Triggerwarnung: Tod, Fehlgeburt, Schwangerschaftsverlust
Das Unaussprechliche aussprechen: “Ich habe mein Kind verloren.” Ein Leid, das wir niemandem wünschen und doch so viele Menschen erleben. Es ist ein Schmerz, über den kaum jemand spricht. Und doch teilen ihn viele. Beinahe jede dritte Frau erlebt eine Fehlgeburt.
Corinna Hansen-Krewer ist Doula, Fotografin und Autorin und selbst Sternenmama. Sie bereitet Menschen auf die Möglichkeit eines Schwangerschaftverlustes vor und betreut sie bei Kleinen Geburten. Mit ihrem Buch “Stille Geburten sind auch Geburten und Sterneneltern sind auch Eltern” möchte sie Sterneneltern den Rückhalt geben, den sie verdienen. Darin spricht sie schonungslos Missstände an und lässt auch Fachpersonal zu Wort kommen. Ich habe mit Corinna gesprochen – über Trauerbewältigung, medizinische Hürden, Unterstützungsmöglichkeiten und vieles mehr.
Hallo Corinna, magst du zu Beginn etwas zu deinem Buchtitel sagen?
Mir war es wichtig, die Wertigkeit hervorheben, die Sterneneltern und ihre Kinder verdienen. Stille Geburten werden heute noch bagatellisiert – dem wollte ich entgegenwirken. Der Verlust eines Kindes ist viel mehr als ein paar Tränen. Er ist der Verlust von Träumen und Wünschen. Sterneneltern dürfen sich nicht länger allein gelassen fühlen und ihre Kinder sollen einen wertvollen Platz in unserer Gesellschaft bekommen.
Oft passieren Kleine Geburten früh, wenn viele vor der Schwangerschaftsverkündung die “riskanten ersten Wochen” überstehen möchten. Sollten Schwangere sich früher öffnen? Auch, damit mehr über Fehlgeburten gesprochen wird? Gibt es so etwas wie einen richtigen Zeitpunkt?
Tatsächlich wird von einer viel höheren Anzahl an Fehlgeburten ausgegangen, als bekannt ist, da viele frühe Verluste nicht erfasst werden. Man sagt, die ersten 12 Wochen seien unsicher, anschließend könne man aufatmen. Das stimmt so nicht, denn es kann leider immer etwas passieren. Wir Menschen haben einen Drang nach Sicherheit, doch niemand kann uns, auch hier, diese Sicherheit geben. Wenn wir verstehen, dass wir manches nicht beeinflussen können, fällt es uns vielleicht leichter mit dem Unerwarteten umgehen. Niemand trägt die Schuld an einem Schwangerschaftsverlust, es ist selten beeinflussbar und ein natürlicher und leider auch normaler Vorgang.
Unsere Autorin Sarah hat in diesem Artikel auch über ihren offenen Umgang mit ihrer Schwangerschaft geschrieben.
Ist es wichtig, sich mit der Eventualität einer Fehlgeburt auseinanderzusetzen, um vorbereitet zu sein?
Das sollte jeder für sich selbst entscheiden. In meiner ersten Schwangerschaft haben wir uns damit nicht auseinandergesetzt. Es ist auch glücklicherweise alles gut gegangen. Bei der zweiten Schwangerschaft wurden wir eines Besseren belehrt und mussten im zehnten Schwangerschaftsmonat unseren Sohn Jonathan vor der Geburt zu den Sternen ziehen lassen. Wir sind aus allen Wolken gefallen und ja, ich glaube, es wäre wichtig gewesen, etwas über Möglichkeiten des Abschieds zu wissen. Aber das Ganze ist ein absolutes Tabu in unserer Gesellschaft und so gibt es kaum Vorbereitung für den Fall der Fälle.
