“Du scheinst super zu dieser großartigen Möglichkeit zu passen!” Um was geht es überhaupt? Egal, Hauptsache verkaufen! Hauptsache schnell und leicht verdientes Geld. Aber gibt es das überhaupt? Im MLM sind die Versprechen zumindest groß.
MLM, nicht M&M
Nicht M&M, sondern MLM. Multi-Level-Marketing. Auch Network Marketing oder Strukturvertrieb genannt. Das ist ein unternehmerisches Vertriebskonzept. Bekannte Unternehmen in Deutschland sind unter anderem Herbalife, Mary Kay, Tupperware und die deutsche Vermögensberatung.
Es gibt verschiedene Arten des Vertriebs. Eine der ältesten und die, auf der Multi-Level-Marketing basiert, ist der Direktvertrieb. Hier wird auf Zwischenhändler*innen verzichtet. Der Verkauf findet direkt zwischen Unternehmen und Käufer*innen statt.
Der hauptsächliche Unterschied zum herkömmlichem Vertrieb liegt in der Unternehmensstruktur. Marketing-Experte David Gerginov sagt: “Beim Multi-Level-Marketing agiert der Kunde eines Unternehmens als selbstständiger Vertriebspartner, der sowohl Produkte oder Leistungen verkauft als auch Neukunden anwirbt.” Das klingt jetzt prinzipiell nicht so schlecht. Eigeninitiative und so. Das Problem liegt aber in der Hierarchie: Während Start-Ups mit flachen Hierarchien werben, gibt es im Multi-Level-Marketing, wie der Name verrät, verschiedene und feste Stufen. Um mehr Geld zu verdienen, musst du im Unternehmen aufsteigen. Um aufzusteigen, musst du erst einmal mehr Geld einnehmen und mehr neue Mitglieder ins Unternehmen bringen. Je mehr unter dir arbeiten, desto weiter steigst du auf und verdienst an den Produktumsätzen derjenigen, die du angeworben hast, mit. Kommt euch auch das Bild einer Pyramide in den Kopf? Aber solche Systeme sind doch illegal?
Von Pyramiden und Schneebällen
Kurz gesagt: Aufbau und Betrieb eines Schneeball- oder Pyramidensystems sind in Deutschland verboten. Die lange Version gibt es hier: § 16 Abs. 2 UWG
Aber was sind Schneeballsysteme überhaupt? David Gerginov bezeichnet so “ein Geschäftsmodell, das sich durch eine stetig wachsende Anzahl an Teilnehmern auszeichnet. Die Aufgabe jeder teilnehmenden Person ist es, weitere Menschen zu finden, die sich ebenfalls am Geschäft beteiligen.” Nur so können die Teilnehmenden Gewinne erzielen. So kommt der Schneeball ins Rollen und wächst.
Es beginnt meist verlockend und endet mit verlorenem Geld. Es beginnt mit einer Investition: in das Produkt, in die Firma, aber besonders in die eigene unternehmerische Zukunft. Denn wie wir alle von Monopoly wissen: Man muss erst Geld investieren (sprich: verlieren), um welches zu gewinnen. Dieser Schritt kann erst einmal logisch klingen, um ein Business zu starten. Doch dabei bleibt es nicht. Denn eine Grundsatzbedingung in Pyramidensystemen ist die Anwerbung neuer Mitglieder, mit deren Investitionen die Gewinne früher eingestiegenen Teilnehmenden bezahlt werden. And down the rabbit hole we go.
Wie entdecke ich ein Schneeballsystem?
Es gibt einen passenden Spruch zur Präsenz von eigentlich verbotenen Schneeballsystemen: “Ein Polizist befragt einen Verdächtigen: ‘Haben Sie diesen Mann umgebracht?’ Er entgegnet: ‘Nein, Mord ist illegal.’”
Sie sind nicht immer leicht zu entlarven. Was Unternehmen als Schneeballsysteme unter anderem illegal macht, ist Vorsatz. Dass die Gründer*innen von Beginn an wissen, dass sie ein illegales Spiel betreiben. Und Vorsatz kann man fast nie beweisen. Die auf Wirtschaft- und Kapitalmarkt spezialisierte Anwältin Sarah Wagner-Ahrendt sagt zu MLMs: “Meiner Erfahrung nach sind 99 Prozent dieser Systeme Schneeballsysteme, aber ich kann es eben nicht beweisen.”
In Schneeballsystemen gibt es nur ein Ziel: das Anwerben neuer Mitglieder. Was Multi-Level-Marketing davon unterscheidet oder was einigen Schneeballsystemen hilft, nicht als solche aufzufliegen, ist, dass sie sich meist hinter einem realem Produkt verstecken.
