geschrieben von Michelle Wolf @michelles_wunderkiste
Wie alles begann …
Bereits im Kindergarten wusste ich, dass mein Körper anders ist als die Körper der Kinder um mich herum. Anders. Besonders. Nicht schlechter. Ich hatte einen Unterbiss. Sprich: Mein Unterkiefer war in meiner DNA so groß angelegt, dass die unteren Zähne vor den oberen standen und nicht umgekehrt, wie es die Norm gewesen wäre. Zudem war meine Nase ein bisschen länger als die meiner Altersgenossen, aber im Kindergarten sowie in der Grundschule war das noch nicht der Rede wert. Ich konnte normal essen und sprechen und fühlte mich dementsprechend weder beeinträchtigt noch hässlich. Einzig eine Kieferorthopädin sagte meinem 9-jährigen Ich voraus, dass ich mit 18 Jahren eine Operation zur Behebung der Kieferfehlstellung haben würde. Beängstigend, aber so weit in der Zukunft – damals.
Unschöne Schulzeit
Mit dem Wechsel in die Mittelstufe änderte sich einiges. Ich ging auf eine integrierte Gesamtschule und hatte, abgesehen von den Hauptfächern die ich im Gymnasialzweig besuchte, mit Real- und Hauptschülern gemeinsamen Unterricht im Klassenverband. Diese Schulform machte es uns möglich, ein Gefühl für andere soziale Gruppen und Kulturen zu entwickeln. Sie wurden weniger verurteilt und z.B. Flüchtlinge wurden aufgenommen und gut in die Klassen integriert.
Doch die Pubertät schlug bei allen zu. Kleidung, Schönheit und Coolness wurden plötzlich viel wichtiger als zuvor, und was Äußerlichkeiten angeht, bringt einem auch die sozialste Schule nichts. Meine bereits erwähnte DNA hatte allerdings auch vorgesehen, genau in diesen Jahren eine überdurchschnittlich große Nase zu produzieren sowie den Unterkiefer weiterhin extremer als nötig wachsen zu lassen.
Es begann also schon früh in der Mittelstufe, dass mir auf dem Schulhof von fremden Schülern „HEXE!!“ hinterhergerufen wurde. Es tat weh und dieser Ausruf kam leider immer häufiger. Ständig wurde ich mit diesem „Namen“ betitelt. Somit begann ich schon früh, mich mit einer großen Klappe, Sprüchen und extra lockerem Verhalten gegen die Demütigungen zu wehren. Besser gesagt, so zu tun, als wäre ich immun. Ich zog mich außerdem ausgefallen an. Vermutlich, um von meinem Gesicht abzulenken.
Es tat weh
In den darauffolgenden Jahren kam es zu einem neuen unschönen Spitznamen: „Schumacher“. Ein pubertierendes Mädchen, das 1. mit einem männlichen Rennfahrer verglichen und 2. vor allem mit dessen Unterkiefer gleichgesetzt wird, leidet. Am schlimmsten traf es mich, als ich in der 10. Klasse beim „Wer bin ich?“-Spielen vor der ganzen Klasse „Michael Schumacher“ erraten musste. Das Gelächter beim Erraten war unter den Mitschülern denkbar groß. Im Nachhinein erfuhr ich, dass einer meiner vermeintlichen Kumpel auf diese grandiose Idee gekommen war. Es tat weh – sehr sogar. Wie ging ich damit um? Ich versuchte es wie immer wegzulachen und mich nicht verletzlich zu zeigen.
Von meinen besten (männlichen) Freunden wurde ich ab dem Alter von ca. 13 Jahren „die Nase“ genannt. Es lässt sich aus heutiger Sicht wohl darüber streiten, ob diese Jungs tatsächlich als beste Freunde hätten bezeichnet werden dürfen. Wieder ein anderer begrüßte mich stets mit den Worten: „Na Hässlich, wie geht’s!?“ Ich schätze dazu muss man nichts weiter sagen.
Vor Freundschaften mit den „wirklich“ schönen Mädchen hatte ich Angst. Es war eine Art Mischung aus Neid, Selbstausgrenzung und Unbeholfenheit. Diese Mädchen hatten keine so offensichtlichen Makel und neben ihnen fühlte ich mich als unsichtbares hässliches Entlein. Die coolen Jungs waren in sie verliebt und ich hatte keine Chance, neben ihnen zu bestehen. Meine wenigen besten Freundinnen waren daher auch keine dieser damals typischen Girlies, sondern auch eher „anders“ drauf oder zumindest nicht oberflächlich, was mich betraf.