In Aufklärungsbroschüren zur Schwangerschaft wird das Thema Fehlgeburt oft nur beiläufig erwähnt. Doch so häufig wie es vorkommt, sollte es auch offen angesprochen werden. Schwangere brauchen Aufklärung. Sie sollten beispielsweise wissen, dass ihnen, wenn es passieren sollte, eine Hebamme zur Unterstützung zusteht. Deshalb betreibe ich so viel Öffentlichkeitsarbeit. Ich rede darüber, wie eine Kleine Geburt abläuft und teile Fotos, um zu zeigen, was passieren kann.
Als ich vor meinen Kleinen Geburten stand, bekam ich diese Infos nicht. Ich musste es fast komplett allein durchstehen und es wäre hilfreich gewesen, wenn mich jemand an die Hand genommen hätte. Denn auch ein früher Schwangerschaftsverlust ist etwas Wichtiges von Bedeutung – eben eine Kleine Geburt, was sich meiner Meinung nach viel schöner anhört, als Fehlgeburt. Auch, wenn das eigene Kind nicht bleiben kann, so ist ja mein Körper dennoch kein Fehler.
Es gibt kein Rezept zur „richtigen“ Trauerbewältigung. Aber was würdest du Sterneneltern zur Verarbeitung ihres Traumas raten?
Trauer ist individuell und sollte jedem in Umfang und Intensität selbst überlassen werden. Manche brauchen nicht viel Zeit, andere hingegen Jahre. Alles darf sein. Hier ist es wichtig, dass Betroffene mit Respekt behandelt werden und sich die Zeit nehmen dürfen, die sie brauchen.
Aussagen wie „Jetzt ist auch gut, ihr habt ja noch ein gesundes Kind bekommen“ oder „Du warst doch noch so am Anfang“ sind nicht selten, tun aber oft weh. Ich wünsche allen Sterneneltern die Möglichkeit, ihre Trauer und alle Emotionen, die mit dem Verlust einhergehen, auszuleben. Trauer darf und sollte nicht unterdrückt werden. Sie braucht Zeit und Raum.
Was muss in der Medizin passieren, damit sich Sterneneltern gut aufgehoben fühlen?
Es fängt bei Frauenärzten an, denen das Wissen über eine emotionale Begleitung fehlt und die somit die Diagnose Schwangerschaftsverlust selbst überfordert. Sie setzen einfach um, was angeblich immer schon zielführend war: Den alternativlosen, operativen Eingriff – ohne Rücksicht auf emotionale sowie körperliche Verluste.
Auch die Hebammenbetreuung ist wichtig, findet aber oft gar nicht erst statt. Einige Hebammen berichten, dass sie nichts über Fehlgeburten gelernt oder keine Lust hätten, „so etwas“ zu betreuen. Laut dem Hebammenverband gibt es Hebammen, die eine nichtmedizinische Begleitung nie kennengelernt haben. Ich bin der Meinung, man sollte erwarten können, dass Hebammen auch Kleine Geburten begleiten. Es betrifft so viele Frauen, es ist nichts Außergewöhnliches. Der Bedarf ist da, aber die Wertigkeit nicht.
Ein weiterer Aspekt ist die Behandlung von Sterneneltern im Krankenhaus. Wie soll eine Mutter den Verlust ihres Kindes verarbeiten, wenn sie nicht im Kreissaal gebären darf, weil sie erst in der 19. Woche ist? Wenn sie zwischen Getränkeautomaten im Wartebereich vor dem Kreissaal geparkt wird und dort das Kind zur Welt bringt? Ohne medikamentöse Betäubung und ohne Hebammen.
Außerdem kann es für das Personal traumatisch sein, ohne Schulung jemanden in dieser Situation zu begleiten. Eine Hebammenschülerin erlebte, dass sie in ihrem ersten Praxiseinsatz im Kreissaal ohne Vorwarnung darauf hingewiesen wurde, dass etwas für sie im Waschbecken warten würde. Es war ein kleiner Embryo, der anschließend im Klinikmüll entsorgt wurde.
