geschrieben von Svenja Budde @svenja_b.u

Mobbing – ein Thema, das fast meine gesamte Schulzeit geprägt hat. 10 Jahre lang. Fast jeden Tag. Eine Erfahrung, die bis heute nachwirkt, mich bis heute prägt. 

„Harry Potter“-Brille

In der 3. Klasse fing es an. Vorher hatte ich eigentlich eine ganz normale Kindergarten- und Grundschulzeit. War ein aufgewecktes Kind mit einigen Freund*innen und Verabredungen zum Spielen. Aber in der 3. Klasse … bekam ich meine Brille. Keine mit Autos, Einhörnern oder sonst irgendwas drauf. Keine „coole“ Brille (obwohl ich sie selbst eigentlich mochte, ich hatte sie mir ja schließlich selbst ausgesucht!). Sondern eine „Harry Potter“-Brille. Fast. Blau und oval war sie. Und ja, ich sah damit wirklich ein wenig aus wie Harry Potter. Leider scheinbar nicht auf „coole“ Weise, denn mir fehlte wohl die Blitznarbe oder so. „Brillenschlange“ nannten sie mich, der Klassiker. Und damit fing es an.

Die Jahre danach waren immer wieder schlimm. Mal mehr, mal weniger, aber so wirklich „gut“ war es nie. An viele der einzelnen Dinge, die passiert sind, erinnere ich mich tatsächlich nicht mehr. Vielleicht hat mein Gehirn sie irgendwie ausgelöscht. Ich erinnere mich noch daran, wegen meiner Strebsamkeit und guten Leistungen ausgeschlossen worden zu sein. Ich bin tatsächlich immer gern zur Schule gegangen, trotz all dieser Vorfälle. Ich liebte – und liebe – es, neue Dinge zu lernen und ich habe eben deswegen auch viel im Unterricht mitgearbeitet. „Lehrerliebling“ und „Streberin“ waren da schnell Attribute, die mir zugeschrieben wurden – allerdings auch mit die harmlosesten Namen, die ich während meiner Schulzeit verpasst bekam. 

Ich erinnere mich daran, oft wegen meiner Ungeschicklichkeit ausgelacht worden zu sein. Wegen meiner Klamotten gehänselt worden zu sein, die eigentlich gar nicht so „seltsam“, aber eben nicht „die neuste Mode“ waren. Wegen körperlicher Merkmale bloßgestellt worden zu sein. Und dann … dann erinnere ich mich noch an einen sehr, sehr schmerzhaften Vorfall, von dem ich hoffte, er würde ein Geheimnis bleiben, von dem ich glaubte, er würde es bleiben – nur um herauszufinden, dass am nächsten Tag scheinbar die gesamte Stufe, das ganze Dorf, die halbe Stadt Bescheid wusste. 

Irgendwie anders

Doch letztlich sind die Details dessen, was geschehen ist, gar nicht mal so wichtig. Wichtig ist nicht unbedingt, was passiert, sondern was dieses Verhalten, was diese Handlungen, was Mobbing mit den Opfern macht. Und das geschieht vor allem auf der psychischen und Emotionsebene. Und so sind es auch vor allem Gefühle, an die ich mich erinnere. Gefühle, die ich immer noch so stark fühlen kann wie damals – und die mich immer noch prägen. 

Da war dieses Gefühl nicht dazuzugehören. Nicht dazuzugehören, weil man irgendwie – auf eine unfassbare, unbegründete Weise – „anders“ war. Dieses Gefühl, sich zu fragen, warum. Was einen denn so sehr von den anderen unterschied, was einen so anders machte, dass sie einen nicht dabeihaben wollten, ignorierten, ausschlossen. Und irgendwie auch das Gefühl der Verwirrung, warum es denn so schlimm sei, „irgendwie anders“ zu sein. Andere Hobbys zu haben als die meisten, andere Interessen, andere Klamotten, anderes Aussehen, anderes was auch immer. War nicht jeder Mensch irgendwie anders? Was genau machte mich so „anders“, dass man mich nicht dabeihaben wollte? Was machte mich so anders, dass ich es „verdiente“, ignoriert, ausgelacht, gemobbt zu werden?

Noch schlimmer als diese Gefühle des „Anders-Seins“ und Ausgeschlossen-Werdens waren andere Gefühle, die mir immer und immer wieder vermittelt wurden. Zum Beispiel das Gefühl, ausgelacht zu werden. Nicht nur ignoriert oder ausgeschlossen, sondern ausgelacht für irgendeinen tatsächlichen oder angeblichen Fehler, der mir passiert war. Bloßgestellt zu werden für etwas, was ich falsch gemacht hatte, (noch) nicht konnte oder gar für etwas, bei dem ich gar nicht wusste, was ich „falsch“ gemacht hatte. Oder auch dafür, mich mal etwas getraut zu haben. Mich mal getraut zu haben, eine freche Bemerkung zu machen. Mal getraut zu haben, die eigene Meinung zu vertreten. Mich mal getraut zu haben, überhaupt etwas zu sagen. Dieses Gefühl inmitten der Aufmerksamkeit zu stehen, rund um mich Menschen, die mit dem Finger auf mich zeigen und über mich lachen, dieses Gefühl der Scham für die eigenen Fehler und Schwächen und das ganz normale persönliche Verhalten … das war für mich ein Gefühl, das noch tausendmal schlimmer war als „nur“ ignoriert oder ausgeschlossen zu werden. 