Es gibt auch MLMs, die kein konkretes Produkt verkaufen. Hier bitte doppelt und dreifach kontrollieren. Es ist die Rede von “passiven Produkten” und “Kapitalanlagen.” Die Menschen werden mit knalligen Präsentationen in den Bann gezogen, die mehr ballern als jeder Tom Cruise-Film. “Was machen wir überhaupt?” Egal, Hauptsache Geld verdienen. Interessierte, die zu viele Fragen stellen, wie “Wie verdienen wir unser Geld und wo kommt das Ganze hin?” werden als zu neugierig wahrgenommen und abgewiesen. Es sollte nicht so einfach sein, sich neue Mitglieder zu angeln, aber der Wunsch nach dem großen Geld ist manchmal größer als der gesunde Menschenverstand und macht leichtgläubig. Hier wirkt es als käme das ganze Geld aus dem Nichts. Dabei finanzieren sich diese Unternehmen nur durch die Akquise neuer Mitglieder. Deswegen liegt von vorn hinein die Betonung stark darauf. Und wenn diese ausbleiben, stirbt das Ganze schnell.
Vorgetäuschte Chance(ngleichheit)?
99 Prozent der Menschen, die einem MLM beitreten, verdienen nicht einmal ihre Anfangsinvestition zurück! 99 Prozent! Das ist kein Clickbait, sondern das Ergebnis einer Studie der amerikanischen Bundeshandelskomission.
Aber nicht alle gehen leer aus. Sonst hätten MLMs nicht diese Präsenz. Manche machen ordentlich Gewinn in diesen Systemen. Die Betonung liegt hier jedoch auf “manche”. Und so wie die Kluft zwischen der reichen Spitze und der restlichen Gesellschaft größer wird, realisiert sich in MLMs eine ähnliche Struktur. Die Gründer*innen und diejenigen, die in der Anfangsphase eingestiegen sind, verdienen schließlich mit jeder weiteren Person, die einsteigt, mit. Diese Menschen gelten als Vorbilder des Unternehmens und mit ihrem Erfolg werden neue Anwärter*innen gelockt.
Zur Vorstellung hilft das Bild einer Pyramide. Ganz oben auf der Spitze sind die Initiator*innen. Diese werben damit, ein spannendes Produkt oder eine lukrative Dienstleistung vermarkten zu wollen. Die dafür notwendigen Vertriebspartner*innen stehen auf der zweitobersten Ebene. Wichtig ist hier die Startgebühr, um einzusteigen, um das Vertrauen in das Unternehmen zu symbolisieren. Je mehr Arbeitende unter einem sind, desto mehr Gewinn generiert man prozentual und steigt selbst in der Hierarchie auf oder bleibt oben, während sich die unteren Stufen häufen. Die meisten Mitglieder verlieren nicht nur ihre Investition, sondern bereichern damit diejenigen an der Spitze der Pyramide. Oh, entschuldigt. Der Spitze des Unternehmens.
Ein Beispiel: Wenn jedes Mitglied sechs weitere anwerben würde, dann würde ab der Stufe 13(!) die Weltbevölkerung überschritten sein! Daher brechen solche Systeme oft schnell zusammen. Der Schneeball des Winters ist bis zum Sommer zum Schmelzen verurteilt.
Zielgruppe: Frauen
Diejenigen, die angeworben werden, sind – wie so oft – die bereits Verletzlichen. Menschen, die wenig Geld haben oder verzweifelt nach Arbeit suchen. Doch tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit größer, im Lotto oder am Spielautomaten zu gewinnen, als im Multi-Level-Marketing das große Geld zu machen.
Bei alldem kommt die Frage auf: Wieso möchten Menschen für solche Unternehmen arbeiten? (Es ist nicht meine Intention, sich über Menschen, die dies tun, lustig zu machen, sondern zu informieren.) Natürlich ist da das Versprechen von unbegrenzter Verdienstmöglichkeit. Verständlicherweise regt das Interesse an.
“Würdest du gerne flexibel von Zuhause arbeiten und dein eigener Chef / deine eigene Chefin sein? Willst du den schnellen Weg zu Reichtum und Erfolg gehen?” Ein attraktives Angebot für viele! Aber für eine Gruppe besonders: Mütter. Viele Mütter bleiben wegen ihrer Kinder Zuhause, möchten aber trotzdem Geld verdienen. Daher ist so eine Möglichkeit sehr spannend. Karriere als #Girlboss im Network Marketing. Immer mehr Männer steigen ein, dennoch dominieren hier Frauen. Genau genommen 72 Prozent Frauen und 28 Prozent Männer.
