Folge 1 von unserem neuen digitalen Roman

Der Marienkäfer und ich

Ich sehe den Marienkäfer an der Decke hocken. Er beobachtet uns. Beobachtet, wie das Sofa quietscht bei jedem Stoß. Gott, ich möchte endlich wieder Sex im Bett. Sex ohne Kinderbett neben dem Ehebett. Vielleicht sogar Sex ohne Ehemann. „Darf ich deine Nippel küssen?“, nuschelt Moritz über mir. Die verschwitzten Locken kleben an seiner Stirn. Ja, Herrgott. Ich stille doch nicht mehr. Meine Nippel sind fein. Mal abgesehen davon, dass ich mir nicht mehr die Mühe gebe, dass kleine dünne Haar, das am Rande des Vorhofs sprießt, zu zupfen. 

„Mmm, ja“, sage ich. Die Blicke des Marienkäfers durchbohren mich. Er weiß es. Ich schließe die Augen und gehe imaginär das Telefonat durch, das ich morgen mit dem Bezirksamt Nord führen muss. Kitagebühren. „Du riechst wundervoll“, sagt Moritz und gräbt seine Nase in meinen Nacken. Der Rhythmus wird schneller. Die Sofamatratze hüpft. Die Samtkissen hüpfen. Alles hüpft, nur mein Herz nicht. „Willst du gleich nach oben?“, fragt er. Meine Güte. Sex mit ihm erinnert mich inzwischen an den G20-Gipfel: Bitte weniger reden, mehr handeln. Pack mich doch einfach an der Hüfte und überrasch mich, möchte ich ihm entgegenschreien.  

Meine Blicke gleiten an der Tapete entlang, weg vom Marienkäfer, und ich denke an den ekligen, alten Mann. Den Honighändler vom Wochenmarkt. Auf den habe ich schon letzte Woche masturbiert. Der Gedanke an attraktive, sportliche Jungspunde hat mich komischerweise noch nie erregt. Wenn ich kommen will, kommen mir komische Gestalten in den Sinn: Menschen, die ich schmuddelig oder unfreundlich finde. Im echten Leben würde ich sie nicht einmal küssen wollen, aber wenn sie mich in meiner Fantasie auf dem Bahnhofsklo nehmen, werde ich erstaunlich schnell feucht.

Der Elefant im Raum

Mit dem Vater meines Kindes hingegen starten viele Abende gleich: Trockener Wein, trockene Muschi. Wir brauchen sehr viel Spucke. Und ich ein wenig Schauspielkunst. Ich mache Jo Gerner Konkurrenz. „Was hältst du davon?“, stöhnt Moritz, zieht ihn kurz raus und macht sich für einen Stellungswechsel bereit. Egal was es ist, ich bin jetzt schon gelangweilt davon. Wir hatten sowieso nur mit einem lieblosen Vorspiel begonnen, weil in der TV-Werbung Witze über sexlose frischgebackene Eltern gemacht wurden. Eine bedrückende Stille erfüllte unser Wohnzimmer. Der Elefant im Raum. 

Einst führten wir eine Freundschaft Plus, nun haben wir eine Ehe Minus. Eine halbe Stunde vorher hatten wir uns – wahrscheinlich, weil wir uns etwas beweisen wollten – stürmisch unsere Klamotten vom Leibe gerissen. Stürmisch, aber nicht aus Leidenschaft. Stürmisch mit Blick auf das Babyphone, denn die Zeit tickte. Das geht so nicht weiter. Das geht so nicht weiter, denke ich. „Mia? Alles gut bei Dir?“, fragt mich Moritz. Er hat meine Beine inzwischen auf seine Brust gestellt, er kniet vor mir. Und da sehe ich es. Auf meinem rechten Fuß: 38317. Unsere magische Zahlenreihe in feinen Linien.

Weißt du noch?

Wieder schließe ich die Augen und sehe uns vor mir: in der Unibibliothek. Mit wenig Geld auf dem Konto und noch weniger Falten um die Augen. Aber – Halleluja – vierzigtausendmillionen Hormonen in den Adern. Wir sitzen uns im großen Lesesaal gegenüber, Moritz hat Kugelschreiberspuren an der Lippe. Dunkelbraune Locken, einen Schnurrbart, den er sich für eine WG-Kostümparty wachsen lassen hat, und eine neonfarbene G-Shock vom Flohmarkt am Handgelenk. 

Wir sitzen über unseren Büchern und sprechen kein Wort miteinander. Nicht einmal ein Lächeln gibt’s, denn wir haben uns auf dem Hinweg zum ersten Mal in unserer jungen Beziehung gestritten. Ich habe mich darüber aufgeregt, dass er seinen Fahrradhelm nicht trägt. Eine lächerliche Diskussion, die ich noch heute, sechs Jahre später, mit ihm führe. Während er in seinen Kapiteln über Katalysatoren verloren ist, hänge ich gefrustet und eingeschnappt über mittelhochdeutschem Minnesang. 

Humor und Fladenbrot

Ich möchte nicht streiten, sondern seine Unterlippe beißen, lachen, bumsen und danach nackt im Bett im Netz Wer-wird-Millionär gegeneinander spielen. Ich tue so, als würde ich auf die große Uhr über der Eingangstür starren, doch heimlich beobachte ich ihn. Keine Regung. Wenn es um Technik ging, war er schon immer vertieft. Fokussiert. Begeistert. Ein angehender Fahrzeugbauer durch und durch. Er konnte mit Zahlen, nicht mit Worten. Kommunikation war nie seine Stärke, aber die 250.000-Euro-Frage. Und cleverer Humor. Und selbstgemachtes Fladenbrot.  

