Ein riesiger Konflikt, ausgelöst durch winzige Bausteine in unseren Zellen: Sie entscheiden, ob wir einen Sohn oder eine Tochter in den Armen halten. Ein kleines X- oder Y-Chromosom kann unsere Gefühlswelt auf den Kopf stellen. Denn auch wenn es kaum jemand aussprechen mag: Fast jeder Mensch wünscht sich insgeheim eher ein Mädchen oder einen Jungen. Was passiert, wenn der Wunsch nach einem Geschlecht nicht erfüllt wird? Sind Geschlechterstereotypen heutzutage nicht eh überholt? Manchmal denke ich: Ja. Alles egal. Und dann stelle ich mir vor, wie ich im Kreissaal liege, das erste Schreien höre und die Hebamme wie in einem Hollywood-Streifen sagt: „Es ist ein Junge!“. Dann kriege ich ein bisschen schlechte Laune und denke: Puh. Bitte nicht.
Während ich diese Zeilen schreibe, schleicht sich schon das schlechte Gewissen von hinten an. Es tippt mir auf die Schulter, erhebt den Zeigefinger und schimpft: „So darfst du nicht denken!“. Aber Gefühle sind Gefühle. The heart wants what it wants. Und meins wünscht sich aus tiefstem Herzen: Eine Tochter.
So sehr, dass ich sogar heimlich – sehr still und heimlich – Mitleid empfinde, wenn Freundinnen mir erzählen, dass sie einen Jungen erwarten. Es ist ein heikles Thema. Etwas, von dem ich weiß, dass ich es gesellschaftlich nicht aussprechen darf. Aber nun ist Zeit für Ehrlichkeit. Denn ich weiß: Ich bin keinesfalls allein.
Ich bin in der 23.Woche schwanger, mein erstes Kind. Seit sechseinhalb Monaten schlummert unser neues Familienmitglied in mir, ohne dass wir wissen, was es wird. Wir wollen uns bei der Geburt überraschen lassen. Das hat mehrere Gründe: Einerseits finde ich es so schöner, natürlicher, spannender. Andererseits ist es auch eine Art Selbstschutz: Würde ich inmitten der Schwangerschaft erfahren, dass ich einen Sohn bekomme, würde ich mir wochenlang Gedanken machen und mich (gewiss zu Unrecht) sorgen. Lieber möchte ich ins Ungewisse pressen. Und sollte es ein Junge werden, so würde ich ihn sofort sehen, spüren, riechen, lieben. Ohne wochenlanges Gedankenspiel vorab.
Als ich noch Studentin war – und eine Schwangerschaft absurd weit weg- habe ich sogar öfter mit Augenzwinkern gesagt: „Ich würde das Geschlecht niemals wissen sollen, sonst presse ich bei der Geburt unmotivierter“. Mir ist klar, dass das eine Klatsche ins Gesicht für jede Frau ist, die sich sehnlichst ein Kind wünscht. Ich entschuldige mich jetzt schon bei all denen, die diesen Text lesen. Ich sollte froh sein, überhaupt schwanger zu sein. Froh sein, dass mein Körper in der Lage ist, diese Miniversion gerade in mir zu bauen. Das weiß ich. Und ich bin dankbar. Unendlich. Trotzdem schaffe ich es nicht mit dem Gefühl der Dankbarkeit den Herzenswunsch nach einer Tochter zu eliminieren. Ich brenne für eine Idee, und habe den passenden Feuerlöscher noch nicht gefunden. Wie fühle ich, wie ich fühlen sollte? Nämlich gleichgültig.
Viele Männer wünschen sich instinktiv Söhne. Frauen hingegen Töchter. Das belegen Studien immer wieder, die letzte 2018 von Forschern der finnischen Universität Turku. Schließlich wissen wir besser, wie es ist, mit dem jeweiligen Geschlecht zu leben. Wir haben die Hoffnung, dem Kind näher zu sein. Mehr Interessen zu teilen. Alles recht egoistisch, aber nachvollziehbar.
Gerne wird ein Geschlechterwunsch von der Gesellschaft weggelächelt: „Ach, Hauptsache gesund“. Die politisch korrekte Antwort. Ja natürlich, wer wünscht sich kein gesundes Baby? Ohne jede Frage steht die Gesundheit an erster Stelle. Aber es gibt eben auch eine zweite Stelle, eine dritte Stelle. Wünsche und Träume. Gender Disappointment beschreibt diese Enttäuschung über das vermeintlich „falsche“ Geschlecht. Fast alle Elternpaare tendieren zu einem Jungen oder Mädchen. Natürlich sind viele von ihnen kurz enttäuscht. Es geht aber nicht um diesen kleinen Dämpfer, der schnell vergessen ist. Gender Disappointment beschreibt eher eine Krise. Ein flaues Gefühl im Magen, dass sogar die Freude der Schwangerschaft überschattet. Noch gibt es keine seriösen Studien. Aber laut Hebammen kann Gender Disappointment ernste Folge haben: Eine stockende Geburt. Eine zögerliche Bindung zum Kind. Probleme bei der Milchbildung. Stillschwierigkeiten.
