„Wir haben als Familie unser ganzes Leben umgestellt, um mehr von dem zu tun, was wir nicht lassen können“, erzählt Gabi Reichert über die letzten 21 Jahre ihres Lebens. Da geht es nicht um die Entscheidung, sich gesünder zu ernähren und dadurch fitter zu sein oder täglich zu meditieren und zu sich selbst zu finden. Nein, Gabi und ihre Familie reisen regelmäßig für einige Wochen oder sogar Monate um die Welt.

Die „5reicherts“ berichten auf ihrem gleichnamigen Blog seit dem Jahre 2000 von ihren Erlebnissen. Gabi und ihr Mann Gunter Reichert arbeiten als Naturfotografen und Reisejournalisten und haben ihre drei Kinder Esra, Noah und Amy schon als Kleinkinder mit auf ihre Reisen genommen. Das behielt die Familie auch während der Schulzeit der Kinder bei. So war für die Reicherts das Realität, was seit knapp einem Jahr durch den Ausbruch der Pandemie auch hierzulande Alltag ist: Homeschooling, nur eben von unterwegs – und freiwillig.

Liebe Gabi, wo fühlst du dich zu Hause?

Am Meer. 

Reist ihr denn aktuell ans Meer?

Nein, momentan sind wir in unserem Haus in Bubenheim. Dort wohnen wir, wenn wir nicht unterwegs sind. Aber Noah studiert gerade in Slowenien und Esra war letztes Jahr mit dem Rad in Norwegen unterwegs. Sonst sind wir weitestgehend daheim geblieben. Das lag aber vor allem an meiner gesundheitlichen Situation. Ich kann also nicht sagen, wie es gewesen wäre ohne diese Probleme. 



Hätte euch die Pandemie früher vielleicht sesshaft gemacht?

Wenn uns die Pandemie in Schulzeiten getroffen hätte, wären wir wahrscheinlich eher ausgewandert, als in Deutschland sesshaft geworden. Während der schulpflichtigen Jahre reisten wir sechs Monate im Jahr. Die deutsche Schulpflicht ist da so strikt, dass in dieser Zeit kein Freilernen möglich ist. 


Homeschooling ist durch Corona für die meisten kein Fremdwort mehr und für viele Familien harter Alltag. Wie kam es damals zu der Entscheidung und fiel sie euch leicht?


Das Homeschooling, welches die Familien jetzt machen müssen, ist in keinster Weise mit unserem freien Lernen zu vergleichen. Die Entscheidung die Kinder aus der Schule zu nehmen fiel uns sehr schwer. Wir haben monatelang überlegt, wie wir es trotz deutscher Schulpflicht schaffen könnten. Gunter musste seinen Job kündigen, damit wir unsere Heimat monatelang verlassen konnten.


Doch Noah verweigerte auf der IGS immer mehr den Unterricht und so trafen wir letztlich die Entscheidung, die Kinder aus der Schule zu nehmen. Es war ihm zu laut, zu chaotisch, zu langweilig. Jeden Tag überzeugte er mich mehr davon, dass er daheim wesentlich besser lernen könnte. Ich musste ihm Recht geben – die Schule war für ihn nicht der ideale Ort zum Lernen. Er verweigerte also nicht das Lernen, sondern den Ort, das Umfeld und die Art und Weise.

Übrigens waren alle unsere Kinder damit einverstanden, die Schule zu verlassen und frei zu lernen. Das war eine gemeinsam getroffene Entscheidung.

Hattet ihr dennoch einen geregelten Familienalltag?

Wir hatten zwei Leben: das freie Leben auf Reisen und das mehr strukturierte Leben daheim. Daher ist es schwierig von einem Alltag zu sprechen. Der Montag-bis-Freitag-Woche mit Wochenenden waren wir genauso wie dem 8-bis-17-Uhr-Konzept entkommen.

Unsere Reisen selbst waren meist lange Roadtrips. Mal waren wir sechs Monate am Stück unterwegs, dann auch einmal drei Monate oder seltener auch drei Wochen – je nach Reiseziel und -zeit. In Deutschland arbeiteten wir die Fotos der Reisen auf, schrieben Reisereportagen und breiteten uns auf die nächste Tour vor. Die Kids gingen ihren selbstgewählten Themen nach. 

In den ersten Jahren haben die Kinder nicht nach dem üblichen Lehrplan gelernt. Sie sind voll ihren eigenen Interessen nachgegangen. Sie hatten sehr viel Zeit, englische Bücher zu lesen, Hörbücher zu hören, Spiele zu entwerfen, Filme zu drehen, Geschichten zu schreiben. Mathe wie in der Schule und Fächer wie Sozialkunde kamen nicht in den Tätigkeiten vor. Aber das störte uns nicht. 

Kinder lernen so viel nebenbei, wenn man sie nur lässt. Vor allem beim Englisch merken wir das. Die Kids schafften es durch das Lesen der Bücher und das Schauen der Filme im Original zu einem sicheren, fließenden Englisch in Schrift und Wort. Erstaunlich, oder?



Wie genau sah die Lernzeit der Kinder aus?

Diese Lernphasen waren gut strukturiert. Wir krochen morgens gegen 9 Uhr relativ ausgeschlafen aus den Betten, spielten beim Frühstück eine Stunde lang Karten und dann setzte sich der für den Abschluss Lernende an die Materialien. Das reichte dann bis 15 Uhr.

Unsere Kids gingen alle sehr unterschiedlich an das Lernen ran. Noah saß bis spät in die Nacht an seinen Aufgaben. Amy nutzte eher die Tage fürs Lernen. Jeder suchte sich die Materialien, mit denen er am besten zurechtkam wie Bücher, YouTube-Videos oder Übungsaufgaben. Als Eltern haben wir uns nicht eingemischt. Unsere Aufgabe war es, das entsprechende Umfeld zu bieten, auch mal aufzumuntern oder gemeinsam nach Lösungen zu suchen. 

Unsere Kinder entschieden sich alle selbst für die externen Schulabschlüsse. Dann lernten sie gezielt den geforderten Schulstoff. Der Realschulabschluss benötigte nur zwei, drei Monate dauernde Lernphasen, die wir auch auf den Reisen realisieren konnten. Für das Abitur lernten unsere Kids lieber daheim, weil es ruhiger und da der Internetzugang schneller und stabiler war.

Hattest du das Gefühl, eure Kinder haben soziale Kompetenzen ohne den Schulbesuch schwerer erlernt?

Warum nur wird die Schule als einziger Ort der Sozialisation angesehen? Dort werden sehr viele Kinder durch Mobbing von Klassenkameraden und manchmal auch von Lehrern nachhaltig traumatisiert.

Für die Sozialisation unserer Kinder war das Reisen ideal. An interessanten Orten sind wir meist länger geblieben und haben Bekanntschaften geschlossen. Die Kinder sind unserem Beispiel gefolgt und kamen mit Menschen aller Altersklassen in Kontakt. Zudem waren Amy und Noah auch mehrere Jahre Teil einer Schauspieltruppe, wo sie mit Menschen aller Altersgruppen zusammen Theaterstücke auf die Beine stellten. Der Kontakt zu anderen Menschen war also immer da.

Dieses offene Herangehen in unterschiedlichen Situationen hat ihnen wesentlich effektiver soziale Kompetenz vermittelt als das teils jahrelange Herumhängen mit immer den gleichen gleichaltrigen Schulkameraden.

Würdet ihr alles genauso wieder machen?


Ja, definitiv!

Welchen Rat würdest du Familien geben, die überlegen, auf längere Reisen zu gehen?


Reist langsam und lernt Leute kennen!