Während ich so sitze, schmolle und meine dreckigen Turnschuhe begutachte, schiebt er mir wortlos seinen Taschenrechner herüber. Dort steht: 38317. Mein Gehirn rattert, dann schiebe ich ihm das Gerät schulterzuckend zurück. Er grinst, dreht den Taschenrechner auf den Kopf. Da steht es, hellgrün auf schwarz: Liebe. Die Zahlen formen das Wort. Ich platze vor Glückseligkeit. Ich zähle es als sein erstes „Ich liebe Dich“. 

„Die Nächte sind zu hart“

Ich öffne die Augen, inzwischen ruht mein Fuß auf seinem Bein. Er ist gekommen. Ich nicht. Ich komme durch pure Penetration nie zum Orgasmus. Ich starre auf das Tattoo. Drei Acht Drei Eins Sieben. Wie oft hat er es mir ins Ohr geflüstert. Jetzt sagt die Stimme in meinem Kopf: Drei, zwei, eins, bitte hol du jetzt die Taschentücher und räum deine Socken unterm Sofa weg. Stattdessen steht Moritz auf, schlürft Richtung Badezimmer, wirft mir ein „Ich penne heute auf dem Sofa“, entgegen und lässt die Socken liegen. Ah ja. Dann schlage ich mir wieder mit unserer Tochter die Nacht um die Ohren. Surprise.  

Wenige schlafarme Stunden später werde ich wach, als Alea mit ihren angesabberten Fingern in meinem Ohr herumstochert. Dazu quakt sie herum, Gott weiß warum. 5:52 Uhr. Mein Baby, das kein Baby mehr ist, sondern eine 14-monatige Rakete, schläft natürlich in seinem Kinderbett. Aber nie durchgängig durch. Ich schaffe es zwar, Alea abends dort abzulegen, aber spätestens um die zwei Uhr nachts muss ich sie in unser Bett holen. Beziehungsweise mein Bett. Moritz schläft seit Ewigkeiten auf dem Sofa. „Die Nächte sind zu hart“. Ja, ach was.

Die perfekten Grübchen

Alea ist ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten: strahlend blaue Augen, dunkelbraune Locken und riesige Wangen. Nur die Grübchen hat sie von mir geerbt. Weil die Grübchen die perfekte Größe haben, um potenziell Smarties reinzudrücken, wird sie innerhalb der Familie gern „Smartie“ genannt. Als Alea sich über mich wirft, um an mein Handy zu kommen, das ich erfolgslos hinter meinem Po zu verstecken versuche, sehe ich bereits mein Begrüßungsgeschenk: Ein Fleck auf ihrem Rücken scheint durch den gepunkteten Pyjama. Die Kacke ist bereits am Steißbein. 

Mein Rücken sendet auch Alarmsignale. Er schmerzt täglich, wenn ich die Kleine hochhebe. Ob Arm. Ob TrippTrapp. Ob Badewanne. Ich hebe Alea auf die Wickelkommode, verzerre mein Gesicht vor Schmerz und bekomme bereits den ersten Tritt in den Magen. Schmerz von vorn und hinten. „Alea, nein! Das tut Mama weh!“, versuche ich ruhig zu sagen. Dabei rutscht es mir schnippisch und laut hinaus. Sie wirbelt umher, wehrt sich. Während ich hektisch versuche, das Kind davon abzuhalten, die schöne Etsy-Unterlage mit Scheiße zu beschmieren, scheitere ich daran, ein Feuchttuch aus der Packung zu ziehen. Meine Vorsätze, das Baby nur mit Wasser und Waschlappen zu reinigen, habe ich noch im Wochenbett über Bord geworfen. 

Der schönste Job der Welt treibt mich in den Wahnsinn.

Wenige Minuten später tobt Alea durch die Küche, schreiend, aber zumindest frisch gewickelt. Sie hat Hunger und hängt in Tränen verzweifelt am Herd. „Smartie, ich beeile mich schon!“, sage ich und wühle mich durch das Regal. Moritz hat – obwohl ich ihm extra eine Einkaufsliste schrieb – die Schmelzflocken vergessen. Das Brot ist hart. Und die Mandarine, die meine Rettung sein könnte, trägt auf der Unterseite weißen Pelz. Ich atme tief durch. 

Alea zerrt an meinem Pyjama, hängt sich an mein Schienbein. Ich gebe auf und nehme sie trotz Rückenschmerzen auf den Arm, trage sie seitlich an der Hüfte und scrolle gleichzeitig panisch durch meine Apps. Ist sie vielleicht im Sprung? Ja, es muss ein Sprung sein. Dabei war sie doch gerade erst im Sprung. Der gelbe Button mit der Unterschrift „Oje, ich wachse“, öffnet sich. Das Symbol: strahlender Sonnenschein. Wütend schließe ich die App und pfeffer das Handy auf den Herd. Da legt meine Tochter ihren Kopf auf meine Schulter, ihre Hand wirft sie um meinen Hals und streichelt sanft mein Ohr. Ich atme tief durch. Der schönste Job der Welt treibt mich in den Wahnsinn. In der Stille stehen wir beiden am Fenster und beobachten die Meisen auf dem Balkon.

In dem Moment kommt Moritz hinein, schaut mich mitleidig an und sagt: „Boah. Ich bin so müde“. Und während die Blaumeise die Sonnenblumenkerne pickt, beschließe ich, mich zu trennen.

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