Nur wenn wir das alles ansprechen, lässt sich etwas ändern. Routinierte Abläufe sowie die eigene Arbeit, als auch das komplette medizinische Grundgerüst zu hinterfragen, ist wichtig, um sich neu erfinden zu können. Krankenhäuser haben eiserne Strukturen, Zeit- und Geldnot, aber das darf keine Ausrede für unempathisches und ungeschultes Personal sein. Aber: Es gibt Mediziner, die sich viel Mühe geben und Frauen bestärken, anstatt ihnen das Selbstvertrauen in den eigenen Körper zu nehmen. Das gibt mir Hoffnung.
Was würdest du zur Unterstützung empfehlen?
Wünschenswert wäre bereits im Krankenhaus ein Angebot zur psychologischen Betreuung, die auch wirklich Erfahrung im Umgang mit Sterneneltern hat. Leider reicht eine Klinikseelsorge nicht aus, wenn diese nicht wirklich erfahren ist. Inzwischen gibt es viele Sternenelternvereine, die wunderbare Arbeit leisten, die Betroffene betreuen und aufklären und ihnen Kontakt zu anderen ermöglichen. Zudem können Sternenkindfotografen ganz besondere Erinnerungsfotos kreieren.
Wie laufen Kleine Geburten und das Danach in Krankenhäusern ab? Können sie auch in einem „komfortableren“ Umfeld passieren?
Das sollte eine individuelle Entscheidung sein. Wie bei Lebendgeburten. Paaren sollte erst einmal nach der Diagnose der Druck genommen werden. Zeit ist hier genau das, was gebraucht wird. Zeit zum Verstehen, zum Annehmen und zum Loslassen. Und um den besonderen Geburtsplatz selbstbestimmt zu finden.
Aber in der Regel wird Müttern eine Ausschabung ans Herz gelegt. Eine Aufklärung über Alternativen, wie den abwartenden Vorgang oder durch medikamentöse Unterstützung, wird meist nicht angeboten. Im Gegenteil: Häufig werden Betroffene in Angst versetzt – vor einer Sepsis, Verbluten und dem Verlust der Gebärmutter. Es ist erschreckend: Frauen die Schockdiagnose mitzuteilen und ihnen nicht einmal Zeit zum Verstehen einzuräumen. Stattdessen Druck auszuüben, um sie umgehend in den OP zu schieben. Nicht selten wird ihnen signalisiert, es sei nur ein kleiner, schneller Routineeingriff. Kaum wird daran gedacht, dass bei diesem Eingriff auch gesundheitliche Konsequenzen entstehen können und die Frauen anschließend allein dastehen, ohne Kind und im Hormonchaos des Wochenbetts.
Denn nicht nur Frauen mit einem lebendigen Kind haben ein Wochenbett. Im Gegenteil – durch den Schwangerschaftsverlust wird die Produktion von Schwangerschaftshormonen unerwartet eingestellt. Doch die Rückbildung dauert, was Betroffene sehr wohl spüren. Deshalb sollten sie ihrer Seele und ihrem Körper Ruhe gönnen.
Leider wird dies vielen Betroffenen nicht leicht gemacht, denn sie müssen oft beinahe unmittelbar nach einer Kleinen Geburt wieder zur Arbeit. Darüber haben wir auf Instagram berichtet. Hier könnt ihr außerdem eine Petition für einen gestaffelten Mutterschutz nach einer Kleinen Geburt unterschreiben.
Wie unterstützt du als Doula Frauen bei einer Fehlgeburt?
Bei meinen eigenen Kleinen Geburten fühlte ich mich allein gelassen und viele teilen dieses Gefühl. Denn immer häufiger kommen Frauen auf mich zu, um sich begleiten zu lassen, da sie sich von der Medizin im Stich gelassen fühlen. Unter anderem habe ich Rituale für den Abschiedsprozess ausgearbeitet und festgestellt, dass die Frauen unter meiner Begleitung bestimmte Phasen durchlaufen, die ich „Hinleitungsphasen der Kleinen Geburt“ genannt habe. Diese hilfen ihnen dabei, sich mit dem eigenen Körper und dem Kind zu verbinden.