Meine befreiende Operation
Nach der 10. Klasse wechselte ich die Schule und kam in die Oberstufe. Das erste Jahr in der 11. Klasse war wenig hilfreich für mich und mein Selbstbewusstsein. Ich wurde ausgegrenzt, weil ich die Neue war. Zudem blieb ich noch sitzen, weil ich diese Art des Unterrichts und der Lehrer nicht gewohnt war. Die darauffolgende neue Klasse war zum Glück ein Haufen lustiger Mitschüler, die mich mit offenen Armen empfingen. Sie lernten mich zwar mit dieser Nase und diesem Kinn kennen, aber wussten auch alle bald, dass ich im Laufe des Schuljahres eine Operation des Kiefers haben würde, die mittlerweile offiziell medizinisch notwendig war. So traute sich keiner, etwas zu sagen. Im Gegenteil: Ich bekam Mut zugesprochen für die bevorstehende Zeit.
So hatte ich im Juni 2007 meine erste OP von insgesamt dreien, bis mein Kiefer „fertig“ war. Die erste jedoch war die für mich wichtigste. Mein Unterkiefer wurde zurückverlagert, sodass ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig herumbeißen konnte und mein Kinn nicht mehr dem des besagten ruhmvollen Rennfahrers glich. Zudem wirkte durch das kürzere Kinn auch die Nase nicht mehr ganz so riesig. Die Operationen waren ein voller Erfolg. Ich bekam Anerkennung dafür, einen so großen Eingriff sehr gut weggesteckt zu haben und fühlte mich unfassbar viel besser. Außerdem waren alle begeistert von dem Ergebnis. Nur noch ein einziges Mal fiel in der Oberstufe der Name „Schumacher“. Ich wurde wütend und erklärte zum ersten Mal in meinem Leben, warum das absolut unter der Gürtellinie sei. Damit war dem Spuk ein Ende gemacht. Vielleicht hätte ich das schon Jahre früher tun sollen, aber besser spät als nie.
Endlich ein Ende! – oder doch nicht?
Vermutlich würde nicht ein einziger der „Täter“ heute sagen, dass es „sooo schlimm“ war, denn es war ja alles „nur aus Spaß“. Ich habe mich aber auch immer schön selbst belogen und bis zu diesem Artikel und meiner Recherche nie als ein wirkliches Opfer empfunden, aber ich weiß jetzt, dass ich zu diesen Opfern gehöre. Ja, gehöre – nicht gehörte. In meinem Fall nennt man die Art des Mobbings in der Schule laut Internetrecherche eher „Bullying“. Zwar werde ich heutzutage nicht mehr gehänselt oder sonst irgendwie aufgezogen, aber ich leide noch immer unter den Folgen der vielen spöttischen Bemerkungen aus meiner Jugend.
Mittlerweile führe ich ein schönes, achtsames Leben mit einem fast 2-Jährigen und bin mit einem dieser „hübschen“ Männer verheiratet, der sein Leben lang Komplimente für seine Augen gemacht bekam, der mich aber tatsächlich akzeptiert und schön findet, so wie ich bin. Ich bin sehr dankbar für diese beiden Menschen um mich herum, die so offen und ehrlich lieben. Und doch nagen Selbstzweifel und ein oft vermindertes Selbstwertgefühl an mir. Wenn mein Mann mal abweisend reagiert, habe ich sofort den Gedanken, dass er mich doch „irgendwie hässlich“ findet. Dass er es plötzlich bemerkt, wie unattraktiv ich bin, wie groß die Nase ist, und sich eine hübschere Frau sucht.
Ich selbst finde mich inzwischen glücklicherweise schön und weiß, dass die Jungs damals absolute Idioten waren. Ich stehe also prinzipiell darüber, aber einiges bleibt emotional haften und nagt. Bei jedem Essen mit anderen Menschen, jedem Treffen, jedem Zoom-Call und überhaupt IIMMER achte ich automatisch darauf, in welchem Winkel ich zu den Leuten stehe oder sitze. Ich fühle mich unwohl, wenn sie mich von rechts anschauen (von der Seite wirkt die Nase größer als von links). Wenn völlig fremde Menschen mich auf der Straße sehen und danach gemeinsam lachen, beziehe ich die Lacher auf mich und mein Aussehen. Vielleicht bin ich nicht täglich und jederzeit von meinen Mitschülern verbal gedemütigt worden, aber oft genug und über viele Jahre regelmäßig. Das prägt. Ein Leben lang.