[Trigger Warnung – Suizid]
Katharina ist 37 Jahre alt, lebt in Köln und betreibt in ihrer Freizeit einen Blog. Die Artikel darauf erzählen aber nicht von ihrem letzten Urlaub mit Freunden oder den Erlebnissen als Frau in der Wirtschaftswelt, sondern von einem anderen Thema. Einem Thema das nach wie vor in unserer Gesellschaft ein gewisses Tabu ist: Suizid von Angehörigen.
Betroffenen zu helfen, liegt ihr sehr am Herzen, denn auch ihr Vater nahm sich im September 2018 das Leben. Seither engagiert sie sich für das Ende des Tabus, klärt auf ihrem Blog seelennebel.de und dem dazugehörigen Instagram Account über Suizid auf und erzählt ihre eigene Geschichte.
Liebe Katharina, wie geht es dir momentan? Immerhin ist das Thema durch den Suizidpräventionsmonat im September sehr präsent und dazu ist es auch noch der Todesmonat deines Vaters.
Es ist ein sehr schwieriger Monat. Rund um diese Jahrestage, sei es Todes- oder Geburtstag, denkt man noch mal in ganz besonderer Weise an alles was passiert ist und dadurch, dass im September tatsächlich auch sehr viel Öffentlichkeit für das Thema herrscht, wird man die ganze Zeit damit konfrontiert. Auf der einen Seite ist es schwer, wenn man immer ganz präsent damit konfrontiert wird, auf der anderen Seite bin ich da sehr froh, dass das Thema die Öffentlichkeit erreicht, denn das ist ja auch mein Anliegen. Ich möchte öffentlich darüber sprechen, dass Menschen einfach mehr verstehen was da passiert und es ein Platz in der Gesellschaft befindet.
Was genau ist denn bei euch passiert?
An einem Sonntagmorgen wurde ich von einer sehr guten Freundin meiner Mutter angerufen. Mein Vater hätte sich das Leben genommen und meine Mutter ihn gefunden. Ich bin direkt nach Leverkusen zu meinen Eltern gefahren.
Ich selbst war zu dem Zeitpunkt in einem Umbruch: Mit meinem Partner war ich noch nicht so lang zusammen und hatte gerade die Entscheidung getroffen mich beruflich umzuorientieren. Als das dann passiert ist, hat sich mein Leben einmal komplett auf den Kopf gestellt. Es drehte sich erstmal bei mir alles um die Unterstützung meiner Mutter, die sehr darunter gelitten hat. Der Blick auf mich selbst musste da erstmal zurückstecken, auch der Blick auf die noch junge Partnerschaft, die letztlich unter anderem daran zerbrach.
Wie ging es dann weiter?
An dem Tag selbst kam ich nachhause und dachte: Oh weia, meine Mutter gibt sich jetzt die Schuld an allem. Da war es mir ganz wichtig sie zu stärken und ihr zu sagen, dass sie nicht schuld daran ist. Es war an dem Tag generell extrem trubelig. Gut war, dass die Polizei direkt einen Notfallseelsorger geschickt hat, der uns ein paar Informationen an die Hand gegeben hat, ein paar Informationsblätter über Suizide im Allgemeinen, entsprechende Zahlen und auch, dass es eine Selbsthilfegruppe von Agus e.V. gibt.
Die nächsten Wochen war ich erstmal damit beschäftigt alles zu organisieren, wie beispielsweise die Beerdigung und Freunde und Familie zu informieren. Irgendwie funktioniert man halt, da macht es keinen Unterschied unter welchen Umständen eine Person stirbt.
Für dich als Tochter war es auch ein großer Verlust, hat sich auch jemand um dich gekümmert?
Mein Partner konnte damals gar nicht mit dem Thema umgehen und konnte mich dementsprechend auch nicht gut unterstützen. Generell habe ich mich mit der Thematik total allein gelassen gefühlt. Ich wusste von niemanden in meinem Umfeld, der so etwas erlebt hat. Man hat zwar mal gehört der und der hat sich das Leben genommen, aber ansonsten spricht da keiner davon, selbst die Menschen, die es erlebt haben, nicht.
Dann habe ich irgendwann angefangen mich damit zu beschäftigen, weil ich auch gar nicht wusste, was sage ich jetzt? Er hat sich umgebracht, er hat sich das Leben genommen – irgendwie hört sich alles so komisch an, wenn man es ausspricht – so surreal. Dann bin ich relativ schnell auf diese Infoseiten von Agus e.V. gegangen und habe mich informiert. 2 Monate später war ich das erste Mal bei der Selbsthilfegruppe von Argus in Köln und das hat mir unfassbar gut getan. So habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass ich mit all dem was ich empfinde und fühle nicht alleine bin.
Was hast du denn gefühlt?