Außerdem werden viele militärische Ehepartner*innen akquiriert. Diese müssen für ihre Partner*innen viel umziehen und Militärstützpunkte befinden sich außerhalb von großen Städten. Das schränkt ihre Berufswahl weitreichend ein und die Arbeitslosenquote liegt bei über 20 Prozent. Die Arbeit kann auch weiteres ermöglichen: In einer isolierenden Welt ein Netzwerk aufbauen und neue Kontakte und Zugehörigkeit gewinnen.
“Wolltest du schon immer mehr aus deinem Leben machen?” – Der Einstieg
Wie geht es eigentlich los? Die wenigsten Vertreter*innen von MLMs kommen von selbst auf ihren Einstieg in die Branche. Die meisten werden rekrutiert. Viele haben keine Vorerfahrungen im Vertrieb, werden aber clever mit personalisierten (sprich: manipulierenden) Nachrichten angelockt.
Wichtig: MLMs bezahlen kein Gehalt, du bekommst kein Geld direkt vom Unternehmen. Das einzige Geld, dass du verdienen kannst, ist eine Provision – entweder für deine Verkäufe (abzüglich des Versands und deiner eigenen Investition in die Produkte) oder für angeworbene Mitarbeitende und Anteile derer Verkäufe.
Und einfach nochmal so als Anmerkung: Ein Job, für den man selbst bezahlen muss, um ihn auszuüben, anstatt bezahlt zu werden, sollte einmal mehr überprüft werden.
“Nutze dein Netzwerk” – Erste Schritte
“Menschen kaufen am liebsten das, was ihnen Freunde persönlich empfehlen,” sagt Rick Goings, der CEO von Tupperware. Mundpropaganda gilt noch immer als eine der vertrauensvollsten Quellen für Informationen und Empfehlungen. Über den Effekt des Social Sellings nutzen Vertreter*innen ihr eigenes soziales Netzwerk für ihre Arbeit.
Je nach Unternehmen, kaufen sich neue Mitglieder ein Startpaket oder investieren. Alles im Sinne der lukrativen Zukunft. Oft müssen sie eine monatliche Quote an Verkäufen oder neuen Rekrutierungen erreichen, um zumindest auf ihrer Stufe zu bleiben und Geld zu verdienen, oder sogar aufzusteigen. Um dies zu schaffen, kontaktieren viele ihr soziales Netzwerk; Freund*innen und Familien, alte Bekannte und über sieben Ecken Verwandte. Und viele soziale Beziehungen leiden darunter. Denn wenn potentielle finanzielle Ausnutzung ins Spiel kommt, bleibt das nicht für jede Beziehung ohne Nachwirkungen. Wenn dies nicht klappt, kaufen sich einige selbst noch mehr Produkte, um ihre Quotenpunkte zu erreichen und bleiben oft auf den Produkten und Schulden sitzen.
Die Produkte und die Parties – Der Werdegang
Oft rückt das eigentliche Produkt in den Hintergrund. Wichtiger sei es, einen bestimmten Lifestyle zu promoten. Es soll sich alles um Glücklichsein und Erfolg drehen. “Wir verkaufen kein Produkt, sondern den Traum.” Das Motto: Fake it till you make it. (Das nehmen einige wörtlich und fälschen Bestellungen und Reviews.)
Die Produkte im Multi-Level-Marketing kann man nicht über einen Kamm scheren. Sie können sowohl qualitativ hochwertig als auch der letzte Schrott sein. Aber dennoch frage ich mich: Wenn die Produkte wirklich so gut wären, wie sie angepriesen werden, wieso werden sie dann nur über Privatpersonen und nicht über offizielle Läden verkauft? Ja, so funktioniert Direktvertrieb, aber ist dies wirklich der beste Wege, um ein legitimes, gutes Produkt zu verkaufen?
Viele von uns waren bestimmt schonmal auf einer Tupperparty oder auch einer Dildoparty? Es gibt auch Veranstaltungen, auf denen Vertriebler*innen Pflegeprodukte vorstellen. Die Motivation liegt bei vielen sicherlich darin, ihre Lieben an ihrer Arbeit teilhaben zu lassen, zu zeigen, an was sie so leidenschaftlich arbeiten. Doch aus dem Ausprobieren von Produkten wird schnell Werbung für das Unternehmen. So können in solchen Kontexten private Beziehungen ausgenutzt werden, um oft suspekte Unternehmen zu unterstützen. Auch wenn eigentlich kein Interesse besteht, sind Besucher*innen oft zu nett, um abzusagen. Und weil doch so viel für die Party organisiert und bezahlt wurde, kaufen sie aus schlechtem Gewissen oder um die unangenehme Stimmung zu entschärfen ohne eigentliches Interesse und Bedürfnis ein paar Produkte oder investieren sogar selbst.