Viele wünschen sich, natürlich zu gebären. Den ungefähren Ablauf zu kennen, macht den Mamas Mut. Ich zeige ihnen Fotos von der Blutmenge, die sie möglicherweise erwartet, Fotos von Fruchthöhlen und Embryos. Mir ist es wichtig, dass die Angst nicht überhandnimmt. Das passiert, wenn das Ungewisse zu groß ist. Jede Kleine Geburt braucht ihre individuelle Zeit, bis Baby und Mama einander loslassen können. Der Moment, wenn Frauen aussprechen können, dass sie es geschafft haben, unter Wehen ihr Kind geboren und aufgefangen zu haben, ist ein ganz besonderer. Dieser Moment voller Stolz und Kraft wird sie ihr ganzes Leben begleiten.
Ich gebe meine eigenen Erfahrungen weiter – es beruhigt Betroffene, wenn jemand da ist, der das alles bereits erlebt hat. Außerdem biete ich Fortbildungen für Fachpersonal an, in denen ich meine Arbeit präsentiere, meine emotionale Unterstützung näherbringe und aufzeige, was es für gravierende Unterschiede macht, wenn Sternenmamas selbstbestimmt gebären dürfen.
Schuldgefühle sind vielen Sternenmamas sicherlich nicht fremd, so unberechtigt sie auch sind. Was rätst du Sternenmamas, die sich selbst und ihrem Körper die Schuld am Tod ihres Kindes geben?
Tatsächlich suchen Mamas die Schuld selten nicht bei sich. Viele sagen, sie wissen, dass sie nicht schuld sind und fühlen sich dennoch schuldig. Ich gebe ihnen immer den Rat, einen Brief an das eigene Kind zu schreiben. Alle Gefühle niederzuschreiben und dem Kind zu sagen, wie leid es einem tut. Es ist so wichtig, dass die negativen Gefühle ein Ventil bekommen und nicht weiter als Ballast auf der Seele liegen.
Wie können Sterneneltern den Verlust verarbeiten und trotzdem nicht vergessen? Wie können sie ihre Kinder in ihr Leben integrieren?
Oft integrieren Sterneneltern ihre verstorbenen Kinder, indem sie Fotos aufstellen, ihren Namen nennen, Rituale durchführen, zum Beispiel abends eine Kerze anzuzünden, um dem Kind in Gedanken Gute Nacht zu sagen. Viele haben Angst, loszulassen und damit zu vergessen. Das kann ich gut verstehen. Auch nach fünf Jahren habe ich Tage, an denen ich die Trauer aktiv hervorhole, um mich unserem Sohn und seinen Sternengeschwistern ganz nah zu fühlen. Ich erschaffe einen geschützten Raum, mache Musik an, nehme mir Zeit für mich, die Trauer und unsere Kinder. Es tut in dem Moment weh, wenn aller Schmerz aufbricht, aber danach fühle ich nur Erleichterung und habe meine Kinder so nah bei mir.
Was möchtest du Angehörigen von Sterneneltern mitgeben, um bestmöglich auf ihre Liebsten zu achten?
Miteinander sprechen und aufeinander zugehen. Nicht vor der Konfrontation mit Trauer weglaufen und Augen und Ohren verschließen. Das verschlimmert es häufig für Sterneneltern. Oft sind es die kleinen Dinge, mit denen man trauernde Menschen unterstützen kann: Zum Beispiel gekochtes Essen vor die Tür stellen, eine Karte schreiben, einen Strauß Blumen vor die Tür stellen oder anbieten, für sie einkaufen zu gehen.
Wann sind Sterneneltern bereit, eine erneute Schwangerschaft zu probieren? Was würdest du ihnen für den nächsten Anlauf raten?
Da würde ich nur auf mein Herz hören. Zumindest haben wir das immer so gemacht. Das Herz sollte entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt für eine neue Schwangerschaft ist.
Mehr über Corinna und ihre Arbeit mit Soulfeelings findet ihr auf ihrer Webseite und auf ihrem Instagram-Profil.
Triggerwarnung – Hier könnt ihr euch, wenn ihr möchtet, auch Bilder von Embryonen anschauen, die Corinna als Fotografin aufgenommen hat: Bild 1 und Bild 2.