Ich war so hin und hergerissen. Auf der einen Seite ist man natürlich traurig, dass der Mensch nicht da ist und dann denkt man auch Dinge wie „warum hast du uns das angetan?“. Dann war es auch noch so, dass meine Mutter aus dem Haus meiner Eltern raus wollte. Wir mussten dann für sie eine neue Wohnung suchen und gleichzeitig musste ich dieses Haus leerräumen, mit den ganzen persönlichen Gegenständen meines Vaters. Ich war irgendwie wütend und dachte in einem Moment: „Das kommt jetzt alles weg“ und im anderen: “Das behalt ich, das sind seine letzten persönlichen Dinge“. Dann fragt man sich natürlich, gerade als Hinterbliebene, ob ich da im Vorfeld mehr hätte machen müssen. Das sind Einzelheiten, die einen da beschäftigen und ich war monatelang in einem totalen Gefühlschaos.
Was hat dir in der schweren Situation geholfen?
Da hat mir die Selbsthilfegruppe sehr gut getan und auch mich zu informieren, wie viele Menschen jedes Jahr durch Suizid sterben, wie viele davon betroffen sind, wie viele unter psychischen Erkrankungen leiden und wie viele Angehörige zurückbleiben. Außerdem war ich auch noch in Therapie und mir hat das sehr geholfen.
Aus meiner Selbsthilfegruppe weiß ich, dass es auch spezielle, mehrwöchige Reha-Kuren gibt, die auf Trauer, Trauma und Suizid spezialisiert sind.
Wie hat euer Umfeld reagiert, nachdem es von dem Suizid deines Vaters gehört hatte?
Meine Eltern lebten auf dem Dorf, wo sich ganz viele Menschen bisher nie mit dem Thema beschäftigt haben. Schon aufgeschlossenen Menschen fällt das schwer, mit den Reaktionen im Umfeld umzugehen, aber in dörflichen, auch noch kirchlich geprägten Strukturen, ist es dann noch einmal schwieriger.
Bei meiner Mutter war es wirklich schlimm, da haben zum Teil Leute die Straßenseite gewechselt oder haben nicht mehr gegrüßt. Ich bin da anders, ich bin auf die Leute zugegangen und habe gemerkt, dass da viel Unsicherheit ist. Die Menschen wissen teilweise gar nicht wie sie sich verhalten sollen. Tod ist so schon ein Thema, worüber wir nicht sprechen und was wir gesellschaftlich gern von uns wegschieben. Aber Suizid ist etwas, womit andere Menschen überhaupt nicht umgehen können. Wir wurden auch ziemlich alleingelassen von Freunden und Familie, da wurde eigentlich keine Hilfe angeboten. Meine Mutter wollte eigentlich auch nur eine Beerdigung im engsten Kreis, das wurde dann zunächst nicht akzeptiert und sie wollten sich über den Wunsch hinwegsetzen. Es gab familiär ausgesprochen wenig Verständnis für die Situation, in der wir uns gerade befanden. Ich verstehe, wenn Menschen nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Ein nettes Wort und ein Handschlag oder eine Umarmung oder ein einfaches „es tut mir leid, dass ihr das gerade durchmachen müsst“, das reicht schon. Man erwartet gar nichts großes, aber das Schweigen ist das Schlimmste, was man einem antun kann. Wenn Menschen zu mir gekommen sind und sagten „ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen oder wie ich damit umgehen soll“, dann ist das ehrlicher als wenn man sich einfach weg dreht und gar nichts sagt.
Das hat mich und meine Mutter alles sehr mitgenommen. Er hat das nicht aus einer Situation heraus gemacht, sondern weil da ganz viele verschiedenen Aspekte eine Rolle gespielt haben, das will keiner sehen. Es ist natürlich einfacher jemandem die Schuld zu geben.
Du lebst in Köln, waren die Reaktionen dort anders?
Ich habe Bekannten- und Freundeskreise, die aufgeschlossen und tolerant sind, in denen man eigentlich mit allen Themen offen umgehen kann. Aber ich bin auch im wirtschaftlichen Kontext sehr aktiv in Köln und da war ich schon nervös, wie die Leute damit wohl umgehen. Selbst von Menschen, die ich nicht so gut und nur aus beruflichen Kontexten kenne, wurde mir sehr viel Verständnis und Offenheit entgegengebracht. Es gab unfassbar viele Menschen, die auf mich zukamen und mir erzählten, dass sie in ihrer Familie gleiches erlebt haben, sich vorher aber nicht trauten darüber zu sprechen.
Da war etwas in mir, dass ich was machen möchte und anderen Menschen das Gefühl geben möchte, dass sie nicht allein in so einer Situation sind. Außerdem ist Suizid ein großes gesellschaftliches Thema, über das wir endlich mal sprechen müssen und mit wir meine ich auch Menschen, die nicht betroffen sind.