Doch wo bleibt der Erfolg? – Der Ausstieg
Irgendwann ist das private Netzwerk ausgereizt. Auch über Social Media kommt nichts mehr rein. Es gibt zu viele andere Vertriebler*innen und das Interesse bleibt aus. Nicht zuletzt, weil viele dem Konzept (zurecht) skeptisch gegenüberstehen. Viele verzweifeln, wenn auf Dauer die versprochenen Erfolge ausbleiben, doch sie sehen das Problem oft nicht im Unternehmen, sondern bei sich selbst: Sie seien schlechte Verkäufer*innen und müssten sich nur noch mehr anstrengen. Genauso wird es ihnen auch von oben suggeriert. Und der Druck wird nur größer.
Ein kleines Fünkchen im Kopf glaubt vielleicht auch noch daran, dass du eine/r der Glücklichen sein kannst. Und trotz Warnsignale und ausbleibendem Erfolg, versuchst du es weiter. Um zumindest die anfängliche Investition zurückzubekommen oder es endlich zu schaffen, versuchst du, immer mehr neue Menschen zu rekrutieren. Das ist verständlich für den Selbsterhalt. Aber damit zieht man nur noch mehr Menschen in das eigene Loch. Und je mehr einem die Problematik bewusst wird, desto unethischer ist es eigentlich, auf Kosten anderer zu versuchen, dem System zu entkommen. Andere Menschen dazu zu bringen, ebenfalls zu investieren, wenn man selbst erkannt hat, wie unwahrscheinlich der vorgegaukelte Erfolg ist, ist nicht okay.
Die Moral von der Geschicht’
Am Ende geben viele auf. Das ist kein Versagen, sondern das einzig Richtige. Bevor du noch mehr Geld in ein leeres Versprechen steckst. Die Chancen stehen leider gegen dich. Ein türkisches Sprichwort besagt: “Egal, wie weit du auf einem falschen Weg gegangen bist, kehre um.” Hak es als Versuch ab, du wolltest ja nur das Beste für dich. Und: Du bist nicht schuld an deinem “Versagen”. Das System hat von vorn hinein nicht vorgesehen, dass du gewinnst.
Die Unternehmenskommunikation in MLMs erinnert nicht selten an einen Kult. Wie bedeckt sie sich halten, wie Mitgliedern diktiert wird, was und was sie nicht über die Firma preisgeben dürfen. Ein legitimes Unternehmen würde offen über die eigene Struktur sprechen, interessierte Fragen begrüßen, Mitarbeitenden nicht verbieten, über ihre Arbeit zu sprechen und sie erst recht vergüten. Doch all dies tun MLMs nicht. Das wohl Spannendste an diesem ganzen Thema ist für mich, wie offensichtlich die meisten nicht seriös sind, wie offensichtlich hier nicht die Dinge passieren, die den Teilnehmenden versprochen werden, wie offensichtlich es Betrug ist, den hoffnungsvolle, motivierte Menschen ausbaden müssen.
Es wird einige Menschen geben, die alles, was ich geschrieben habe, in Frage stellen. Nichts von alledem glauben. Dagegen kann ich nichts tun. Schließlich gibt es ja auch ein paar Menschen, für die diese Arbeit gut funktioniert. Herzlichen Glückwunsch, I guess. Dein Gewinn findet auf dem Rücken anderer statt, du Jeff Bezos des Network Marketing.
Vielleicht kommt da ja noch eines Tages die Einsicht. Aber mein Appell geht sowieso an diejenigen, die noch nichts oder nicht viel über dieses Thema wissen. Diejenigen, die darüber nachdenken, einzusteigen oder bereits in einem MLM drinstecken und keinen oder kaum Erfolg damit haben. Ich verstehe, die Verlockung kann groß sein, aber lasst es sein. Das leicht verdiente Geld gibt es nicht. Besonders nicht im Multi-Level-Marketing.
Einen Beitrag über ein konkretes Unternehmen im Multi-Level-Marketing, über die Frischekosmetik-Marke Ringana, findet ihr hier.
1 thought on “Selbstverwirklichung? Nein, Abzocke – das Multi-Level-Marketing”
Comments are closed.