Soweit ist es bei mir noch lange nicht. Freude schlägt Zweifel. Um es einmal ganz deutlich zu sagen: Mir geht es absolut nicht darum, das Zimmer rosa zu streichen, Zöpfchen zu flechten und unser Kind zu einem Girly-Girl zu erziehen. Bei uns wird es eh neutrale Kleidung geben, ein stinknormales Zimmer. Sie soll gerne ein schlammbeschmierter Rabauke werden. Ich möchte weder Prinzessinnen-T-shirts, noch Pullis, auf denen Bagger abgedruckt sind. Im Kindesalter ist mir das Geschlecht egal. Mir geht es um später.
Nach meinem Empfinden melden ich, meine Schwester oder meine Freundinnen uns regelmäßiger, ja, herziger bei unseren Eltern. Wir rufen an, schreiben Whatsapp, tauschen Bilder aus, basteln Adventskalender, planen Familiengrillen. Während –überspitzt geschrieben- für die Männer in meinem Umfeld gefühlt eine SMS pro Monat ausreicht: „Mama, mir geht es gut. Gruß, dein Sohn“. Wenn ich meinen Bekanntenkreis beobachte, verbringen Söhne sogar teilweise mehr Zeit mit ihren Schwiegereltern als mit ihren eigenen. Denn Töchter halten besser Kontakt. Vermeintlich.
Wie wird mein Leben mit einem erwachsenen Sohn aussehen? Würde er im Dezember 2042 anrufen und mich fragen, ob ich mit ihm über den Weihnachtsmarkt bummeln will? Würde er mir stolz ein Foto von den ersten reifen Walderdbeeren seines Balkons schicken? Hätte er Lust auf einen Städtetrip nach Krakau mit seiner Mama?
Ich habe über zu viele Jahre hinweg ein Konstrukt in meinem Kopf erschaffen: Das Leben mit zwei Töchtern. Würde mir nun die Frauenärztin mit einem Lächeln zu mir hinunter auf die Liege flüstern, dass ich einen Jungen bekomme, hätte ich Angst vor dem Gefühl der Trauer. Trauer um den Verlust einer Tochter. Als hätte dieser unschuldige Junge den Platz im Bauch für ein ganz anderes Wesen geklaut. Völlig absurd.
Und zwischen Trauer und Schuldgefühlen mischt sich die Machtlosigkeit. Schließlich kann ich mich für fast alles im Leben entscheiden: Auf welchen Job bewerbe ich mich? Greife ich zum Apfel oder der Gurke? Wie lange scrollen wir uns heute durch den Streaming-Dienst und entscheiden uns dann doch für die falsche Serie? Aber bei einer Entscheidung, die ich als sehr bedeutend für den Verlauf meines Lebens erachte, herrscht völlige Willkür. Eine 50-50-Chance. Ich kann nicht eingreifen.
Was mir trotzdem hilft, mich seelisch auf einen Jungen zu freuen?
Instagram-Moms folgen, die zeigen, wie zuckersüß das Leben mit einem Bub sein kann. Ein Handyvideo des Ultraschalls machen und in Momenten des Zweifels anschauen. Offen mit einer Vertrauensperson oder der Hebamme sprechen. Schon mal präventiv in der Schwangerschaft den Artikel anpassen und „er“ sagen. „Er tritt mich gerade“. „Ich weiß nicht, wie ich den Lütten wickeln soll“. Viel mit dem kleinen Mann reden. Und mir gebetsmühlenartig sagen, dass am Ende alles Schicksal ist. Eizellen sind wählerisch. Meine hat dieses Spermium auserwählt. Das heißt: Da muss doch ein ziemlich wunderbarer Mensch draus werden.
Am Ende weiß ich, dass alles gut sein wird. Auch, wenn ich einen Jungen bekommen sollte. Denn meine wirren Gedanken und Analysen, was es wohl werden wird, und wie es in zwanzig Jahren sein wird, sind mir für einen Moment lang schnuppe, wenn die Hebamme ihr graues Mikrophon an meinen Bauch hält. Dann hören wir das Herz. Und dann ist es egal, ob ein X- oder Y-Chromosom das Rennen gemacht hat. Dieses kleine Ding wird mich zur Mama machen. Und uns zur Familie.
Ich muss zur Not wen anderes finden, der mit mir durch Krakau schlendern will.