Als ich mich im März dieses Jahres dazu entschlossen habe öffentlich darüber zu sprechen, war es irgendwie eine Befreiung. Ich möchte anderen Menschen Mut machen, darüber zu sprechen und auch Frühwarnzeichen zu erkennen.
Was könnten denn Frühwarnzeichen sein?
Auch bei meinem Vater gab es früher Warnzeichen, die ich abgetan und nicht wirklich ernst genommen habe. Nun denke ich, wenn ich das alles, was ich jetzt weiß, im Vorfeld gewusst hätte, hätte ich es vielleicht nicht verhindern, aber vielleicht schon vorher einen anderen Umgang mit ihm haben können.
Mein Vater hat die letzten 10 Jahre seinen Lebensmut verloren, das habe ich aber auch jetzt erst in der Rückbetrachtung erkannt. Wo er früher ein lebenslustiger Mensch war, hat er sich zurückgezogen, wollte nicht mehr so viel rausgehen und ich habe das auf das Alter geschoben. Dann auf einmal ging es ihm besser, und ich dachte er hat sich gefangen, er ist voller Elan und packt Dinge an. Kurz vorher hat er angefangen aufzuräumen, mich angerufen und gesagt, wo Unterlagen und Papiere liegen, das habe ich aber auch nicht so erkannt. Das habe ich jetzt schon oft gehört, dass es kurz vorher ein Tief gab und auf einmal gibt es eine Stimmungsaufhellung und man denkt es geht aufwärts. Dann war es aber eigentlich dieser Moment, in dem er seine Entscheidung schon getroffen hatte.
War dir im Vorfeld klar in welchem Umfang du darüber sprechen möchtest?
Die Medien sind ja sehr vorsichtig mit dem Thema Suizid, aber ich bin überzeugt, wenn man das nicht heldenhaft darstellt, sondern vorsichtig und behutsam darüber spricht, dass das wirklich helfen kann Suizide zu verhindern und mit psychischen Erkrankungen anders umzugehen. Also habe ich angefangen zu schreiben und wollte zeigen, was es wirklich für Hinterbliebene bedeutet und wie man damit umgehen kann.
Als ich die ersten Sachen veröffentlicht habe, hat sich auf einmal eine Tür nach der anderen geöffnet und so viele Menschen kam auf mich zu, um mit mir darüber zu sprechen. Nun habe ich schon ein paar Interviews mit Menschen, die in diesem Bereich tätig sind, geführt und eine Veranstaltung zum Thema Führung, Unternehmenskultur und mentale Gesundheit organisiert.
Selbst in dem Dorf meiner Eltern ist meine Arbeit mittlerweile angekommen. Ich habe ein persönliches Video von mir veröffentlicht, wo ich noch mal beschrieben habe, warum ich das mache und eine ehemalige Nachbarin hat es auf Facebook geteilt. Das hat mich schon berührt, weil ich wusste vorher nicht, wie diese Menschen darüber denken, aber anscheinend lesen und verfolgen sie es.
Wenn ich auch nur einem Menschen mit meinen Erfahrungen helfen konnte, hat es sich schon gelohnt.
Was würdest du gerne Personen mitgeben, die einen Suizid im nahen Umfeld erlebt haben?
Ich kann nur jeder und jedem empfehlen in so eine Selbsthilfegruppe zu gehen, das hat mir unglaublich gut getan, aber sich auch mit Betroffenen auszutauschen. Man hat wirklich das Gefühl, mit diesem Thema und alldem, was man durchlebt hat, komplett alleine auf der Welt zu sein. Dabei erleben diese verschiedenen Gefühle, wie Wut, Trauer, Schuld, Scham und alles was dazu gehört, auch andere.
Es gibt auch zum Beispiel online Gruppen von Agus e.V. oder Facebook Gruppen, wo sich nur Menschen zu diesem Themen austauschen. Es hilft wirklich sich mit Betroffenen zu unterhalten, die nachstehende Personen durch Suizid verloren haben. Das ist einfach eine ganz besondere Todesart, die auch ganz besondere Themen mit sich zieht.
Es gibt auch Mythen um den Suizid, das Menschen, die drüber sprechen es nicht tun, aber acht von zehn Menschen die darüber sprechen, machen es letztendlich auch. Wir müssen aufhören an sowas zu glauben und Menschen ansprechen, die sowas sagen. Die machen es nicht um Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern weil sie wirklich verzweifelt sind. Es kann jede und jeden treffen, es zieht sich durch alle Altersgruppen, durch alle gesellschaftlichen Schichten. Es ist mir wichtig zu sagen, dass es für jeden Menschen wichtig ist, sich einmal mit diesem Thema zu beschäftigen und auch sowieso auf sich selber zu schauen und achtsam mit sich und der eigenen mentalen Gesundheit umzugehen.