Die Sache mit der Selbstliebe

Ja und letztlich war da auch dieses Gefühl, das immer stärker wurde: das Gefühl … weniger wert zu sein. Weniger wert zu sein als andere, weniger … liebenswert. Das Gefühl, dass mich niemand nur mögen könnte, weil ich einfach ich bin. Dass mich niemand einfach als Person, mit all meinen Stärken und vor allem all meinen Schwächen, von denen ich ja scheinbar so unfassbar viele hatte, mögen könnte, nett finden könnte, lieben könnte. Dass ich mich irgendwie verbiegen, anpassen und vor allem beweisen müsste, was leisten müsste, um überhaupt geliebt werden zu können. Dass man mich nur für meine guten Noten und meine Leistungsfähigkeit mögen könnte. Aber doch nie einfach nur mich. Mich als Person. Denn ich war ja scheinbar anders. Zum Lachen. Wertlos …

Natürlich löst Mobbing noch tausend andere Gefühle aus, aber das hier sind wohl mit die wichtigsten oder sagen wir, auf jeden Fall die wichtigsten für mich. Und 10 Jahre, 10 verdammte Jahre fast jeden Tag diese Gefühle zu spüren zu bekommen – das geht nicht spurlos an einem vorbei. Es verändert einen, es prägt einen. Es führt zu Denkmustern, die gefühlt mehr als nur internalisiert werden. Die nahezu untrennbar mit der eigenen Person, der eigenen Persönlichkeit verknüpft werden, die jeden Gedanken, jede Handlung, jede Sicht auf sich selbst prägen.

Mir war es tatsächlich auch Jahre nach meiner Schulzeit (ich habe 2013 Abitur gemacht) gar nicht so bewusst, wie sehr mich diese Erfahrungen geprägt haben, wie sehr sie mein Denken und Handeln, mein Selbstbild und auch meine psychische Gesundheit beeinträchtigt haben. Erst die letzten Jahre und vor allem das letzte Jahr über ist mir bewusst geworden, welche Konsequenzen das Mobbing eigentlich für mich hatte, wozu es bei mir alles geführt hat. Dazu, dass ich vor allem bei Fremden, aber auch bei mir sehr vertrauten Menschen unglaublich unsicher bin, unglaublich „selbst-bewusst“ – in dem Sinne, dass ich kontinuierlich, während ich mit anderen Menschen interagiere, mein eigenes Verhalten, Aussehen und Denken beobachte und überwache, dass ich ständig darüber nachdenke, was ich gerade wie tue, wie ich lächele, wie ich den Kopf halte, wie ich lache … 

Erhebliche Spuren

Dazu, dass ich das Gleiche bei den Personen mir gegenüber tue, ihr Verhalten und vor allem jede kleinste Reaktion auf mich und auf meine Äußerungen beobachte, dass ich jede kleine Gefühlsregung anderer Menschen empfange wie hochsensible Antennen. Dazu, dass ich sehr zurückhaltend und gehemmt bin in Kontexten mit vielen Menschen und vor allem vielen fremden Menschen. Dass ich mich nur sehr zögernd öffne, mich selten an Diskussionen beteilige, meine Meinung äußere oder gar Konflikte austrage. Dass ich unglaublich ungern im Mittelpunkt stehe. Dazu, dass ich kaum kritikfähig bin, weil mein altes Ich es gewohnt war, dass jede Kritik Kritik an mir selbst war. Dazu, dass ich unglaublich perfektionistisch geworden bin, was meine Leistungen angeht, dass ich Angst habe, etwas „nicht gut genug“ zu machen oder gar Fehler zu machen. Dass ich gleichzeitig glaube, fast nichts so gut zu können wie andere. Dass ich teilweise einen extremen Leistungswahn entwickelt habe, immer hundertfünfzig Prozent geben wollte und gegeben habe – und nun manchmal nicht mal fünfzig Prozent schaffe. Ja und letztlich dazu, dass ich erhebliche psychische Probleme entwickelt habe. Angefangen bei einem unglaublich geringen Selbstwertgefühl, über Anzeichen eines Burn-Outs mit Konzentrations- und Leistungsproblemen bis hin zu einer erheblichen Angststörung mit zeitweisen depressiven Verstimmungen.

Mobbing – egal wie lange, egal wie intensiv, egal in welchen Formen – prägt das Leben der Opfer nicht nur während der „aktiven“ Zeit. Es hinterlässt Spuren. Erhebliche Spuren. Für den Rest des Lebens. Bitte, macht euch das bewusst. Macht es eurem Umfeld bewusst. Euren Freund*innen, euren Kolleg*innen, euren Kindern. Erklärt ihnen, was es mit Menschen macht, ausgeschlossen, ignoriert, ausgelacht, gemobbt zu werden. Und bitte stellt euch dagegen, wenn ihr Mobbing mitbekommt. Helft Betroffenen, statt zu schweigen und wegzusehen. Ich mache seit diesem Jahr endlich eine Therapie und bin zuversichtlich, dass ich das alles bewältigen werde. Aber eigentlich muss es doch gar nicht erst so weit kommen. Jeder Mensch ist anders – jeder Mensch ist liebenswert. Dafür sollten wir alle eintreten.