer*innen bei der Infoveranstaltung kennen, freue mich riesig auf die Zusammenarbeit mit ihnen und erkenne schnell die Potenziale, die in ihnen stecken. Wundervolle, liebenswürdige Menschen. Mit Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen. Wie Du und Ich eben. Oder doch nicht?

Wir sind noch nicht so weit, wie es scheint

Mir ist bewusst, dass Inklusion schwierig ist. Doch mir war nicht bewusst, wie weit wir von einer inklusiven Gesellschaft noch entfernt sind. Woher auch? Ich lese überall von tollen Aktionen. Sehe, dass Bewegung in das Thema kommt. Doch diese ist offenbar noch viel zu klein. Ich merke, dass die Betriebe sich scheuen. Unsere Teilnehmer*innen oft keine Antwort auf ihre Bewerbung oder nach der persönlichen Vorstellung erhalten. Doch damit kann ich mich nicht zufriedengeben und hake nach. Ich rufe die Geschäftsleitungen an, fahre hin, suche das Gespräch. Dabei höre ich die Ängste und Sorgen der Betriebe. Ich merke, wie wir (hierbei binde ich uns Mitarbeiter*innen ganz gezielt mit ein) vertröstet werden mit den Worten, es gäbe nicht genügend Kapazitäten, sich um so „spezielle“ Praktikant*innen oder Azubis zu kümmern. Speziell? Wie definieren wir das? Und auf welcher Grundlage tun wir das?

Ich sehe zwischen uns keine Unterschiede. Wir haben alle Neigungen, die wir besonders gut können. Ich sehe auch, dass wir alle nicht perfekt sind und Bereiche in unserer Persönlichkeit existieren, an denen wir noch arbeiten dürfen. Wir alle haben Ziele und Wünsche.

Falsche Glaubenssätze

Ängste entstehen meist dort, wo uns Wissen fehlt. Themen, Situationen und Bereiche, die wir nicht kennen, machen uns erst einmal Angst. Wenn ich eines während der Psychologie-Seminare meines Studiums und Fernstudiums gelernt habe, dann lösungsorientiertes Denken und Handeln. Kritisieren ist das eine, wenn auch sehr wichtige Stück, dass zunächst auf ein Problem aufmerksam macht. Doch die Lösungssuche ist der zweite und viel wichtigere Schritt. Und genau aus dem Grund möchte ich alle motivieren, mehr Aufklärungsarbeit zu leisten. Sich nicht mit einer Absage abspeisen zu lassen, sondern nachzufragen, aufzuklären. Sich selbst nicht kleiner machen, als man ist.

Meiner Meinung und Erfahrung nach liegt dieses Gefühl an den falschen Glaubenssätzen, die uns bereits seit der Kindheit eingebläut wurden: Wir seien nicht genug. Wir seien anders. Wir hätten durch Behinderungen einen Nachteil. Wie würdest du fühlen, wenn du eine Absage nach der Nächsten kassierst? Das Gefühl, verurteilt zu werden, dürften alle von uns kennen. Vielleicht weil wir besonders groß oder klein sind, einen Akzent sprechen, alleinerziehend oder allgemein Mutter sind… und dabei wähle ich bewusst das Gender, da wir als Frauen auch hier noch unter Missständen in der Arbeitswelt leiden. Wenn du nun ständig aus einem bestimmten Grund abgelehnt wirst, egal ob im beruflichen oder privaten Kontext, dann schwindet nicht nur die Motivation, sondern es entsteht Frustration.

Ich erlebe das in meinem Job Tag für Tag.

Aber ich entwickelte irgendwann eine Strategie, wie ich die Ängste und Vorurteile der Menschen umgehen kann. Noch bevor ich ihnen diese nehmen kann und ins Gespräch zum Thema Inklusion gehe, trete ich ohne Vorurteile in den Kontakt mit den Arbeitgeber*innen. Ich erwähne nicht, was die einzelnen Menschen nicht können, sondern wir sprechen darüber, was sie können. Was wird gesucht und gebraucht und inwiefern kann der oder die Einzelne genau das erfüllen.

Angst? Vor was?

In Deutschland herrscht ein Fachkräftemangel. Meiner Meinung nach liegt dieser nicht begründet in der Entwicklung der Jugendlichen oder ihrer Bequemlichkeit, sondern eindeutig am gesamten System. Beginnend in der Familie, die von Stress und Druck geleitet die eigenen Kinder oft in Schienen lenkt, gefolgt von Kita und den Bildungseinrichtungen, die aus uns Menschen ein quadratisch-praktisch-gutes Mittelmaß erschaffen wollen. Wer diesem System nicht standhält, wird aussortiert. Diese Linie zieht sich durch die komplette Gesellschaft. Dabei wäre es so einfach, die Lücken der Wirtschaft zu füllen. Mit Menschen, deren Stärken in diesem Bereich besonders ausgeprägt sind. Und dabei spielt es keine Rolle, ob sie (sichtbare) körperliche oder scheinbar unsichtbare psychische Krankheiten und Behinderungen haben. Ganz im Gegenteil. Menschen mit diagnostizierten Behinderungen können Förderungen beantragen, sodass Arbeitgeber*innen ein lukratives Angebot erhalten. Meiner Ansicht nach eine klare Win-Win-Situation, die viele Menschen sich entgehen lassen. Warum? Aus Angst? Vor was?

Ich stelle mir eher die Frage, aus welchem Recht wir Menschen ohne Behinderungen priorisieren. Haben wir da nicht auch gemischte Erfahrungen machen dürfen? Schüler*innen oder Lehrlinge, die fleißig und aufmerksam sind, aber auch diejenigen, die immer fehlen oder ungeeignet sind? Glauben wir, eine Garantie darin zu sehen, Menschen ohne Behinderungen passender einsetzen zu können? Und wenn ja, warum glauben wir das, wenn uns doch auch das Gegenteil schon bewiesen wurde?

Genau das ist der Punkt, an dem wir ansetzen sollten. Ängste und Vorurteile überwinden wir nur durch Wissen und Erprobung. Die Praxis beweist es doch bereits: Es funktioniert. Die Lösung liegt nicht nur in der Stärkung der Betroffenen, auch nicht in der Aufklärung der Gesellschaft allgemein, sondern in der Kombination aus beidem. Die Zusammenarbeit und der Respekt sowie ein liebevolles Miteinander stehen hier im Fokus. Ohne Wut oder Anprangern.